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Falsche Götter

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Der Titelheld des Aias repräsentierte mit seinem unbelehrbaren Hass auf Odysseus eine heroische Ordnung, die angesichts der Entwicklung der griechischen polis zunehmend im Schwinden begriffen war. Odysseus erschien dagegen als Inbegriff des klugen und besonnenen Politikers, der durch die vermittelnde Kraft des Denkens tragfähige Lösungen konzipiert, die über jedes Eigeninteresse hinausgehen. Der Hass, den Philoktet Odysseus gegenüber hegt, nachdem dieser ihn heimlich auf der Insel hat aussetzen lassen, erweist sich in seiner Grenzenlosigkeit dagegen nicht nur als symbolisches Äquivalent des unermesslichen Leidens an der Einsamkeit, sondern zugleich als moralischer und politischer Widerstand gegen die Intrigenkunst des Odysseus. Der moralische Niedergang, den die Odysseus-Figur bei Sophokles repräsentiert, zeigt sich anhand der Funktion, die im Epos noch den Ruhm des Heroen garantierte: dem Namen. In der Tragödie wird der Name des Odysseus auf dreifache Weise in den Schmutz gezogen: zunächst durch Odysseus selbst, dann durch Neoptolemos und schließlich durch Philoktet. In allen drei Fällen erscheint Odysseus in einer kaum zu überbietenden Wendung als Inkarnation des Schlechten, als der Übelste der Üblen. Die Beschimpfung steht zunächst im Kontext der Strategie, die Odysseus entwickelt, um Philoktet um seinen Bogen zu bringen: „sag’ nur von mir,/soviel du willst, das Übelste vom Übelsten!“ (Philoktet, 65), gesteht Odysseus Neoptolemos zu. Als dieser den Wunsch des Odysseus ausführt und damit die Sympathie Philoktets gewinnt, bestätigt er das entehrende Bild: „meines Eigentums beraubt/durch den Odysseus, durch der Üblen Übelsten“ (Philoktet, 384). „Schlechtest der Schlechten, Unverschämter du!“ (Philoktet, 983), nennt der Betrogene seinen verschlagenen Gegenüber. In der beschimpfenden Anrede des Philoktet, die im Rahmen der Tragödie zugleich die Abwendung des Neoptolemos von Odysseus und Hinwendung zu Philoktet einleitet, gerinnt die täuschende Selbstbeschreibung des Odysseus allmählich zum Ausdruck seiner moralischen Verworfenheit. An die Stelle der Besonnenheit, der phronesis als dem Wissen um das Rechte, die ihn noch im Aias ausgezeichnet hatte, tritt im Philoktet das entehrende Bild des verschlagenen Helden, der aller Scham entsagt, um an sein Ziel zu gelangen. Fast schon als Selbstkarikatur des aus der Odyssee überlieferten Bildes tritt Odysseus dem Zuschauer im Philoktet als übelster aller griechischen Helden und Inbegriff der moralischen Würdelosigkeit vor die Augen.

Der Streit, der entbrennt, als die Strategie des Odysseus scheitert, stellt den schlechten Charakter des listigen Helden noch deutlicher heraus. Zwar beruft sich Odysseus auf Zeus und die Gesetze der Götter, um sein Anliegen zu rechtfertigen: „Zeus, daß du’s weißt, Zeus ist’s, der Herrscher dieses Lands,/Zeus, der es dir gebietet, und ich führ’ es aus.“ (Philoktet, 989–990) Erschien Neoptolemos als Instrument des listenreichen Helden, so stellt Odysseus sich selbst nun als Instrument der Götter dar. Die durchsichtige Strategie entlarvt Philoktet jedoch mit einer einfachen Gegenrede: „Verruchter! Denke dir doch keine Märchen aus!/Die Götter schützt du vor und machst zu Lügnern sie.“ (Philoktet, 991–992) Was Philoktet Odysseus vorwirft, ist die Instrumentalisierung der Götter zu eigenen Zwecken. Erscheint Philoktet gerade in der grenzenlosen Einsamkeit, die die Verbannung für ihn bedeutet, als Vertreter einer älteren, noch intakten Ordnung, die die inzwischen eingetretene Dekadenz überstanden hat, so verkörpert Odysseus nun den Typ des demokratischen Politikers, der sich einerseits nur durch Strategien der Verstellung am Leben erhalten kann, zur Legitimation seines Handels andererseits aber die Gesetze der Götter zur Hilfe nimmt. Das bestätigt die Replik des Odysseus, die fast schon zu einer Selbstkritik wird: „Auf seine Reden könnt’ ich viel erwidern, hätt’/ich Zeit genug. Ein Wort nur ist mir möglich jetzt./Dort, wo man solche braucht, bin ich ein solcher, ja!/Doch wo es rechtliche und tugendhafte Männer gilt,/da wirst du keinen sehn, der frömmer ist als ich. Nur bin ich so, daß ich in allem siegen muß, – “ (Philoktet, 1047–1051) Nicht nur seine Doppelmoral entlarvt Odysseus mit den eigenen Worten. Deutlich wird darüber hinaus, dass der listige Held und fromme Eiferer längst zum Sklaven des eigenen Erfolgs geworden ist. Das Moment des Sieges, das in der Odyssee auf den Aspekt des nackten Überlebens beschränkt war, erscheint im Philoktet als ein politischer Zwangszusammenhang, dem sich Odysseus ganz und gar hingibt. Nicht nur zum Betrüger anderer, auch zum Betrüger an sich selbst sei Odysseus geworden, lautet die Kritik der Tragödie. Von der Besonnenheit des planvollen Denkers, die Sophokles im Aias rühmte, ist nichts übrig geblieben als der zwanghafte Triumph der Denkens über den Mythos, den Horkheimer/Adorno in ihrer Abhandlung kritisieren.

Die Kritik an der polis, die in der Figur des Odysseus durchschimmert, geht im Philoktet daher mit einer Rückwendung zum Mythos einher. In der Figur des Herakles, dem ursprünglichen Besitzer des Bogens, wird die mythische Vergangenheit noch einmal heraufbeschworen. Da der Streit um den Bogen zwischen Philoktet und Odysseus mit menschlichen Mitteln nicht mehr zu lösen ist, die moralische Integrität des Leidenden und die politische Macht seines Feindes sich gegenseitig neutralisieren, Neoptolemos als Vermittler ausgedient hat, muss der mythische Ursprung selbst eintreten. Von Philoktet wird Herakles als erster und damit legitimer Vorbesitzer des Bogens angesprochen: „entwandt hat ein andrer dich,/ein durchtriebener Mensch, der dich handhabt./Du siehst den heimtückischen Trug,/verschlagnen Manns feindlichen Sinn“ (Philoktet, 1134–1137). Mit Herakles ruft Philoktet die mythische Vergangenheit an, die ihm den Bogen verliehen hat. Der Bogen, das zentrale Streitobjekt der Tragödie, wird damit zugleich zu dem Symbol einer Verfallsgeschichte, die sich an den Stationen ihrer Besitzer vom archaischen Heros Herakles über den leidenden Philoktet bis zum Schurken Odysseus ablesen lässt. So ist es auch erst Herakles, der Bewegung in den starren Sinn des Philoktet zu bringen vermag. „Kommst du mit diesem Manne hin ins Troerland,/wirst du zuerst von deinem bitteren Weh befreit.“ (Philoktet, 1423–1424) Das Versprechen des Herakles, das Leiden im Kampf um Troja zu beenden, stimmt Philoktet schließlich um. Von seinem Hass auf Odysseus sieht er ab, um den Griechen und sich selbst zu helfen. Er beweist damit jene Größe, die Odysseus im Aias noch verkörperte, im Philoktet jedoch nicht mehr aufzubringen vermag. Dass erst der Auftritt des Herakles die Lösung im Drama ermöglicht, beweist, dass die vermittelnde Kraft des politischen Denkens, die Odysseus im Aias auszeichnete, geschichtlich an ihre Grenzen gekommen ist. Die moralischen und politischen Tugenden des Odysseus, die Fähigkeit, von eigenen Interessen abzusehen und das Gemeinwohl im Auge zu behalten, die Sophokles dem Helden im Aias zusprach, verkehren sich im Philoktet in ihr Gegenteil. Bei Euripides wie dem späten Sophokles verkörpert Odysseus nicht länger die philosophische Tugend der Besonnenheit, sondern die politische Suche nach Herrschaft, die sich durch das Vertrauen auf Strategien der Verstellung kennzeichnet, denen keine Form der Instrumentalisierung des Menschen fremd ist. Vor dem Hintergrund der ernüchternden Darstellung der Odysseus-Figur bei Sophokles und Longin kann die Kritik, die Horkheimer/Adorno an der Figur des listigen Helden üben, nicht länger überraschen: Die Dialektik der Aufklärung schreibt sich in eine lange Tradition der Odysseus-Kritik ein, die schon mit dem Epos selber beginnt.

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