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Gewalt und List: Odysseus und Polyphemos

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Die Gefahr, in der Bedeutungslosigkeit zu versinken, da der Name nicht mehr erinnert werden kann, thematisiert die Odyssee in ihrer vielleicht wirkungsmächtigsten Episode, der Blendung des Kyklopen Polyphemos.8 Dass die Auseinandersetzung mit dem ungestalten Riesen auf den Begriff des Ruhms zielt, den Odysseus mit seiner Heimkehr zu sichern sucht, zeigt schon der Name seines Gegners: In Polyphemos trifft Odysseus auf den „Vielgerühmten“. Eine Gefahr für den Ruhm des Odysseus bedeutet Polyphemos, da in ihm die ungebändigte Gewalt der Natur über die List des Griechen zu triumphieren droht.

Horkheimer/Adorno legen dem Kampf zwischen Odysseus und Polyphemos in der Tradition der allegorischen Mythenkritik als den von Verstandesmacht und Naturgewalt aus: Es sei die „Verschlingung von Mythos, Herrschaft und Arbeit“ (DA, 38), die sich aus dem neunten Buch der Odyssee ablesen lasse. Von dem Zusammenhang von Herrschaft und Arbeit sprechen Horkheimer/Adorno im Blick auf die unterschiedlichen Zivilisationsstufen, die Odysseus und Polyphemos verkörpern. Repräsentiert der Grieche in der ästhetischen wie politischen Selbstbeschreibung, die das Epos liefert, den Urtyp einer zivilisierten Lebensform, so steht der Kyklop als Urbild des Naturzustandes dar. Die Welt des Kyklopen stellt in der Odyssee eine archaische Ordnung dar, die keine Form der gesellschaftlichen Arbeit kennt, weil die Natur ihr alles von sich aus zum Leben zur Verfügung stellt:

Weiter fuhren wir jetzt betrübten Herzens und kamen

Hin zum Land der Kyklopen, die halt- und gesetzlos leben.

Keiner rührt eine Hand zum Pflanzen und Pflügen; sie stellen

Alles anheim den unsterblichen Göttern. Es wächst ja auch alles

Ganz ohne Saat oder Pflug, der Weizen, die Gerste, die Reben.

(Odyssee IX, 105–109)

Wie schon das Land der Lotophagen verkörpert die Insel des Kyklopen einen vorgesellschaftlichen Naturstand, mit dem sich die fortschrittlichen Griechen auf ihrem Weg in die Heimat, der zugleich eine Reise in die geschichtliche Vergangenheit bedeutet, auseinandersetzen müssen.9 Konfrontierten die Lotusblütenesser die Gefährten mit der vegetativen Macht des Vergessens, so stellt Polyphemos eine animalische Daseinsform dar, die sich allein durch ihre natürliche Stärke definiert. So wenig wie die Lotophagen kennen die Kyklopen die moderne Welt der Arbeit: Acker und Pflug sind ihnen unbekannt, das gleiche gilt für die Kunst der Schifffahrt, die die Griechen zu ihnen brachte. Für Odysseus und seine Männer offenbart sich das Land der Kyklopen wie das der Lotophagen daher zunächst als ein paradiesischer Urzustand unerschöpflichen Reichtums: „Diesen Tag nun vertaten wir ganz bis zum Sinken der Sonne,/Saßen und schmausten Unmengen von Fleisch und von süßestem Rauschtrank“ (Odyssee IX, 161–162). Was die Natur den Menschen zu bieten scheint, ist die unmittelbare sinnliche Fülle des Genusses, die sich den Griechen frei von allen Arbeitszusammenhängen darbietet.

Odysseus fragt jedoch nicht allein nach dem Naturzustand, sondern zugleich nach der Rechtsform, die mit ihm verbunden ist. Dem Besuch der Kyklopen kommt die Funktion einer Prüfung zu, deren Ziel es ist, die Gesetze kennen zu lernen, die sich hinter den paradiesischen Zuständen verbergen: „Selbst aber will ich mit meinem Schiff, mit meinen Gefährten/Gehen und will diese Männer dort prüfen, wer sie wohl seien./Sind es wilde Verbrecher, die gar nicht wissen, was recht ist,/Oder gastliche Leute mit gottesfürchtigem Denken?“ (Odyssee IX, 173–176) Verbrechertum und Gottesfurcht repräsentieren für Odysseus die beiden unterschiedlichen Rechtsformen, die über die Legitimation dessen entscheiden, der über die Insel herrscht. Unterschiedlichen zivilisatorischen Stufen entsprechen Polyphemos und Odysseus daher nicht allein in der Entgegensetzung von Natur und Zivilisation, sondern der damit verbundenen Frage nach den politischen Rechtsverhältnissen, die das Leben der verschiedenen Kulturformen bestimmen. Was die Begegnung mit Polyphemos zutage fördert, ist die Kehrseite des Paradieses, die rohe Gewalt der Natur, die der Riese verkörpert:

Hier aber pflegte ein Mann zu schlafen, ein Ungeheuer;

Abseits trieb er sein Vieh auf die Weide; er ging nicht zu andern,

Einsam hielt er sich fern und sann auf gesetzlose Taten.

Ganz wie ein riesiges Wunder war er geschaffen; er glich nicht

Menschen, die Speise verzehren, er glich einer waldigen Koppe,

Wie man sie einsam ragend erblickt in den hohen Gebirgen.

(Odyssee IX, 187–192)

Die Beschreibung des Kyklopen im Text schwankt zwischen Bewunderung und Erschrecken: Als „Ungeheuer“ ist Polyphemos zugleich ein „riesiges Wunder“, das die Griechen bestaunen. Im Bild der „waldigen Koppe“ hält der Text das Moment fest, das Polyphemos auszeichnet: Er scheint selbst Teil der Natur zu sein, über die er herrscht, ein Wunder, das über alle Maße des Menschlichen hinausweist. Zum Naturzustand, in dem der Riese verharrt, zählt seine Ungeselligkeit: Umgang hat er nur mit seinem Vieh, andere Lebewesen meidet er. Dass er auf „gesetzlose Taten“ sinnt, wie der Text einleitend hervorhebt, deutet schon an, dass Odysseus und die Gefährten auf der Insel keinen gastlichen Wirt antreffen werden. Die erste Begegnung zwischen dem Kyklopen und den Griechen bringt die Differenzen deutlich ans Licht. In Polyphemos und Odysseus treffen zwei unterschiedliche Rechtsordnungen aufeinander, die sich auf unterschiedliche Konzepte der Götter berufen:

Leute rühmen wir uns Agamemnons, des Sohnes des Atreus;

Wahrlich sein Ruhm ist heute der größte und reicht bis zum Himmel.

Groß ist nämlich die Stadt, die er nahm, und groß die Verluste.

Wir aber kamen zu dir und fassen dich hier bei den Knieen,

Ob du vielleicht mit gastlicher Gabe oder auch sonstwie

Uns hier beschenktest, worauf doch ein Fremdling immer ein Recht hat.

Mächtiger! Scheue die Götter! Wir sind deinem Schutze empfohlen:

Zeus ist der strafende Hort für den Flüchtling wie für den Gastfreund.

Zeus, der Gastliche, hilft auch den Gästen, zeigen sie Ehrfurcht!

(Odyssee IX, 263–271)

Um Polyphemos milde zu stimmen, ruft Odysseus dreierlei an: die Größe des Ruhms, die den Griechen und nicht zuletzt ihm selbst seit dem Fall von Troja zukommt, die Gebote der Gastfreundschaft und die Herrschaft des Zeus, die für beides, den Sieg vor Troja und die Gesetze der Gastfreundschaft, gleichermaßen einsteht. Dass Odysseus sich mit seinen ersten Worten gerade auf Agamemnon beruft, der die Griechen vor Troja geführt hat, ist nicht ohne geheime Ironie, weiß er doch noch nicht, dass dieser bei seiner Rückkehr durch die Hand der eigenen Frau und ihres Liebhabers gefallen ist. In der Anspielung auf Agamemnon, mit der Odysseus seine Bitte um Gastfreundschaft einleitet, deutet sich schon an, was dem Sohn des Laërtes im Land der Kyklopen droht: der Verlust des eigenen Lebens und das Scheitern der Heimkehr zu Frau und Sohn. Seiner Bitte wird nicht stattgegeben. Wie die Antwort des Polyphemos zeigt, besitzen die Gesetze, auf die sich Odysseus beruft, in der Welt der Kyklopen keine Gültigkeit. Alle drei Gebote, auf die sich Odysseus beruft, weist der Riese zurück: „Wir Kyklopen kümmern uns gar nicht um Zeus mit der Aigis,/Überhaupt nicht um selige Götter; denn wir sind ja weitaus/Mächtiger. Ich vermeide schon gar nicht mit Zeus eine Feindschaft./Schonen wird’ ich dich nicht, auch nicht die Gefährten, es sei denn,/Daß mein Gemüt es will.“ (Odyssee IX, 275–279) Aus dem Rechtsbereich des Zeus, auf den Odysseus seine Ansprüche stützte, nimmt Polyphemos sich selbstbewusst heraus. Als Sohn des Poseidon ist er sein eigener Herr, Zeus erkennt er nicht an. Das Gesetz, dem er folgt, ist das der reinen Selbstbestimmung frei von allen äußerlichen Zugeständnissen. Entscheidend ist für ihn nur die Frage des eigenen Gemütszustands. Auf Gastfreundschaft kann Odysseus daher nicht rechnen. Im Gegenteil: In einer grotesken Verkehrung der Rollenverteilung von Gast und Wirt erschlägt der Riese zur Bekräftigung seiner Worte zwei Männer und verzehrt sie umgehend: Er „packte sich zwei der Gefährten zusammen, als wären es Hunde,/Und erschlug sie am Estrich. Die Hirne rannen am Boden,/Tränkten die Erde. Dann schnitt er die Leiber in Stücke und machte/Nachtmahl, zehrte es auf, als wär er ein Leu im Gebirge“ (Odyssee IX, 289–292). Das Bild des Löwen verweist auf die durch keine andere Macht gebrochene Herrschaftsgewalt, die der Kyklop für sich in Anspruch nehmen kann, ohne den Einspruch der Griechen fürchten zu müssen. Odysseus, der auf Gastfreundschaft, Bewirtung und Geschenke durch den Riesen gehofft hatte, wird selbst zum Wirt, der in der Höhle eingeschlossen die eigenen Gefährten zum Mahl hergeben muss. Hinter dem paradiesischen Naturzustand, der auf der Insel zu regieren scheint, offenbart sich eine archaische Welt roher Gewalt, gegen die sich die Griechen mit den ihnen eigenen Waffen zur Wehr setzen müssen.

Die Wirkungsmacht, die von der Episode um Polyphemos ausgeht, verdankt sich nicht allein der erhabenen Gestalt des Riesen, dessen Macht keine Grenzen zu kennen scheint, sondern mehr noch der List, mit deren Hilfe Odysseus ihn besiegt. Dass List der Stärke überlegen ist, ist die Quintessenz des neunten Buches und der Odyssee insgesamt. Voraussetzung der List ist die Beherrschung der eigenen Affekte. Was Horkheimer/Adorno Odysseus zu Lasten rechnen, die Herrschaft des Intellekts über die Sinne, steht bei Homer für eine Fähigkeit ein, die seinen Helden von allen anderen unterscheidet. Odysseus verzichtet trotz seiner Wut darauf, den Riesen mit dem Schwert anzugreifen, weil der Ausgang aus der Höhle durch einen Stein versperrt ist. Der erhabene Affekt des Zorns scheint ihm keinen Ausweg zu bieten. An die Stelle des unmittelbaren Racheimpulses tritt das vorausschauende Planen und Denken, dem sich der Riese nicht gewachsen zeigt. Die List des Odysseus setzt bei dem Moment an, das die Stärke des Riesen auszumachen schien: bei der von keiner äußeren Macht eingeschränkten Maßlosigkeit, die sich im Weinrausch offenbart. Dem trunkenen Riesen begegnen Odysseus und die kundigen Gefährten, die schon aus Trauben Wein zu machen wussten, mit den Mitteln der modernen Technik:

Sie aber packten den vorne gespitzten Pfahl vom Ölbaum,

Stemmten ihn grad in das Auge; doch ich, ich stemmte mich aufwärts,

Drehte, wie einer den Bohrer in Planken des Schiffes hineindreht:

Unten packen sie von links und recht, mit dem Riemen

Halten sie ihn in Bewegung; da läuft er immer und hält nicht –

Gradso bohrten wir ihm das feurige Holz mit den Händen

Tief in sein Aug, daß den heißen Pfahl das Blut überströmte.

Lid und Braue versengte rundum ihm völlig der Glutdampf.

(Odyssee IX, 383–389)

Die Blendung des Kyklopen ist eine Gemeinschaftsarbeit der Griechen, die in den Bereich des Handwerks, insbesondere den der Schifffahrt als Zeichen ihrer überlegenen Kulturtechnik, verweist. An die Stelle der Einheit mit der Natur, die Polyphemos repräsentiert, tritt die Einheit mit der Technik: Am Pfahl verwandeln sich Odysseus und seine Männer selbst in ein Werkzeug, das sich in das Auge des Kyklopen bohrt: „Taucht der Schmied eine Axt oder taucht er ein mächtiges Handbeil/Helfen will er dem Eisen, daß wieder zu Kräften es komme:/Gradso sott ihm das Auge am Pfahl, der aus Holz war vom Ölbaum.“ (Odyssee IX, 391–394) Die detaillierte Beschreibung der Vorbereitungen und der Durchführung stellt die grausame Blendung in den Kontext moderner Arbeitszusammenhänge, die mit der Wahl des geeigneten Materials beginnen: Der Ölbaum ist für seine Härte bekannt und daher als Werkzeug besonders geeignet. Die Blendung beschreibt der Text als ein Werk der überlegenen Technik, auf die die erfahrenen Schiffsbauer zurückgreifen können: Die Männer und der Pfahl werden zu einem Bohrer, der sich in eine Schiffsplanke senkt. Was die Kyklopen-Episode ganz im Sinne der Dialektik der Aufklärung zeigt, ist die Ohnmacht der Natur gegenüber der modernen Technik: Die archaische Welt des Mythos, für die Polyphemos einsteht, scheitert an den Arbeitszusammenhängen der Moderne, die Odysseus und seine Gefährten repräsentieren.

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