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Die Kunst der Verstellung
ОглавлениеUm die Kunst der Verstellung darzustellen, bedient sich Gracián im Handorakel der Metapher des Kartenspiels:
Mit offenen Karten spielen ist weder nützlich noch angenehm. Indem man seine Absicht nicht gleich kundgibt, erregt man die Erwartung, zumal wenn man durch die Höhe seines Amts Gegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit ist. Bei allem lasse man etwas Geheimnisvolles durchblicken und errege, durch seine Verschlossenheit selbst, Ehrfurcht. Sogar wo man sich herausläßt, vermeide man, plan zu sein; eben wie man auch im Umgang sein Inneres nicht jedem aufschließen darf.7
Der Meister der Verstellung liest nicht in der eigenen Seele, er hört nicht auf die Stimme des Gewissens, er spielt mit verdeckten Karten. Die Kunst der Verstellung erscheint als eine zweckorientierte Form des Handelns, deren Ziel im Gewinn des Spiels liegt. Die oberste Regel, der sich die Verstellung in der Doppelung von Dissimulation und Simulation verpflichtet, ist die, die eigenen Absichten zu verbergen, falsche Intentionen zu fingieren und die eigentlichen für sich zu behalten. Was die Verstellung bewirkt, ist eine Form der sozialen Isolation inmitten der Welt. Die Forderung nach Aufmerksamkeit, die die Verstellung begleitet, impliziert eine agonale Auffassung der Welt, derzufolge sich das Ich in einem beständigen Kampf mit sich und den anderen Mitspielern behaupten muss. So erfolgreich die Verstellung auch sein mag, eines vermag sie dem Subjekt daher nicht zu bieten: die Gewissensruhe, der sich der luthersche Christenmensch anvertraut. Vor diesem Hintergrund erscheint das Ziel der Verstellung zugleich in einem zwiespältigen Lichte. Im Rahmen der Verstellungskunst geht es weniger um den Sieg als vielmehr um die Abwehr der Niederlage. „Die Leidenschaften sind die Pforten der Seele. Das praktischeste Wissen besteht in der Verstellungskunst. Wer mit offenen Karten spielt, läuft Gefahr, zu verlieren“8, formuliert Gracián. Nicht der Sieg, die drohende Niederlage bildet den Maßstab der Verstellungskunst. In dem Maße, in dem das Spiel mit verdeckten Karten niemals aufzuhören scheint, wird die Vorstellung eines Sieges, der der Seele ein für allemal Frieden zu schenken vermöchte, zunehmend unwahrscheinlich. Im Unterschied zur Kultur des Gewissens, die einen bestimmten Begriff des erreichbar Guten voraussetzt, verpflichtet sich die Verstellung einer grundsätzlich pessimistischen Anthropologie, die den Menschen in ständigem Kampf mit sich und anderen zeigt, ohne ihm eine letzte Form der Erfüllung bieten zu können.
Die skeptische Ausrichtung der Verstellung zeigt sich in der Frage des Umgangs mit den eigenen Affekten. Affektbeherrschung erscheint Gracián als die wesentliche Grundlage der Verstellung:9 „Leidenschaftslos sein“10, fordert Gracián vom Ich, und er setzt dem hinzu: „Keine höhere Herrschaft als die über sich selbst und seine Affekte“11. Mit der Forderung nach Affektbeherrschung schreibt sich die Kunst der Verstellung in eine negative Anthropologie ein, der die Leidenschaften nur als Mittel der Zerstörung der Seele erscheinen können, über die das Ich Herrschaft erlangen muss. „Die Affekte sind die krankhaften Säfte der Seele, und an jedem Übermaße derselben erkrankt die Klugheit“12, schreibt Gracián im Kontext eines skeptischen Menschenbildes, das sich ganz den Metaphern des Krieges, des Kampfes und der Krankheit verschreibt. Im Kampf, den das Ich mit der eigenen Seele führt, befindet sich die Verstellung in einem immerwährenden Zwist:
Die Klugheit führt ihn, indem sie sich der Kriegslisten hinsichtlich ihres Vorhabens bedient. Nie tut sie das, was sie vorgibt, sondern zielt nur, um zu täuschen. Mit Geschicklichkeit macht sie Luftstreiche; dann aber führt sie in der Wirklichkeit etwas Unerwartetes aus, stets darauf bedacht, ihr Spiel zu verbergen. Eine Absicht läßt sie erblicken, um die Aufmerksamkeit des Gegners dahin zu ziehn, kehrt ihr aber gleich wieder den Rücken und siegt durch das, woran keiner gedacht. Jedoch kommt ihr andererseits ein durchdringender Scharfsinn durch seine Aufmerksamkeit zuvor und belauert sie mit schlauer Überlegung: stets versteht er das Gegenteil von dem, was man ihm zu verstehn gibt, und erkennt sogleich jedes Falsche-Miene-Machen. Die erste Absicht läßt er immer vorübergehn, wartet auf die zweite, ja auf die dritte. Indem jetzt die Verstellung ihre Künste erkannt sieht, steigert sie sich noch höher und versucht nunmehr durch die Wahrheit selbst zu täuschen: sie ändert ihr Spiel, um ihre List zu ändern, und läßt das nicht Erkünstelte als erkünstelt erscheinen, indem sie so ihren Betrug auf die vollkommenste Aufrichtigkeit gründet. Aber die beobachtende Schlauheit ist auf ihrem Posten, strengt ihren Scharfblick an und entdeckt die in Licht gehüllte Finsternis: sie entziffert jenes Vorhaben, welches je aufrichtiger, desto trügerischer war. Auf solche Weise kämpft die Arglist des Python gegen den Glanz der durchdringenden Strahlen Apollos.13
Die List der Verstellung schildert Gracián als eine ständige Form der Selbstüberbietung. Was sie voraussetzt, ist einen Gegner, der ebenso gewitzt vorgeht wie sie selbst. Auf die Listen, die das Ich erfindet, um von seinen geheimen Absichten abzulenken, antwortet der Scharfsinn mit der Ironie, die immer das Gegenteil des Geäußerten voraussetzt. So zwingt der Scharfsinn die Verstellung zu einer letzten List, ihrer Selbstaufgabe. Indem sich die Verstellung in das Kleid der Aufrichtigkeit hüllt, hofft sie, ihren Gegner zu hintergehen. Auch mit ihrer letzten List aber findet sie im Scharfsinn ihren Meister. Die Leuchtkraft des Verstandes, die Gracián im mythischen Bild von Apollo im Kampf mit Python anruft, durchdringt noch den letzten Abgrund der Verstellung, die ihren Kampf verliert. Das Lob der Verstellung, mit dem Gracián im Handorakel anhob, verkehrt sich in das Eingeständnis ihrer Niederlage vor dem Scharfsinn. Dass die Verstellung dennoch ihren Platz in der Welt behält, verdankt sie den Gesetzen des menschlichen Verkehrs. Auch wenn der Scharfsinn den Seeelenkampf für sich entscheidet: Im Umgang mit anderen kann der Mensch auf die Verstellung nicht verzichten. Neben der Gewalt stellt die List eine zweite, womöglich sogar überlegene Weise dar, das Ziel zu erreichen:
Wer sich nicht mit der Löwenhaut bekleiden kann, nehme den Fuchspelz. Der Zeit nachgeben heißt sie überflügeln. Wer sein Vorhaben durchsetzt, wird nie sein Ansehn verlieren. Wo es mit der Gewalt nicht geht, mit der Geschicklichkeit. Auf einem Wege oder dem andern, entweder auf der Heerstraße der Tapferkeit oder auf dem Nebenwege der Schlauheit. Mehr Dinge hat Geschick durchgesetzt als Gewalt, und öfter haben die Klugen die Tapfern besiegt als umgekehrt. Wenn man eine Sache nicht erlangen kann, ist es an der Zeit, sie zu verachten.14
Graciáns Lob der List greift auf die Metapher von Löwe und Fuchs zurück, die Machiavelli im Principe entfaltet hatte: „Da also ein Fürst gezwungen ist, von der Natur der Tiere Gebrauch machen zu können, muß er sich unter ihnen den Fuchs und den Löwen auswählen; denn der Löwe ist wehrlos gegen Schlingen und der Fuchs gegen Wölfe. Man muß also ein Fuchs sein, um die Schlingen zu erkennen, und ein Löwe, um die Wölfe zu schrecken“15, lautet die einschlägige Passage aus Der Fürst, auf die sich auch Gracián bezieht. Von der moralischen Skrupellosigkeit, die Machiavellis Bild des Politikers beherrscht, ist Graciáns Lob der List dennoch zu unterscheiden. Sein Vorbild ist nicht der durchtriebene Machtpolitiker, der sich von allen Verpflichtungen und Versprechen frei weiß, sondern „die Schlauheit des Odysseus“16, die sich die Klugheit zum Vorbild nehmen kann. Indem er die Klugheit noch über die Tapferkeit stellt, die List des Odysseus der Stärke Achills vorzieht, bereitet Gracián der Kunst der Verstellung einen Grund, auf dem sein Übersetzer Arthur Schopenhauer und dessen Schüler Friedrich Nietzsche aufbauen konnten.