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Der Gesang der Sirenen

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Die Qualitäten, die das Entrinnen vom Mythos bereithält, für das die Odysseus-Figur einsteht, lassen sich an der zweiten Episode verdeutlichen, die Horkheimer/Adorno in der Dialektik der Aufklärung anführen: dem Gesang der Sirenen. In der Begegnung mit dem Kyklopen erkannten Horkheimer/Adorno die Verschlingung von Mythos, Herrschaft und Arbeit. In diesen Kontext rücken Horkheimer/Adorno auch die Sirenen-Episode. Über den Zusammenhang von Herrschaft und Arbeit geht sie allerdings zugleich hinaus. Im Gesang der Sirenen thematisiert die Odyssee nicht allein das Prinzip der Arbeit, sondern auch das der Kunst. Was die Dialektik der Aufklärung den Sirenen abliest, ist die Vermitteltheit von Kunst und Gesellschaft, die Adorno der Ästhetischen Theorie zugrunde legt. Horkheimer/Adorno zufolge besiegt Odysseus die Sirenen, da er die mythische Qualität ihres Gesangs zum bloßen Kunstgenuss herabstuft: „ihre Lockung wird zum bloßen Gegenstand der Kontemplation neutralisiert, zur Kunst.“ (DA, 41) Odysseus, für Horkheimer/Adorno auch darin das Urbild des bürgerlichen Individuums, erscheint in den selbst angelegten Fesseln autonom und hörig zugleich. Die rudernden Gefährten, die sich die Ohren mit Wachs verschlossen haben, gelten Horkheimer/Adorno wie die Sirenen als Opfer moderner Arbeitszusammenhänge: Dem Prinzip gesellschaftlicher Arbeitsteilung zufolge müssen die einen taub rudern, der andere, ihr Herr, darf sich blind der Kunst hingeben: „Indem der Held sich binden läßt, den anderen aber die Ohren mit Wachs verstopft und sie rudern läßt, verrät sich Odysseus als der Grundherr, der die anderen für sich arbeiten läßt.“ (DA, 40) Als unterworfener Souverän gewinnt das bürgerliche Subjekt Identität nur, indem es sich selbst Fesseln anlegt und dabei Kunst zum bloßen Genuss herunterstuft. Wiederum ist es die umstandslose Gleichsetzung der Geschichte des Odysseus mit der der bürgerlichen Gesellschaft, die die Überlegungen Horkheimer/Adornos leitet. Im Rahmen ihrer allegorischen Mythenauslegung überschreiten sie den Horizont der Homerschen Vorlage, um aus ihr die Urgeschichte bürgerlicher Subjektivität abzuleiten.

Im Rahmen der Odyssee ist den Sirenen kein zentraler Platz beschieden. Auf dem Weg zu Skylla und Charibdis markieren sie kaum mehr als eine Zwischenstation. Dass dem kurzen Text eine Faszinationskraft eingeschrieben ist, die sich bis in die Literatur der Moderne, bis zu Brecht und Kafka fortschreibt, verdankt sich dem Zusammenhang von Kunst und Erotik, der in den Sirenen aufscheint.28 Wie Kalypso und Kirke verkörpern die Sirenen eine weibliche Macht der Verführung, der der Held auf seiner Heimreise zu erliegen droht. So groß scheint die Gefahr, die von den Sirenen ausgeht, dass allein eine andere Frau, die Zauberin Kirke, Odysseus vor ihr zu wappnen weiß. Kirke warnt Odysseus vor der unheimlichen Macht des Gesangs, der jeder Mann anheim zu fallen droht:

Zunächst wirst du den Sirenen begegnen. Diese bezaubern

Sämtliche Menschen, wer immer sie träfe. Wer diesen Sirenen

Unberaten sich nähert und anhört, was sie ihm singen,

Der kehrt nimmer nach Hause. Sein Weib, seine lallenden Kinder

Treten ihm nicht mehr zur Seite in herzlicher Lust. Die Sirenen

Sitzen auf grasigen Auen und wollen mit tönenden Liedern

Zauber verbreiten; doch liegen daneben in Menge auf Haufen

Faulende Menschen, Knochen und schrumpfende Häute an ihnen.

Treibe da eilig vorbei! Nimm Wachs vom Honig und knet es,

Stopfe damit den Gefährten die Ohren! Es darf von den andern

Auch nicht ein einziger etwas vernehmen. Doch du, wenn du wolltest,

Höre Sie! Stelle dich aufrecht, grad an den Halter des Mastbaums,

Lasse dich binden an Händen und Füßen im hurtigen Fahrzeug,

Laß dann die Enden am Mast noch einmal verknoten: dann hörst du

Schwelgend das Lied der Sirenen. Doch bittest du oder befiehlst du,

Daß die Gefährten dich lösen, dann sollen sie stärker noch fesseln. (Odyssee XII, 39–54)

Nicht nur über die Sirenen klärt Kirke Odysseus auf. Sie gibt ihm auch die Mittel an die Hand, die ihm Rettung verschaffen. Wie aus ihren Worten deutlich wird, ist die Lockung der Sirenen eine doppelte. Einerseits versprechen sie, darin den Lotophagen gleich, Vergessen: Wer ihnen zuhört, „Der kommt nimmer nach Hause.“ Andererseits bietet ihr Gesang eine unmittelbare Form sinnlicher Erfüllung. Die Sirenen wissen, wie sie durch die Stimme das Herz des Menschen erreichen. Odysseus kann sich vor ihnen daher nur schützen, indem er zunächst die Sinne seiner Mannschaft verschließen lässt: Die Gefährten nehmen den Wachs, um sich die Ohren zu stopfen, allein Odysseus selbst traut Kirke es zu, dem Gesang, wenn auch am Mast gebunden, standzuhalten. Wie recht sie mir ihrer Einschätzung hat, zeigt die Macht der Stimmen, die Odysseus bezaubern:

‚Hieher, Odysseus, Ruhm aller Welt, du Stolz der Achaier!

Treibe dein Schiff ans Land, denn du mußt unsere Stimmen erst hören!

Keiner noch fuhr hier vorbei auf dunklen Schiffen, bevor er

Stimmen aus unserem Munde vernommen, die süß sind wie Honig.

So einer kehrt dann mit tiefem Wissen beglückt in die Heimat.

Alles wissen wir dir, was im breiten Troja die Troer,

Was die Argeier dort litten nach göttlicher Fügung. Und allzeit

Wissen wir, was auf der Erde geschieht, die so vieles hervorbringt.‘

(Odyssee XII, 184–191)

Die Sirenen kennen den Weg zum Herzen des Menschen, hatte Kirke vorausgesagt. Odysseus singen sie von seinem Ruhm vor Troja.29 Gewaltig ist der Sog ihrer Stimme, da sie damit das Ziel vorwegnehmen, dem sich das ganze Epos widmet: der Identitätssicherung im Namen, der auf die Kämpfe vor Troja zurückführt. Dem in der posttrojanischen Welt fast schon Vergessenen versprechen die Sirenen jenen Ruhm, den er erst nach der Heimkehr für sich endgültig in Anspruch nehmen kann. Nicht nur Odysseus wird im Gesang nach Troja, dem symbolischen Ort seines Ruhmes, zurückgeführt. Wie Pietro Pucci betont hat, nimmt auch das Vokabular der Sirenen den Ton der Ilias wieder auf: „The most remarkable feature of this text is that its diction ‚reproduces‘ – so to speak – the diction of the Iliad in such a way that it should be recognized as different from that of the Odyssee.“30 In ähnlicher Weise wie der Chorgesang in der Tragödie verdankt der Gesang der Sirenen seine Kraft einer Archaisierung, die ein Versprechen beinhaltet, das sich einzig auf die zeitliche Dimension der Vergangenheit richtet. Im Gesang der Sirenen erscheint Odysseus als der Held, der er vor Troja war: „they identify Odysseus as the warrior at Troy rather than the hero of the Odyssee.“31 Die Kunst der Verführung, die die Sirenen verkörpern, entpuppt sich zugleich als eine eigene Form des Wissens, über das sie verfügen. Die Macht ihres Wissens, darin dem prospektiven Wesen des Odysseus entgegengesetzt, richtet sich jedoch allein auf die Vergangenheit. Den namenlosen Seefahrer, der sich ihnen nähert, sprechen sie wie selbstverständlich als Odysseus an. Von daher kann es nicht verwundern, dass das Wissen der Sirenen in einen Kontext mit der Macht der Musen gesetzt worden sind.32 Auch Horkheimer/Adorno folgen dieser Tradition, geben ihr aber eine andere Wendung: „Seit der glücklich-mißglückten Begegnung des Odysseus mit den Sirenen sind alle Lieder erkrankt, und die gesamte abendländische Musik laboriert an dem Widersinn von Gesang in der Zivilisation, der doch gleich wieder die bewegende Kraft aller Kunstmusik abgibt“ (DA, 67). Der unvermittelte Schritt von den Sirenen zur modernen Musik gibt das Scheitern des Gesangs als Scheitern der Kunst aus, im Rahmen der gesellschaftlichen Ordnung Autonomie zu erlangen. Den Triumph des listigen Helden, der sich der Macht der Sirenen zu entziehen weiß, deuten Horkheimer/Adorno als das Ende der Musen, damit als das Ende der Unbefangenheit der Kunst. Die romantisch-poetisierende These, dass seit dem Ende der Sirenen alle Lieder erkrankt seien, verschweigt wie selbstverständlich die destruktive Seite der Sängerinnen, die Kirke deutlich hervorgehoben hatte: „doch liegen daneben in Menge auf Haufen/Faulende Menschen, Knochen und schrumpfende Häute an ihnen.“ Schon der Gesang der Sirenen, nicht erst ihre kontemplative Rezeption durch Odysseus, erweist sich als Scheinzusammenhang, der auf anderes dringt als er verspricht. Indem Horkheimer/Adorno die Sirenen als romantische Ursprungsmächte ansprechen, entgeht ihnen gerade der Zusammenhang von Tod, Eros und Schein, der in der Geschichte der Sirenen angelegt ist. Ein anderer Leser des Mythos, Franz Kafka, hatte den Scheinzusammenhang, von dem der Gesang der Sirenen kündet, dagegen in das Zentrum seiner Auseinandersetzung mit dem Homerschen Epos gestellt.

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