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Sprache und Verstellung

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Nietzsches Überlegungen zum Zusammenhang von Intellekt und Verstellung scheinen sich zunächst allein auf den Bereich der Natur zu beziehen. Sein eigentliches Interesse gilt jedoch weniger dem Problem des Denkens als vielmehr dem der Sprache. Denn, so die Voraussetzung Nietzsches, erst die Gesetzgebung der Sprache ermöglicht es dem Menschen, im gesellschaftlichen Verkehr von Wahrheit zu sprechen. Der unmittelbare Schluss, den Nietzsche aus diesen Prämissen zieht, ist der einer grundsätzlichen Abhängigkeit der Wahrheit von der Sprache, wobei Sprache nicht länger als ein transparentes Medium des Geistes und bloßes Hilfsmittel des Erkennens gedacht wird, sondern im Rahmen einer grundsätzlichen Aufwertung der Rhetorik als Instrument der Verstellung. Die Grundlage der Sprache, so Nietzsche, bilde die Metapher als ein doppelter Übertragungsprozess, der zunächst einen Nerv in ein Bild und daraufhin das Bild in einen Laut verwandle. Worte seien dementsprechend „nichts als Metaphern der Dinge“. Vor diesem Hintergrund gelangt Nietzsche zu einer sprachkritischen Zurückweisung des philosophischen Wahrheitsbegriffes:

Was also ist Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen. (KSA 1, 880f.)

Nietzsches Aufwertung der Rhetorik vollzieht eine Rückkehr zu der negativen Anthropologie, die schon Graciáns Werk bestimmte. War der Optimist Rousseau davon ausgegangen, dass der Mensch von Natur aus gut sei, wobei sich die Herzensgüte in einer Form der Aufrichtigkeit äußere, die ihre Erfüllung in der empfindsamen Liebe finde, so geht Nietzsche mit Schopenhauer und Gracián von der umgekehrten Prämisse aus: Der Mensch ist von Natur aus böse, das Denken nur ein Mittel, um ihm inmitten anderer Raubtiere das Überleben zu sichern, die Sprache nicht ein adäquates Abbild der Welt, sondern ein rhetorisches Prinzip der Verstellung. Mit der Auffassung der Sprache als Übertragung von Nervenreizen in Laute vollzieht Nietzsche schon in seiner Frühschrift eine dezidierte Kritik der protestantischen Gewissenskultur, die zugleich den Ausgangspunkt für eine Metaphysik der Kunst bildet, die den Aspekt der Täuschung in den Mittelpunkt stellt:

Der Mensch selbst aber hat einen unbesiegbaren Hang, sich täuschen zu lassen und ist wie bezaubert vor Glück, wenn der Rhapsode ihm epische Märchen wie wahr erzählt oder der Schauspieler im Schauspiel den König noch königlicher agirt, als ihn die Wirklichkeit zeigt. Der Intellekt, jener Meister der Verstellung, ist so lange frei, und seinem sonstigen Sklavendienste enthoben, als er täuschen kann, ohne zu schaden und feiert dann seine Saturnalien; nie ist er üppiger, reicher, stolzer, gewandter und verwegener. (KSA 1, 888)

Eine „gute, starke Lüge“25 konnte schon Luthers Beifall finden. Nietzsche erkennt in der Kunst eine solche gute und starke Lüge, „die ächte resolute ‚ehrliche‘ Lüge“ (KSA 5, 386), eine Lüge, die den Menschen von den Zumutungen befreit, die der Wahrheitstrieb an ihn stellt. Als gute Form der Täuschung kann Nietzsche die Kunst ansprechen, da sie den Intellekt nicht nur von der Fremdherrschaft der Wahrheit, sondern zugleich von sich selbst befreit. Auf dem Weg zur „Fröhlichen Wissenschaft“ löst Nietzsche, der dem Vorbild Schopenhauers folgt, wenn er in der Kunst eine Form der Freiheit von der Erscheinungswelt erblickt, den Weisheitsanspruch, dem sich noch Graciáns Handorakel verpflichtete, in einem Lob der Kunst auf, das eine Form der Täuschung preist, die für den Menschen ohne Schaden bleibe. Der Stolz, der dem Menschen in seinem Hochmut als kluges Tier, das das Erkennen erfand, nur schlecht ansteht, scheint in der Kunst den einzig wahren Ort gefunden zu haben.

Dennoch bedeutet Nietzsches Lob der Kunst nicht die Selbstabschaffung des Denkens. Im Gegenteil: In Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne unterscheidet Nietzsche in einem abschließenden Ausblick den intuitiven und den vernünftigen Menschen, die Welt der Kunst und die der Wissenschaft. Grundlage des Vergleichs von Kunst und Wissenschaft ist die Frage nach dem Umgang mit dem Schmerz, der auf den Zusammenhang von Kunst und Pathos zurückführt. „Pathos“, so Martin von Koppenfels, „bezeichnet den Bereich des Ästhetischen, der traditionell die Vermittlung des Schmerzes zu leisten hätte: das Feld der negativen Affekte, sofern sie ästhetischer Bearbeitung zugänglich sind.“26 Mit dem Begriff des Pathos stellt sich Nietzsche die Frage nach der Bewältigung des Schmerzes, der das menschliche Dasein in seiner ephemeren Bedeutung begleitet. In der tragischen Kunst der Griechen und in Wagners Musikdrama hatte Nietzsche geglaubt, eine symbolische Form der Schmerzbewältigung vorfinden zu können. „Eine Grundfrage ist das Verhältniss des Griechen zum Schmerz“ (KSA 1, 15), formuliert die späte Vorrede zur Geburt der Tragödie, die in der dionysischen Macht der Musik den „Urschmerz“ (KSA 1, 44) erkennt. Lustvoll spricht Nietzsche im ästhetischen Gewand von dem Gott, „von dem wundervolle Mythen erzählen, wie er als Knabe von den Titanen zerstückelt worden sei“ (KSA 1, 72). Nietzsches Bild des Schmerzensmannes erfüllt sich jedoch nicht in der Kunst. Zwar sieht sich der intuitive Mensch vom Pathos des Schmerzes überwältigt. Gerade darin aber findet er nicht die symbolische Bewältigung, die die Kunst eigentlich leisten soll. Der intuitive Mensch, so lautet Nietzsches überraschend besonnene Reflexion, „schreit laut und hat keinen Trost.“ (KSA 1, 890) Der Trost, der dem intuitiven Menschen verwehrt bleibt, verwirklicht sich daher im Ideal des vernünftigen Menschen:

Er, der sonst nur Aufrichtigkeit, Wahrheit, Freiheit von Täuschungen und Schutz vor berückenden Ueberfällen sucht, legt jetzt, im Unglück, das Meisterstück der Verstellung ab, wie jener im Glück; er trägt kein zuckendes und bewegliches Menschengesicht, sondern gleichsam eine Maske mit würdigem Gleichmaasse der Züge, er schreit nicht und verändert nicht einmal seine Stimme. Wenn eine rechte Wetterwolke sich über ihn ausgiesst, so hüllt er sich in seinen Mantel und geht langsamen Schrittes davon. (KSA 1, 890).

Der Zusammenhang von Leiden und Schmerz, der Nietzsches negativer Anthropologie zufolge das menschliche Dasein bestimmt, betrifft nicht nur den Künstler, sondern auch den Philosophen, als den Nietzsche früh sich selbst sieht. Mit dem Ideal des vernünftigen Menschen vertritt Nietzsche ein der Stoa entlehntes Ideal der Selbstbeherrschung, dem es im Unterschied zur Kunst nicht um unmittelbaren Ausdruck, sondern um Beherrschung der Affekte geht. So erkennt er gerade in der Affektbeherrschung, die die Vernunft leitet, das „Meisterstück der Verstellung“, dem es vorbehalten ist, das Pathos der Aufrichtigkeit zu brechen. Was dem vernünftigen Menschen gelingt, ist, wie das Epoche machende Beispiel des Lessingschen Laokoon zeigt, die Unterdrückung des Schmerzes durch eine „Maske“, die die Abwehr der Affekte erlaubt: „er schreit nicht und verändert nicht einmal die Stimme.“ Das unheimliche Bild des Menschen, der noch den größten Schmerz erträgt, ohne eine Regung von Gefühl zu zeigen, markiert das Extrem von Nietzsches Lob der Verstellung: als eine Form der Versteinerung, die die einleitende Fabel über die klugen Tiere zu beschreiben versucht, indem sie die Welt nach wenigen Atemzügen der Natur erstarren lässt. Der Ausgangspunkt seiner Überlegungen, die resignative Einsicht, dass die klugen Tiere sterben mussten, führt Nietzsches Theorie der Verstellung bis hin zum Meisterstück einer Maskierung des Selbst, von der nicht mehr sicher sein kann, ob sie den Lebenden oder den Toten geschuldet ist.

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