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List und Opfer

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In dem Maße, in dem Horkheimer/Adorno in Odysseus nicht nur ein Paradigma aufklärerischen Denkens erkennen, sondern geradezu die Allegorie der Dialektik der Aufklärung, richtet sich ihre Kritik auf der systematischen Ebene auf das Moment, für das Odysseus wie kein anderer mythischer Held einsteht: die List als Zeichen der überlegenen Denkkraft des Menschen. Allerdings erweitern Horkheimer/Adorno den Horizont ihrer Analyse, indem sie von vorneherein einen Zusammenhang zwischen List und Opfer herstellen. Horkheimer/Adorno zufolge verkörpert die List nicht nur die planende Voraussicht, sie entspricht vielmehr einer Form des Betrugs, der in die Welt des Mythos zurückführt, weil ihm archaische Opferprozesse zugrunde liegen: „Das Moment des Betrugs ist das Urbild der odysseischen List, wie denn viele Listen des Odysseus gleichsam einem Opfer an Naturgottheiten eingelegt sind.“ (DA, 57) Der Zusammenhang von List und Opfer, den Horkheimer/Adorno ansetzen, muss gleichwohl überraschen. Er verweist zunächst viel eher auf die – in ähnlicher Weise ambivalente – Figur des Prometheus.24 Darüber hinaus rücken Horkheimer/Adorno den wortgeschichtlich neutralen Begriff der List im Griechischen25 durch das Opfer eindeutig in den Bereich der Lüge: „Die List ist nichts anderes als die subjektive Entfaltung solcher objektiven Unwahrheit des Opfers, das sie ablöst.“ (DA, 58) Nicht nur der Begriff der „objektiven Unwahrheit“ bereitet Probleme. Horkheimer/Adornos Argumentation wird selbst von einer Ambivalenz bestimmt, die den Zusammenhang von List und Opfer betrifft. Kulturgeschichtlich deuten sie List zunächst als Ablösung des Opfers und damit als Fortschritt im Prozess der Zivilisation. Andererseits entfalte die List das Opfer nur, schreibe also deren Mechanismus im Rahmen der Geschichte einer Subjektivierung weiter fort: Als „subjektive Entfaltung solcher objektiven Unwahrheit“ installiere die List den Betrug, der im Opfer bereit liegt, im Herzen des modernen Subjekts. Gerade darin verkörpert der Begriff der List die Dialektik, die Horkheimer/Adorno der Aufklärung ablesen wollen. Im scheinbaren Triumph über den Mythos schreibt die List deren Herrschaftsverhältnisse weiter fort.

Die Fahrten des Odysseus legen Horkheimer/Adorno entsprechend als ein Opfer des epischen Helden aus, der am eigenen Leben souverän vorbeisegelt: „Auch Odysseus ist eines, das Selbst, das immerzu sich bezwingt und darüber das Leben versäumt, das es rettet und bloß noch als Irrfahrt erinnert.“ (DA, 62f.) Horkheimer/Adorno vernachlässigen damit nicht nur, dass die Odyssee zwar eine Erinnerungsgeschichte ist, Gegenstand der Erinnerung aber nicht die Irrfahrt, sondern der Ruhm des vor Troja siegreichen Helden ist, den die Heimkehr erst sichern muss. Indem sie der List den Begriff des Opfers zugrunde legen, verkehren sie den Ruhm, der Odysseus zukommt, zugleich zum Inbegriff verfehlten Lebens. Vom erhabenen Helden, den das Epos präsentiert, wandelt sich das Bild zu dem des tumben Tors: „Er windet sich durch, das ist sein Überleben, und aller Ruhm, den er selbst und die andern ihm dabei gewähren, bestätigt bloß, daß die Heroenwürde nur gewonnen wird, indem der Drang zum ganzen, allgemeinen, ungeteilten Glück sich demütigt.“ (DA, 65) Im „Durchwinden“, wie Horkheimer/Adorno sagen, lag jedoch gerade die neue Qualität, die der Odysseus-Mythos im Unterschied zur Ilias bereithielt. Lässt sich der Begriff des Opfers noch relativ unproblematisch in die Geschichte Achills eintragen, so sind die Überlebensstrategien des Odysseus geradezu darauf angelegt, das Opfer außer Kraft zu setzen. Anders wäre der Kampf mit Polyphemos in seiner kulturgeschichtlichen Bedeutung gar nicht zu verstehen. Vor diesem Hintergrund ist der Erinnerungszusammenhang, der die Geschichte des Odysseus bestimmt, durchaus positiv zu bestimmen. „Die Identität des Odysseus ist die des erinnerten Leidens, aber sie geht in Erinnerung und Leiden nicht auf“26, hält der Religionswissenschaftler Klaus Heinrich fest, um in der Form „des Überlebens im Ruhm“27 die Eigentümlichkeit der Odyssee im Vergleich zur Ilias zu erkennen. Erhaben, so wäre der Kritik des Odysseus durch Longin und Horkheimer/Adorno zu entgegnen, ist Odysseus gerade durch die List, in der Horkheimer/Adorno allein die instrumentale Herrschaft des Intellekts über die Sinne erkennen wollen.

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