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Gewissen und Verstellung: Luther und Gracián

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Die Kunst der Verstellung auszuschalten ist jedoch auch dem Christentum nicht vollständig gelungen. Als Hinwendung zur Welt bleibt die Verstellung noch im Rahmen der christlichen Tradition von Bedeutung. Selbst für die protestantische Gewissenskultur markiert die Verstellung einen wichtigen Bestandteil der Realpolitik, auf die Luther im Kampf gegen den Papst nicht verzichten kann. So schreibt er am 28. August 1530 an Melanchthon, dass „Listen und Lapsus, wenn sie bei den Seinen im Widerstande gegen die Papisten vorkämen, später leicht verbessert werden könnten, wenn man einmal der Gewalt entronnen sei“3. Im Kampf um das Seelenheil der Christen hält Luther eben „alles für erlaubt“4.

Luthers nicht eben zimperliches Credo steht im Widerspruch zu der Instanz des Gewissens als dem Richterstuhl, vor dem sich der Christenmensch zu verantworten habe. Zwar erlaubt der Kampf mit äußeren Widerständen dem Christen auch den Beistand der Verstellung. Die innere Instanz des Gewissens muss aber auf alle Kunstmittel verzichten. Wie Heinz D. Kittsteiner gezeigt hat, entwickelt Luther eine Kultur des Gewissens, die auf dem Gesetz von innerer Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit beruht. Kittsteiner zufolge, der darin eine „Tendenz zur Entritualisierung und zur Ethisierung der Religion“5 erkennt, unterscheidet Luther zwischen drei Gewissensbegriffen, „einem ritualisierten, einem ethischen und einem auf Gott ausgerichteten Gewissen.“6 Als nach innen gerichtete Stimme begründet die Instanz des Gewissens eine Form des Selbstbewussteins, das auf dem Gebot der Aufrichtigkeit sich selbst und anderen gegenüber beruht.

Verkörpert die protestantische Gewissenskultur eine Form der ständigen Selbstbefragung des Ich in der Verantwortung vor Gott, so markiert die Verstellung die Schnittfläche, die das Ich an die äußere Welt bindet. Die Kunst der Verstellung ist nicht nach innen, sie ist nach außen gerichtet. Ihr Ort ist die Welt. Das kommt schon in dem Titel von Balthasar Graciáns Handorakel und Kunst der Weltklugheit zum Ausdruck. Weltklugheit, prudencia, beinhaltet ein konventionelles Verhältnis, das der Mensch zu seiner sozialen Umwelt einnimmt. Im Unterschied zum normativen Gewissensbegriff Luthers verantwortet sich die Weltklugheit nicht vor einer inneren Stimme, sondern vor den äußeren Mechanismen, die den gesellschaftlichen Verkehr regeln. Was der Verstoß gegen die Weltklugheit zutage fördert, ist daher auch nicht das Bekenntnis der Schuld, zu dem sich das christliche Subjekt in der Identifikation mit dem Erlöser durchringt, sondern die Scham, die ihn vor sich und den anderen bloßstellt. Aus der Perspektive der Verstellung heraus verändert sich auch der Begriff der Aufrichtigkeit. Die Wahrhaftigkeit, die die christliche Gewissenskultur fordert, erscheint im Kontext der Verstellung entweder als unverzeihliche Dummheit oder als die höchste Form der Verstellung. Dass zwischen beiden Extremen, der kunstlosen Einfalt und der klugen Verstellung, nicht immer klar unterschieden werden kann, eröffnet der Verstellung einen fast unbegrenzten Spielraum, der sich von den Vorgaben der Gewissenskultur zunehmend entfernt.

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