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Erster Teil:
Lob des Odysseus
Оглавление„Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen.“1 Die Ausgangsthese der Dialektik der Aufklärung wirft Fragen auf, die sowohl den historischen als auch den systematischen Begriff der Aufklärung betreffen, den die Autoren voraussetzen. Problematisch ist zunächst die historische Erweiterung des Aufklärungsbegriffs, von der Horkheimer/Adorno sich leiten lassen, wenn sie Aufklärung auf grundsätzliche Weise mit fortschreitendem Denken gleichsetzen. Unter den Begriff der Aufklärung, den die Dialektik der Aufklärung verfolgt, fallen drei verschiedene historische Zeiten mit je unterschiedlichen Problemzusammenhängen: der scheinbare Gegensatz von mythos und logos in der griechischen Antike, der engere Begriff von Aufklärung in der Philosophie und Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts, und schließlich die Zeit des Nationalsozialismus, in der Horkheimer/Adorno den ebenfalls der Dialektik der Aufklärung geschuldeten Versuch erkennen, den Menschen als Herren nicht mehr über Natur, sondern über andere Menschen einzusetzen. Problematisch bleibt Horkheimer/Adornos Begriff von Aufklärung, bevor überhaupt von einer „Dialektik der Aufklärung“ gesprochen werden kann, da mit der Max Weber entlehnten These von der „Entzauberung der Welt“ eine Kontinuität in die Geschichte eingetragen wird, die es erlauben soll, von der Figur des Odysseus umstandslos in die Welt der Moderne, vom „schlauen Odysseus bis zu den naiven Generaldirektoren“ (DA, 42), fortzuschreiten.2
Die Fragwürdigkeit der historischen Erweiterung des Aufklärungsbegriffes verdeutlicht gerade die Figur, der Horkheimer/Adorno die Geschichte der Dialektik der Aufklärung ablesen: Odysseus als Paradigma der naturüberlegenen List, in dem Horkheimer/Adorno „die ahnungsvolle Allegorie der Dialektik der Aufklärung“ (DA, 41) erblicken. Im Sinne der von Horkheimer/Adorno postulierten Kontinuität der Dialektik der Aufklärung als einem Prozess, der Freiheit von der Herrschaft der Natur verspricht, selbst aber neue Herrschaftsverhältnisse errichtet, lässt sich die Figur des Odysseus zunächst der Auseinandersetzung von mythos und logos in der Antike zuordnen. Problematisch wird die Identifizierung der Odysseus-Figur mit dem Prozess der Dialektik der Aufklärung jedoch, wenn sie, wie Jürgen Habermas erläutert, den Anspruch verkörpert, „die Urgeschichte einer Subjektivität, die sich der Gewalt der mythischen Mächte entwindet“3, zu erzählen. Odysseus steht für das Ganze der Dialektik der Aufklärung ein, da Horkheimer/Adorno in ihm die Urgeschichte des bürgerlichen Subjekts erkennen, zu dessen Kritik sie aufrufen. Als Urgeschichte der modernen Subjektivität bleibt die Deutung der Odysseus-Figur in der Dialektik der Aufklärung der Geschichte aber auf eigentümliche Weise entzogen: Die Fahrt von Troja führt Odysseus nicht nach Ithaka, sondern geradewegs in die Bildungsprozesse des 18. Jahrhunderts hinein.
Der Grund, gerade Odysseus für den Prozess der Dialektik der Aufklärung in Anspruch zu nehmen, scheint für Horkheimer/Adorno darin zu liegen, dass er als listenreicher, gerade darum aber unberechenbarer Held wie keine andere mythische Figur identifikatorische und kritische Momente miteinander verbindet. Als Heros der List verkörpert Odysseus Horkheimer/Adorno zufolge den grundsätzlichen Anspruch aufklärerischen Denkens, sich vom Mythos zu befreien. Die List des Odysseus steht für den Fortschritt des Denkens ein, mit dem Horkheimer/Adorno den Begriff der Aufklärung überhaupt identifizieren. Dabei zeichne sich die List jedoch gerade dadurch aus, dass sie selbst eine Herrschaft ausübt, die letztlich in Barbarei umschlägt. Von Beginn an totalitär, so Horkheimer/Adorno, sei die List im Prozess der Dialektik der Aufklärung als Herrschaft des Intellekts über die Sinne: „Die Vereinheitlichung der intellektuellen Funktion, kraft welcher die Herrschaft über die Sinne sich vollzieht“ (DA, 42), finde in Odysseus ihre prägende Gestalt.
Der systematische Begriff der Dialektik der Aufklärung, den Horkheimer/Adorno im Blick auf die Antinomie von Verstand und Anschauung entwickeln, verdeckt die historischen Grundlagen ihres eigenen Ansatzes. Wenn sie Aufklärung in allgemeiner Hinsicht als Herrschaft des Intellekts über die Sinne definieren, argumentieren sie nicht mehr in einer Begrifflichkeit, die dem antiken Begriff der List entspricht, für den Odysseus einsteht. Die schroffe Entgegensetzung von Intellekt und Sinnlichkeit, der sich Horkheimer/Adorno in der Dialektik der Aufklärung verpflichten, verdankt sich, wie der Begriff der Dialektik, den sie ansetzen, viel eher der Kantischen als der antiken Philosophie. Sowohl im Vergleich zur antiken Philosophie als auch zu Hegels Geschichtsphilosophie verbleiben Horkheimer/Adorno in einer Begrifflichkeit, die der Kantischen Trennung von Anschauung und Verstand entspringt.4 Als genuin bürgerlicher Held kann ihnen Odysseus erscheinen, weil sie die List mit dem Begriff der instrumentellen Vernunft identifizieren, mit dessen Hilfe die kritische Theorie der Moderne zu Leibe rückt. So greift das 18. Jahrhundert Kants geradewegs in das siebte vorchristliche Jahrhundert Homers ein: „der Held der Abenteuer erweist sich als Urbild eben des bürgerlichen Individuums, dessen Begriff in jener einheitlichen Selbstbehauptung entspringt, deren vorweltliches Muster der Umgetriebene abgibt.“ (DA, 50) Der König von Ithaka wird zum Bürger, der auf seiner Reise Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit suche. Das Ziel der Selbstbehauptungsversuche des Odysseus sei eine dem 18. Jahrhundert zu vergleichende romanhafte Bildung des Selbst, wie sie sich in moderner Form in der Geschichte des Wilhelm Meister finden lässt.5 „Die Irrfahrt von Troja nach Ithaka ist der Weg des leibhaft gegenüber der Naturgewalt unendlich schwachen und im Selbstbewußtsein erst sich bildenden Selbst durch die Mythen.“ (DA, 53) „Der Mythos selbst ist ein Stück hochkarätiger Arbeit des Logos“6, hatte Hans Blumenberg die Arbeit am Mythos beschrieben und damit eine differenziertere Auffassung des Verhältnisses von mythos und logos vertreten, als es deren strikte Entgegensetzung in der Dialektik der Aufklärung vermuten lässt. Betonen Horkheimer/Adorno, dass sich das Selbstbewusstsein erst durch den Triumph über den Mythos konstituiert, von dem die Heimfahrt des Odysseus berichtet, so wäre nicht allein der mythische Rest der modernen Vernunft herauszustellen, sondern – mit Nietzsche, dem Horkheimer/Adorno zugestehen, er habe „wie wenige seit Hegel die Dialektik der Aufklärung erkannt“ (DA, 50) – auch die Vernunft, die schon im Mythos bereitliegt. Von ihr zeugt die List, für die die Figur des Odysseus einsteht.
Die Studie von Horkheimer/Adorno reiht sich in die lange Tradition der allegorischen Mythendeutung ein. Zur Allegorie der Dialektik der Aufklärung gerinnt die Odyssee als Erzählung der Geschichte des Selbstbewusstseins auf dem Weg zu sich selbst, wie sie auf andere Weise Hegel in der Phänomenologie des Geistes erzählt. Horkheimer/Adorno lassen dabei jedoch jenes Moment außer acht, dass das antike Epos im Unterschied zum modernen Roman kennzeichnet: den Begriff des Ruhms, die Kunde von den großen Taten der Heroen, die das Epische vom Bildungsromans des 18. Jahrhunderts wie dem Desillusionsroman der Moderne unterscheidet.7 Selbstbehauptung verfolgt Odysseus nicht im Rahmen einer symbolischen Bildungsgeschichte, die den Schatz der zu machenden Erfahrungen auf jeder Station vergrößert, sondern im Umschiffen der Hindernisse, die seiner Rückkehr im Wege stehen. Die Bewahrung des Ruhms, den er als Held vor Troja erlangt hat, ist der Kern der Geschichte, die die Odyssee schildert, und so erweist sich jede Station der Irrfahrt zugleich als Gefahr für den ruhmreichen Helden, in der Namenlosigkeit zu verschwinden.