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Aufrichtigkeit und Verstellung: Achill und Odysseus

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Der Hinweis auf die Differenz von Ilias und Odyssee in Longins Schrift Über das Erhabene nimmt ein Problem auf, das bereits die ersten Überlieferungen betrifft, in denen von Achill und Odysseus die Rede ist. In der Ilias kann Achill als Paradigma des Erhabenen gelten, da er durch den Affekt des Zorns bestimmt wird, der das eigentliche Thema des Epos ist. Zorn, so definiert Aristoteles den Affekt in seiner Rhetorik, ist „ein mit Schmerz verbundenes Trachten nach dem, was uns als Rache für das erscheint, worin wir eine Kränkung unserer selbst oder eines der unsrigen erblicken von jemandem, dem das Kränken nicht zukommt.“19 Im Zorn reagiert das Subjekt auf eine Kränkung, gegen die es sich zur Wehr setzt. Ordnet es sich der Kränkung unter, entsteht nicht Zorn, sondern Scham. Der Zorn, der in Achill wütet, ist in Longins Augen als unmittelbarer Ausdruck einer unvergleichlichen und darum erhabenen Seelengröße zu werten: Je größer der Zorn des Achill wächst, desto größer ist auch seine Seele, folgert Longin aus dem Pneuma des Erhabenen. Die Wesensunterschiede zwischen den beiden griechischen Heroen, die mit der Tapferkeit und der List zwei völlig unterschiedliche Prinzipien verkörpern, werden in dem vergeblichen Versuch des Odysseus deutlich, Achill in seinem Zorn zu beschwichtigen, um ihn zur Rückkehr in den fast schon verlorenen Kampf gegen die Trojaner aufzufordern. Für Odysseus’ Anliegen hat Achill kein Gehör:

Göttlicher Sohn des Laërtes, erfindungsreicher Odysseus,

Sieh, ich muß dir offen und frei die Meinung bekennen,

Just wie ich’s denke im Herzen, und wie’s unfehlbar geschehn wird,

Daß ihr mich nicht mit Gewinsel von allen Seiten bedränget.

Denn ich hasse den Mann so sehr wie die Pforten des Hades,

Der ein andres im Herzen verbirgt und ein anderes ausspricht.

(Ilias IX, 308–313)

Odysseus tritt in seiner Rede als Anwalt Agamemnons auf, der darauf hofft, Achill durch die Redekunst des listigen Verhandlungsführers für den Kampf wiederzugewinnen. Im Gespräch von Achill und Odysseus stehen sich die heroische Kampfeskraft des Kriegers und die kluge Redekunst des Politikers gegenüber.20 Die kunstvolle Ansprache des Odysseus prallt an Achill jedoch ohne Wirkung ab. Der Grund liegt in dem unbedingten Hass, den er für Agamemnon hegt. Dass Zorn ein Affekt ist, der streng personengebunden operiert, hat schon Aristoteles unterstrichen. „Wenn man also das als Zorn bezeichnet, so folgt daraus notwendig, daß der Zürnende immer einer bestimmten Person gegenüber zornig ist“21. Achill betont mit seinen Worten die persönliche Dimension des Zorns, die ihm die geforderte Rückkehr in den Kampf unmöglich mache. Nicht nur durch ihren Charakter aber unterscheiden sich Odysseus und Achill. Sie verkörpern zugleich zwei gegensätzliche Redeweisen. Im Vergleich zu der politischen Redekunst des Odysseus, die die Frage nach dem Gemeinwohl stellt und den drohenden Verlust des Krieges unterstreicht, nimmt Achill die offene und freie Rede für sich in Anspruch. Agamemnon unterstellt er Tücke. Den Mann hasst er, der „ein anders im Herzen verbirgt und ein anderes ausspricht.“ Mit dieser Charakterisierung trifft Achill nicht nur den Intimfeind Agamemnon, sondern zugleich dessen Abgesandten Odysseus. Die rhetorische Kunst, eigene Absichten in gewandter Rede vor den anderen zu verbergen, zeichnet Odysseus vor allen anderen Griechen aus. Sie war der Grund, warum Agamemnon ihn und keinen anderen schickte. So stehen sich in Achill und Odysseus die rhetorischen Prinzipien der Aufrichtigkeit und der Verstellung gegenüber. Gerade aufgrund seines persönlichen Hasses, der ihm strategische Manöver unmöglich macht, weil er vom Affekt überwältigt wird, plädiert Achill für eine unbeschränkte Aufrichtigkeit – „ich muß dir offen und frei die Meinung bekennen,/Just wie ich’s denke im Herzen“ –, während Agamemnon und Odysseus ihn dazu auffordern, den tragischen Affekt des Zorns zu beherrschen. Für Achills Ehrauffassung würde das aber bedeuten, die eigene Seelengröße zu verleugnen, sich der Beschämung durch Agamemnon preiszugeben. Als idealer Gesprächspartner Achills entpuppt sich daher nicht der redegewandte Odysseus, sondern dessen Rivale Aias, den Achill für seine offenen Worte lobt: „Ajas, göttlicher Sohn des Telamon, Völkergebieter,/Alles hast du beinahe mir selbst aus der Seele geredet,/Aber es schwillt das Herz von Galle mir, wenn ich des Mannes/Denke, der mir so schnöde vor Argos’ Volke begegnet,/Atreus’ Sohn, als wär’ ich ein ungeachteter Fremdling.“ (Ilias IX, 644–648) Im Unterschied zu Odysseus erkennt Aias sofort, dass Achill nicht umzustimmen ist, weil er damit den Anspruch des Heroischen verlieren würde, den er vor allen anderen Griechen verkörpert. Was sich im Gespräch mit Odysseus offenbart, ist nicht zuletzt die Seelenverwandtschaft von Aias und Achill, der die von Agamemnon und Odysseus entgegensteht. Aus dem Gleichgewicht gerät die Situation, als Achill stirbt und Aias und Odysseus gleichermaßen seine Rüstung für sich beanspruchen.

Masken des Selbst

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