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Falsche Väter: Odysseus und Philoktet

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Von wie kurzer Dauer die positive Einschätzung der Odysseus-Figur in der Tragödie war, zeigt der Philoktet. In Sophokles später Tragödie erscheint Odysseus nicht länger als Paradigma der Besonnenheit, sondern – durchaus im Sinne Horkheimer/Adornos – als Vertreter eines rein instrumentellen Denkens, dem es einzig um das mit allen Mitteln zu erreichende Ziel geht. Zum zweiten Mal droht Philoktet, das Opfer des Odysseus zu werden. Hatte dieser dafür gesorgt, dass er auf der einsamen Insel ausgesetzt wird, da der Gestank seiner Wunde für die Griechen unerträglich war, so versucht er nun mit allen Mittel, sich den Bogen des Philoktet anzueignen, mit dessen Hilfe allein Troja besiegt werden kann. Für den an seiner Wunde wie der Einsamkeit schier unermesslich Leidenden, dessen Darstellung im Mittelpunkt der Tragödie steht, hat er kein Auge. Vom besonnenen Schlichter, als der er zwischen Aias und Agamemnon aufgetreten war, wandelt sich das Bild des Odysseus zu dem reiner Unmenschlichkeit.

Wie schon der Aias, so wendet sich Sophokles auch im Philoktet dem Sagenkreis um den Trojanischen Krieg zu, und wie schon Homer in der Ilias lässt er sich von dem Gegensatz von Aufrichtigkeit und Verstellung leiten, der die unterschiedlichen Figuren des Achill und des Odysseus betraf. An die Stelle Achills ist sein Sohn, Neoptolemos, getreten. Odysseus selbst steht mehr denn je für die politische Kunst der Verstellung ein. Ihm geht es darum, den noch jungen und unerfahrenen Neoptolemos für seine Ziele zu gewinnen.

Der Streit zwischen Aufrichtigkeit und Verstellung, den die Tragödie vorführt, entfacht sich angesichts der Frage, wie Philoktet dazu bewegt werden kann, mit seinem Bogen vor die Tore Trojas zu ziehen. Odysseus kennt nur eine Strategie, die Erfolg zu versprechen vermag: „Philoktetes’ Seele mußt/du klug durch trügerische Worte hintergehn“ (Philoktet, 54–55), lautet der Ratschlag, den er dem jungen Neoptelemos gibt. Odysseus setzt auf den Betrug durch Worte. Er rechtfertigt sich damit, dass der Zweck alle Mittel heilige: „Ich weiß, mein Sohn, du bist nicht von Natur dazu/geschaffen, so zu reden, nicht zu List und Trug./Doch herrlich ist der sichere Besitz des Siegs./Ertrag es! Später wieder scheinen wir gerecht./Jetzt gib dich ohne Scham für einen kurzen Teil/des Tages mir!“ (Philoktet, 79–84) In seiner Darstellung des Odysseus wendet Sophokles das Bild des Dulders ins Ironische: Was von ihm ertragen werden muss, sind nicht mehr die Mühen der Irrfahrt, sondern das unrechte Tun, das zum Erfolg führt. Erfolgsverwöhnt, den Erfolg suchend, geradezu zum Erfolg verurteilt, erscheint Odysseus als Inkarnation des intrigesicheren Politikers. Dass er jenseits der von ihm vertretenen Strategie in einem moralischen Sinne Unrecht tut, Philoktet den Bogen und damit jede Lebensgrundlage zu rauben, weiß er. Die Frage nach der moralischen Richtigkeit seines Handelns stellt sich ihm nicht, wohl aber Neoptolemos, der sich ihm zunächst verweigert:

Was mir schon anzuhören schwer erträglich ist,

Laërtes-Sohn, das gar zu tun ist mir verhaßt.

Aus arger List zu handeln ist nicht meine Art,

es war auch, wie man sagt, die meines Vaters nicht.

Ich bin bereit, den Mann zu holen mit Gewalt,

doch nicht mit Tücke: wird er doch, auf einem Fuß,

uns, die so viele sind, nicht überwältigen. (Philoktet, 86–92)

Wie das Gespräch zwischen Odysseus und Philoktet zeigt, spielt neben der grundsätzlichen Frage nach der Vereinbarkeit von politischen und ethischen Forderungen das Thema der väterlichen Autorität in der Tragödie eine zentrale Rolle. Neoptolemos, der seinen Vater nicht kannte und nur vom Hörensagen von ihm weiß, beruft sich auf den Vater als Repräsentanten einer Macht, der die Verstellung fremd bleibt. Von der von Odysseus geforderten „Tücke“ will er zunächst nichts wissen.

Den Abwehrversuchen des Neoptolemos begegnet Odysseus, indem er sich ihm als Ersatz-Vater anbietet. Neoptolemos spricht er durchgängig als Kind an, so wie auch dieser ihn häufig als „Laërtes-Sohn“, bezeichnet. Mit der Frage nach der genealogischen Ordnung der Familie greift Sophokles auf eine doppelte Überlieferung zurück, die die Frage nach dem Vater des Odysseus betrifft: Nicht Laërtes, Sisyphos, das Urbild des betrügerischen Diebes, sei der Vater des Odysseus, setzt Philoktet Neoptolemos später auseinander. Die Spaltung der Vaterfigur, die sich in Odysseus’ Selbstdarstellung und der Fremdzuschreibung von seiten Philoktets öffnet, verweist auf die Frage der väterlichen Autorität zurück, die Neoptelemos selbst betrifft: In Odysseus, so legt es Philoktet nahe, hat er einen denkbar schlechten Nachfolger für seinen Vater gefunden, was er von ihm lernen kann, ist allein die Kunst des Diebstahls, die sich nicht zuletzt gerade auf das Vater-Sohn-Verhältnis von Odysseus und Neoptelemos erstreckt: Indem er den Sohn des Achill zur listigen Tücke auffordert, enteignet Odysseus Neoptolemos symbolisch dem leiblichen Vater Achill. Die Worte des Odysseus lassen keinen Zweifel daran, was sein Handeln bestimmt:

Ne Du hältst es also nicht für schändlich, wenn man lügt?

Od Nein, wenn allein die Lüge Rettung bringen kann.

Ne Mit welchem Antlitz bringt man solch ein Wort hervor?

Od Wenn man Gewinn erstrebt, darf man nicht heikel sein.

(Philoktet, 108–111)

Zwischen Neoptolemos und seinem selbsternannten neuen Vater Odysseus entbrennt ein heftiger Streit um die Grundlagen des rechten Handelns. Ethische Maßstäbe erweisen sich im Falle des Odysseus dabei als nichtig: Ihm geht es einzig um den Gewinn (kérdos). Die Mittel zählen ihm nichts, das Ziel allein rechtfertigt das Handeln. An das angestrebte Ziel kommt er mit seiner Strategie, weil er klug die Lücke nutzt, die der Vater hinterlassen hat. Odysseus fängt Neoptolemos ein, als er diesem verspricht, wovon der unerfahrene Sohn des Achill träumt: „Du würdest klug und tüchtig dann zugleich genannt.“ (Philoktet, 119) Wie der Vater zu werden ist das Ziel des Sohnes und zugleich der Köder, mit dem Odysseus Neoptolemos überredet. Erst vor dem Hintergrund des Versprechens, vor den Griechen die Tüchtigkeit zu erlangen, für die Achill einsteht, willigt Neoptolemos in den Plan ein: „Es sei! Ich will es tun, entsage jeder Scham.“ (Philoktet, 120) Scham angesichts der symbolischen Schlachtung der Griechen hatte Aias ins Grab getrieben. Keine Scham mehr zu kennen, ist das Kennzeichen des Odysseus, dessen Überredungskunst jedoch an dem unbeirrbaren Hass des Philoktet seine Grenze findet.

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