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Das Schweigen der Sirenen

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In seinem Prosatext aus dem Jahre 1917, dem erst der Herausgeber Max Brod den Titel gegeben hat, gestaltet Kafka den Mythos der Sirenen auf eine Weise, die ihn nicht nur von Homer unterscheidet, sondern auch von der Auslegung, die Horkheimer/Adorno in der Dialektik der Aufklärung vorbringen:

Beweis dessen, daß auch unzulängliche, ja kindische Mittel zur Rettung dienen können.

Um sich vor den Sirenen zu bewahren, stopfte sich Odysseus Wachs in die Ohren und ließ sich am Mast festschmieden. Ähnliches hätten natürlich seit jeher alle Reisenden tun können (außer jenen welche die Sirenen schon aus der Ferne verlockten) aber es war in der ganzen Welt bekannt, daß das unmöglich helfen konnte. Der Gesang der Sirenen durchdrang alles, gar Wachs, und die Leidenschaft der Verführten hätte mehr als Ketten und Mast gesprengt. Daran nun dachte aber Odysseus nicht obwohl er davon vielleicht gehört hatte, er vertraute vollständig der Handvoll Wachs und dem Gebinde Ketten und in unschuldiger Freude über seine Mittelchen fuhr er den Sirenen entgegen.

Nun haben aber die Sirenen eine noch schrecklichere Waffe als ihren Gesang, nämlich ihr Schweigen. Es ist zwar nicht geschehn, aber vielleicht denkbar, daß sich jemand vor ihrem Gesange gerettet hätte, vor ihrem Verstummen gewiß nicht. Dem Gefühl aus eigener Kraft sie besiegt zu haben, der daraus folgenden alles fortreißenden Überhebung kann nichts Irdisches widerstehen.

Und tatsächlich sangen, als Odysseus kam, diese gewaltigen Sängerinnen nicht, sei es daß sie glaubten, diesem Gegner könne nur noch das Schweigen beikommen, sei es daß der Anblick der Glückseligkeit im Gesicht des Odysseus, der an nichts anderes als an Wachs und Ketten dachte, sie allen Gesang vergessen ließ.

Odysseus aber, um es so auszudrücken, hörte ihr Schweigen nicht, er glaubte, sie sängen und nur er sei behütet es zu hören, flüchtig sah er zuerst die Wendungen ihrer Hälse, das Tiefatmen, die tränenvollen Augen, den halb geöffneten Mund, glaubte aber, dies gehöre zu den Arien die ungehört um ihn erklangen. Bald aber glitt alles an seinen in die Ferne gerichteten Blicken ab, die Sirenen verschwanden ihm förmlich und gerade als er ihnen am nächsten war, wußte er nichts mehr von ihnen.

Sie aber, schöner als jemals, streckten und drehten sich, ließen das schaurige Haar offen im Wend wehn, spannten die Krallen frei auf den Felsen, sie wollten nicht mehr verführen, nur noch den Abglanz vom großen Augenpaar des Odysseus wollten sie solange als möglich erhaschen.

Hätten die Sirenen Bewußtsein, sie wären damals vernichtet worden, so aber blieben sie, nur Odysseus ist ihnen entgangen.

Es wird übrigens noch ein Anhang hiezu überliefert. Odysseus, sagt man, war so listenreich, war ein solcher Fuchs, daß selbst die Schicksalsgöttin nicht in sein Innerstes dringen konnte, vielleicht hat er, obwohl das mit Menschenverstand nicht mehr zu begreifen ist, wirklich gemerkt, daß die Sirenen schwiegen und hat ihnen und den Göttern den obigen Scheinvorgang gewissermaßen als Schild entgegengehalten.33

Kafkas Text wirkt auf den ersten Blick wie eine rhetorische Stilübung, deren Ziel in der kunstvollen Verwirrung der mythischen Grundlage und des Lesers liegt. Der strengen Gliederung des Textes in drei Teile vom einleitenden Satz über die eigentliche Erzählung bis zum Anhang liegt eine Argumentationsstruktur zugrunde, die sich zum Original wie ein Kommentar verhält, wie ein Kommentar allerdings, der als Supplement des Ursprungs dessen Macht in unaufhebbare Zweideutigkeiten auflöst.

Das Verfahren, dessen Kafka sich in seiner Odysseus-Adaptation bedient, ist das der Inversion. Seine Sirenen singen nicht, sie schweigen, und auch Odysseus ist nicht länger der listige Held, als der er seit der Antike gilt, sondern ein großes Kind. Zur Inversion tritt die Technik der Verkleinerung, die Elias Canetti an Kafka gerühmt hat.34 Alles in dem Text ist auf Verringerung des Ursprungs angelegt: Das Homersche Epos wird auf eine prosaische Kurzform verkleinert, eben so der Held Odysseus, der in „unschuldiger Freude über seine Mittelchen“ den todbringenden Sirenen entgegenfährt. Dass auch er sich Wachs in die Ohren gestopft habe, zählt zu den zahllosen Verfremdungen des Mythos, mit denen Kafka in seiner Prosa operiert. So korrespondiert dem Schweigen der Sirenen das Bild des tauben Odysseus, der ihrem Gesang, wenn es ihn denn gäbe, gar nicht lauschen könnte. Eine weitere Brechung des Mythos bedeutet die Tatsache, dass er „sich am Mast festschmieden“ lässt. Kafkas Odysseus ähnelt zu Beginn der Geschichte auf irritierende Weise der Figur des Prometheus, so wie er sich zum Ende hin der Geschichte von Perseus und der Medusa zuneigt.

Die Inversion der Homerschen Vorlage durch das Schweigen der Sirenen und das Bild des tauben und einfältigen Odysseus führt auch zu einer Inversion der medialen Vermittlungsform des Textes, der nicht länger Sprache und Gesang in den Mittelpunkt rückt, sondern Bild und Pantomime. Wie im Stummfilm schifft sich Odysseus an den Sirenen vorbei:35 „flüchtig sah er zuerst die Wendungen ihrer Hälse, das Tiefatmen, die tränenvollen Augen, den halb geöffneten Mund“. Bei Homer war es die unwiderstehliche Macht des Gesangs, die den Helden trifft, weil sie ihm von seiner geheimen Sehnsucht berichtet: der Bewahrung des Ruhms, den er vor Troja errungen hat. Bei Kafka besteht die Kunst der Sirenen in der Simulation des Gesangs, die sich nicht länger in der Form des Epischen fassen lässt, sondern sich in die Geburt des modernen Genre des Films einschreibt. In seiner Umschreibung des Mythos theatralisiert Kafka ihn zugleich: Die Beteiligten, Odysseus wie die Sirenen, verhalten sich wie Schauspieler zueinander, und so wird der Mythos selbst zu einem Schau-Spiel, das die alten Mächte der Erinnerung im Rahmen eines unentwirrbares Spiel von Distanz und Nähe in ihr Gegenteil verkehrt. Odysseus, der sich den Sirenen eigentlich unaufhaltsam nähert, entfernt sich zugleich mit jedem Schritt von ihnen. Die „Glückseligkeit“, die in seinem Gesicht aufscheint, verdankt sich nicht der Erinnerungskraft ihres Gesangs, sondern der Macht des Vergessens. Dem Vergessen des Odysseus begegnen die Sirenen mit dem Vergessen ihrer ureigensten Aufgabe: „Sie aber, schöner als jemals, streckten und drehten sich, ließen das schaurige Haar offen im Wend wehn, spannten die Krallen frei auf den Felsen, sie wollten nicht mehr verführen, nur noch den Abglanz vom großen Augenpaar des Odysseus wollten sie solange als möglich erhaschen.“ Wieder ist es die Ordnung des Blicks, nicht die der Sprache, die Kafka seinem Text zugrunde legt. Das „Augenpaar des Odysseus“ wird zum Objekt der Begierde, von den Verführerinnen, als die sie seit Homer bekannt sind, wandeln sich die Sirenen zu Verführten. Das Bild der frei auf den Felsen gestreckten Krallen, das zugleich den Vogelmythos der Sirenen aufnimmt, ist Zeichen der erotischen Erfüllung und der Todesverfallenheit zugleich. Mit dem Bild der verführten Verführerinnen verabschiedet Kafka den Mythos, indem er die Rollen vertauscht, den Kern der Geschichte aber beibehält: „nur Odysseus ist ihnen entgangen.“ Wie in der antiken Überlieferung erscheint Odysseus bei Kafka als derjenige, der der Schicksalsmacht entrinnt, indem er sich kleinmacht. Im Rahmen einer Strategie, von der nicht mehr gesagt werden kann, ob sie sich einer Verstellung verdankt oder nicht, wird er zum unschuldigen Kind, an dem die erotische Verführungskraft der Sirenen an ihre Grenze kommt.

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