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Kafka und die Kunst der Verstellung

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Hatte Kafka den Homerschen Mythos der Bewegung einer ironischen Inversion unterzogen, so verdoppelt er diese noch einmal in dem Anhang. Der Epilog trägt all die Momente wieder ein, die Odysseus vorher abgesprochen wurden: In fast wörtlichem Anklang an die Homerschen Überlieferung wird Odysseus als „listenreich“ bezeichnet und so in den ursprünglichen Kontext zurückversetzt. Zugleich aber erweitert Kafka die Auseinandersetzung mit dem Mythos, die seinem kurzen Text zugrunde liegt. Nicht allein vor den Sirenen sucht Odysseus sich zu schützen, sondern mehr noch vor dem Schicksal und den Göttern. Die Einfalt erscheint als letzte List des Helden, der selbst der „Schicksalsgöttin“ den Einblick in sein Inneres verwehren möchte. Sowohl aus der Ordnung der Menschen als auch aus der der Götter fällt der Heros heraus: Die Schicksalsgöttin kann nicht in sein Inneres dringen, mit „Menschenverstand“ ist er nicht zu begreifen. Dem Schein, den der Gesang der Sirenen bedeutete, begegnet Odysseus, indem er „ihnen und den Göttern den obigen Scheinvorgang gewissermaßen als Schild entgegengehalten“ hat. Wie schon zu Beginn des Textes bricht Kafka die Ursprungsmacht des Mythos, indem er ihn verdoppelt und dabei zugleich außer Kraft setzt. Zu Prometheus und Odysseus, den Urbildern der List, tritt der Mythos von Perseus, der die Medusa besiegt. Im Bild der Medusa, das sich durch den Schutzschild in den Text einschreibt, hält Kafka die Begegnung mit der verschlingenden Macht des Weiblichen fest, die im Epos die Sirenen repräsentierten. Stimmt die Anspielung auf die Medusa mit der Verlagerung der Sprache auf die Ordnung des Blickes überein, die den Text insgesamt kennzeichnet, so verbindet die Sirenen und die Medusa anderseits die Kunstmächtigkeit: Als Mutter des Pegasus ist die Medusa zugleich die gefährliche Schwester der Athene, die Odysseus zu dem hölzernen Pferd verhilft, mit dem er Troja erobert. Mit der Anspielung auf die Medusa setzt sich Kafka daher zugleich mit der Ursprungsmacht auseinander, die schon der Text Homers thematisierte: der verführerischen Macht der Weiblichkeit als Ursprungsinstanz der Dichtung. In diesem Sinne lässt sich Das Schweigen der Sirenen, wie Liliane Weisberg vorgeschlagen hat, zugleich als verdeckter Abschluss des Briefwechsels mit Felice Bauer lesen,36 als Abschied von der Muse, die ihm die ferne Briefpartnerin gewesen war. Im Kontext der Auseinandersetzung mit der erotischen Macht der Frauen, die wie die Sirenen und Felice zugleich als inspirierende Musen fungieren, nimmt der Protagonist das Paradigma der List abschließend wieder in Anspruch, indem er sich wie ein „Fuchs“ verhält. Durch die List wird Odysseus wieder zu sich selbst. Die Qualität der List aber hat sich zwischen Homer und Kafka verändert. Galt sie im Epos dem heroischen Vorbild, so wandert sie bei Kafka in den Text selbst hinein. Unentscheidbar bleibt, ob Odysseus den Sirenen durch seine Einfalt oder seine übermenschliche List entkommt. Die Kunst der Verstellung, die Odysseus repräsentiert, erstreckt sich noch auf die Lesbarkeit der Erzählung, die dem Mythos entgegen arbeitet, indem sie Bilder der eigenen Unlesbarkeit liefert. „Kafka setzt mit beispielloser Radikalität seine Texte dem eigenen Widerruf aus, er phantasiert eine Kunst des (eigenen) Verschwindens37, hält Mathias Mayer fest. Im Unterschied zur Deutung der Sirenen-Episode bei Horkheimer/Adorno steht Kafkas Auslegung daher nicht für den Sieg der gesellschaftlichen Arbeit über die Kunst, sondern für den Triumph der Kunst ein, die mit eben den Verstellungen operiert, die Odysseus auszeichnen. In Kafkas Adaptation bestätigt sich, was Klaus Heinrich über Odysseus berichtet: „Odysseus ist der Heros des Überlebens. Er hat die Ungeheuer nicht erschlagen, er hat ihren Bann nicht gebrochen, er ist nur durchgeschlüpft und ihnen allen entkommen. Er verfällt keinem der Räume, deren jeder ihn auszulöschen und zu verschlingen droht.“38 Der Pakt mit der List, den Kafka in seiner Variante des Odysseus-Mythos schließt, ist ein Pakt mit der Literatur als einer Kunst der Täuschung, die sich dem Mythos zu entziehen weiß. Den Pakt von Literatur und Verstellung im ästhetischen und moralischen Dispositiv der Aufrichtigkeit aufzulösen, bleibt dem 18. Jahrhundert vorbehalten.

1 Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt/Main 1969, S. 9. Im Folgenden im Text abgekürzt als DA.

2 „Die Theoretiker der ‚Dialektik der Aufklärung‘ stilisieren Odysseus zum allegorisierten modernen Menschen, zum Bürger mit seinen selbstzerstörerischen Tendenzen, zum Manager, der weder in der Arbeit noch im Genuß ganz frei ist“, kommentiert Walter Lesch, Philosophie als Odyssee. Profile und Funktionen einer Denkfigur bei Lévinas, Horkheimer, Adorno und Bloch, in: Gotthard Fuchs (Hg.): Lange Irrfahrt – Große Heimkehr. Odysseus als Archetyp – zur Aktualität des Mythos, Frankfurt/Main 1994, S. 157–188, hier S. 167f.

3 Jürgen Habermas, Die Verschlingung von Mythos und Aufklärung. Bemerkungen zur Dialektik der Aufklärung – nach einer erneuten Lektüre, in: Karl Heinz Bohrer (Hg.): Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion, Frankfurt/Main 1983, S. 405–431, hier S. 407.

4 Das wird im „Begriff der Aufklärung“ deutlich, den Horkheimer/Adorno einleitend entwickeln: „Der Abgrund, der bei der Trennung sich auftat, hat Philosophie im Verhältnis von Anschauung und Begriff erblickt und stets wieder vergebens zu schließen versucht: ja durch diesen Versuch wird sie definiert.“ (DA, 24)

5 „Bei Adorno und Horkheimer wird aus Odysseus ein rationalistisch radikalisierter Wilhlem von Meister“, stellen schon Helga Geyer-Ryan und Helmut Lethen fest, in: Von der Dialektik der Gewalt zur Dialektik der Aufklärung. Eine Re-Vision der Odyssee, in: Willem van Reijen/Gunzelin Schnmid Noerr (Hg.): Vierzig Jahre Flaschenpost: ‚Dialektik der Aufklärung‘ 1947–1987, Frankfurt am Main 1987, S. 41–72, hier S. 46.

6 Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt/Main 1979, S. 18.

7 Vgl. Georg Lukács, Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Form der großen Epik, Frankfurt/Main 1971.

8 Vgl. aus kunsthistorischer Sicht Bernard Andreae, Odysseus. Mythos und Erinnerung, Mainz 1999, S. 108.

9 „The sociological implications are clear: the poet has painted a picture of a people on the lowest cultural level, devoid of all that gives human life its distinctive quality.“ Alfred Heubeck/Arie Hoekstra, A commentary on Homers’s Odyssey. Volume II. Books IX-XVI, Oxford 1989, S. 21.

10 Zum Namen vgl. Ernst Heitsch, Die Entdeckung der Homonymie, Mainz 1972.

11 Alfred Heubeck/Arie Hoekstra, A commentary on Homers’s Odyssey. Volume II, S. 37.

12 Longinus, Vom Erhabenen. Übersetzt und herausgegeben von Otto Schönberger, Stuttgart 1988, S. 29.

13 Ebd., S. 27.

14 Winfried Menninghaus, Zwischen Überwältigung und Widerstand. Macht und Gewalt in Longins und Kants Theorien des Erhabenen, in: Poetica 23 (1991), S. 1–19, hier S. 5.

15 Immanuel Kant, Werkausgabe, hg. von Wilhelm Weischedel. Band X. Kritik der Urteilskraft, Frankfurt/Main 1974, S. 187.

16 Die zwiespältige Position des Odysseus im Trojanischen Krieg wird an verschiedenen Stellen der Ilias deutlich. Als Nestor in Not gerät und um Hilfe ruft wie später Odysseus selbst, muss auch Diomedes den Freund ermahnen: „Göttlicher Sohn des Laërtes, erfindungsreicher Odysseus:/Wohin fliehst du, den Rücken gewandt, wie ein Feiger im Schwarme?/Daß nur keiner dir jetzt im Fliehen den Rücken durchbohre!/Steh’ doch, damit wir den schrecklichen Mann vom Greise verscheuchen!“ (Ilias VIII, 93–96) Dennoch reagiert Odysseus nicht auf den Anruf von Diomedes. Er zieht die Flucht vor: „Nicht auf den Rufenden hörte der vielgeprüfte Odysseus,/Sondern er stürmte vorbei zu den räumigen Schiffen Achai.“ (Ilias VIII, 97–98) Kein anderer Krieger wird in der Ilias derart häufig in der Rückwärtsbewegung gezeigt wie Odysseus, und so kann es nicht verwundern, dass ihm das Ehrenwort des „Heros“ nur an einer einzigen Stelle, als der Troer Dolos sich flehend an ihn wendet, verliehen wird. Das Bild des Kriegers Odysseus ist in der Ilias von Beginn an ambivalent. Einerseits verfügt er über Einsicht und List, die ihn über alle anderen stellen. Andererseits fehlt ihm die physische Stärke, die Achill, Aias und Diomedes auszeichnet.

17 Longinus, Vom Erhabenen, S. 29.

18 Ebd., S. 31.

19 Aristoteles, Rhetorik, S. 85.

20 Zum Gegensatz zwischen Odysseus und Achill vgl. auch Peter von Matt, Die Inrige, S. 26 und 96.

21 Aristoteles, Rhetorik, S. 85.

22 Zur Bedeutung der Scham in der Geschichte der Tragödie vgl. Hans-Thies Lehmann, Das Welttheater der Scham. Dreißig Annäherungen an den Entzug der Darstellung, in: Merkur 45 (1991), S. 824–839.

23 Christian Meier, Die politische Kunst der griechischen Tragödie, München 1988, S. 204.

24 Zur Geschichte der Prometheus-Figur und der Ambivalenz, die sie schon in der unterschiedlichen Wertung der List bei Hesiod und Aischylos besitzt, vgl. Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos.

25 Vgl. Renate Zoepfel, Die List bei den Griechen, in: Harro von Senger (Hg.): Die List, Frankfurt/Main 1999, S. 111–133, zur metis S. 112f.

26 Klaus Heinrich, Versuch über die Schwierigkeiten nein zu sagen, Frankfurt/Main, Basel 1982, S. 49f.

27 Ebd., S. 51.

28 Vgl. Bernd Seidensticker, Aufbruch zu neuen Ufern. Transformationen der Odysseusgestalt in der literarischen Moderne, in: Peter Neukam/Bernhard O’Connor (Hg.): Weltbild und Weltdeutung, München 2002, S. 153–183, sowie den Sammelband von Walter Erhart/Sigrid Nieberle (Hg.): Odysseen 2001. Fahrten – Passagen – Wanderungen, München 2003.

29 „The Sirens know that their way to Odysseus’ heart is to praise the heroic deeds of the Trojan War [...]. In the far-away world of folktale Odysseus is reminded of his identity as a hero, as he himself had reminded Polyphemus.” Alfred Heubeck/Arie Hoekstra, A commentary on Homers’s Odyssey. Volume II, S. 128.

30 Pietro Pucci, The Song of the Sirens, in: Seth L. Schein (Hg.): Reading the Odyssey. Selected Interpretative Essays, Princeton New Jersey 1996, S. 191–200, hier S. 191.

31 Ebd., S. 192.

32 Den Zusammenhang von Muse und Sirene unterstreicht schon Ernst Buschor, Die Musen des Jenseits, München 1944.

33 Franz Kafka, Gesammelte Werke in zwölf Banden. Band 6. Beim Bau der chinesischen Mauer und andere Schriften aus dem Nachlaß, Frankfurt/Main 1994, S. 168–170.

34 Vgl. Elias Canetti, Der andere Prozeß. Kafkas Briefe an Felice, in: Das Gewissen der Worte. Essays, Frankfurt/Main 1981, S. 77–165, hier S. 103.

35 Vgl. Bettine Menke, Das Schweigen der Sirenen: Die Rhetorik und das Schweigen, in: Johannes Janota (Hg.): Methodenkonkurrenz in der germanistischen Praxis, Tübingen 1993, S. 134–162, hier S. 149.

36 Vgl. Liliane Weisberg, Singing of Tales: Kafka’s Sirens, in: Alan Udoff (Hg.): Kafka and the Contemporary Critical Performance, Indiana University Press 1987, S. 165–177, hier S. 173.

37 Mathias Mayer, Das rechte Leben und das falsche Lesen?, S. 238.

38 Klaus Heinrich, Versuch über die Schwierigkeiten nein zu sagen, S. 49.

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