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Die Umwege des Erhabenen: Longin
ОглавлениеWenn Horkheimer/Adorno im Blick auf die zwiespältige Funktion der List die Ambivalenz der Odysseus-Figur im Prozess der Dialektik der Aufklärung hervorheben, dann können sie sich auf eine Tradition berufen, die schon in der Antike beginnt. Ihren vielleicht deutlichsten Ausdruck hat die Kritik des Odysseus – neben Dante, der den Helden Homers im sechsundzwanzigsten Gesang der Göttlichen Komödie in die Hölle verbannt – in dem Urteil gefunden, das Longin in seiner Schrift Vom Erhabenen formuliert hat. Im Vergleich zur Ilias, so Longin, sei die Odyssee kaum als ein erhabenes Werk zu bezeichnen. Longins kritisches Urteil, das für die Rezeptionsgeschichte der Homerschen Epen von kaum zu überschätzender Bedeutung gewesen ist, gründet sich auf die unterschiedlichen Charaktere von Achill und Odysseus:
Aus dem gleichen Grund, so denke ich, erfüllte Homer, als er die Ilias im Zenit seiner Dichterkraft schuf, das ganze Werk mit dramatischem Leben und Kämpfen, bringt dagegen in der Odyssee meist nur Erzählung, wie sie das Alter liebt. So möchte man den Homer der Odyssee der sinkenden Sonne vergleichen, deren Glut erlosch, ihre Größe jedoch erhalten blieb. Hier nämlich besitzt er nicht mehr die gleiche Energie wie in jenen Gesängen der Ilias, nicht die immer durchgehaltene, niemals abfallende Höhe, nicht die gleiche Flut sich jagender Leidenschaften, auch nicht die Gewandtheit und rednerische Kraft, die dichte Folge lebenswahrer Bilder, nein, wie vom Okeanos, der in sich zurücktritt und ringsum die eigenen Grenzen entblößt, sieht man nur mehr die Ebbe seiner Größe und ein Schweifen in Märchen und Wundern.12
Longin, dem es in seiner Schrift um die Sicherstellung der Einheit von Autor und Werk geht, will in der Ilias die reife Manneskraft des Dichters, in der Odyssee jedoch nur noch das schwächliche Alter am Werk erkennen. Den Homer der Odyssee kann er sich nur als alten und kraftlosen Mann vorstellen: „In der Odyssee jedoch (denn auch dies muß man aus vielerlei Gründen untersuchen) beweist er, daß es einer großen Natur, deren Bahn sich schon neigt, im Alter eigen ist, behaglich zu erzählen.“13 In der Ilias sei Homer dagegen auf dem Gipfel seiner Kunst gewesen. Als Urbild des Erhabenen wie der virilen Männlichkeit, die dem Autor unterstellt werden, erscheint Longin der Krieg, wie er in der Ilias geschildert wird: „Das ‚Gespräch‘ der erhabenen páthe findet nicht nur im Text, sondern in großer Regelmäßigkeit auf dem Schlachtfeld statt, wo aus dem Kampf der Mächte nur einige als siegreiche Gewalten hervorgehen, die anderen dagegen als überwältigt und tot im streitbaren Diskurs liegen bleiben“14, hält Winfried Menninghaus fest. Noch für Kant bleibt „die vorzügliche Hochachtung für den Krieger“ Bestandteil des Erhabenen.15 Gerade als Krieger aber tritt Odysseus schon in der Ilias kaum in Erscheinung. Die Wirren des Kampfes meidet er, bisweilen muss er von seinen Mitstreitern dazu aufgefordert werden, mehr Standhaftigkeit zu zeigen.16 In der Rede, nicht im Kampf findet er sein Element. Das zeigt sich schon in der Ilias:
Aber sobald sich der listenreiche Odysseus erhoben,
Stand er und schaute zur Erde hinab mit gehefteten Augen;
Weder rückwärts schwang er den Stab, noch hob er ihn vorwärts,
Sondern er hielt ihn steif in der Hand und glich einem Toren,
Daß du leicht für tückisch ihn achtetest oder für sinnlos.
Aber sobald seiner Brust die Stimme gewaltig entströmte
Und die Worte so dicht wie Schneegestöber des Winters,
Dann wohl hätte kein Mensch es gleichgetan dem Odysseus;
Nicht so befremdlich war uns jetzt des Odysseus Erscheinung.
(Ilias III, 216–224)
In der Ilias scheint Odysseus dem Priester näher zu sein als dem Kämpfer. Dem heroischen Affekt des Zorns, den Achill verkörpert, hat der Dulder Odysseus wenig Vergleichbares entgegenzusetzen, und so verkörpert auch der Wunsch nach Heimkehr zu Frau und Familie das genaue Gegenteil vom tragischen Schicksal des Peliden, dem es nach eigener Wahl bestimmt war, vor den Mauern Trojas zu fallen, weil er ein kurzes ruhmreiches Leben einem langen ruhmlosen vorgezogen hat. Von den heroischen Vorgaben der Ilias scheint sich die Geschichte der Odyssee weit entfernt zu haben.
Dennoch gesteht Longin auch der Odyssee eine gewisse Form der Erhabenheit zu: „Indem ich dies sage, habe ich jedoch die Stürme in der Odyssee, das Abenteuer beim Kyklopen und vieles andere nicht vergessen, sondern spreche nur vom Alter, vom Alter freilich eines Homer; allerdings siegt in all diesen Episoden immer wieder das Märchenhafte über die Realität.“17 Zwar verkörpere der Wunsch nach Heimkehr als bestimmendes Thema der Odyssee einen Widerspruch zum erhabenen Charakter der Ilias, der nicht endgültig aufgehoben werden kann. Der Aufschub der Heimkehr, von dem die vielfältigen Abenteuer des Odysseus berichten, bedeutet aber zugleich eine Rückkehr des Erhabenen in das Epos: Die Umwege, die Odysseus im Kampf mit den Kyklopen, den Sirenen oder Skylla und Charibdis in Kauf nehmen muss, sind zugleich Umwege des Erhabenen. Zwar unterstellt Longin Homer weiterhin, „daß schwindende Leidenschaft bei großen Schriftstellern und Dichtern sich in ruhige Charakterschilderung auflöst.“18 Der philologisch fragwürdige Schluss vom Charakter des epischen Helden auf das Alter des Dichters würdigt die Abenteuer des Odysseus jedoch zugleich als erhabene Unterbrechung der ruhigen Charakterschilderung, an der das Alter sein Vergnügen habe.