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Die Wahrheitsspiele der Literatur
ОглавлениеDer Zusammenhang von Scham und Verstellung, wie er Nietzsches Philosophie bestimmt, dient der folgenden Untersuchung als Leitfaden. Zwar ist sie zunächst an einer Aufwertung der Verstellung interessiert, die mit einer Kritik der moralischen Instanzen der Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit einhergeht.30 Den Gegensatz von Aufrichtigkeit und Verstellung legt die Arbeit aber nicht normativ, sondern historisch aus. Er ist das Ergebnis eines geschichtlichen Prozesses, den es kritisch zu rekonstruieren gilt. Die Intention der Arbeit liegt daher nicht allein in der Dekonstruktion des Gegensatzes von Aufrichtigkeit und Verstellung. Vor dem Hintergrund der historischen Untersuchungen Michel Foucaults geht es ihr zugleich um eine Analyse der Wahrheitsspiele,31 die mit der unterschiedlichen Funktion der Literarur von Homer bis Kafka verbunden sind.32 Die grundsätzliche Aufwertung der Verstellung leitet die Arbeit zunächst aus dem antiken Paradigma der List ab, wie es die Odysseus-Figur zum Ausdruck bringt. Die kritische Auseinandersetzung mit Odysseus, die sich zugleich von den Analysen Horkheimer/Adornos aus der Dialektik der Aufklärung abzusetzen sucht, dient zugleich als Vorbereitung für die Darstellung des Gegensatzes von Verstellung und Aufrichtigkeit in der Literatur um 1800, die den zweiten Teil der Arbeit bestimmt. Ausgehend vom Dispositiv der Aufrichtigkeit bei Goethe leitet der dritte Teil zur Auseinandersetzung mit dem modernen Roman über. Franz Kafkas „Poetik des Betrügens ohne Betrug“ leitet der Versuch einer Aufhebung des Gegensatzes von Verstellung und Aufrichtigkeit, der, wie der vierte Teil zeigt, auch die Romane von Italo Svevo, Robert Musil und Marcel Proust bestimmt. Insofern lässt sich das Lob der List, das schon Homer und Pindar anstimmen, auf den modernen Roman erweitern. „Der Betrug ist also keine Lüge, sondern die Anerkennung der Unmöglichkeit, in der Sprache zur Wahrheit zu kommen“33, schreibt Manfred Schneider über den Zusammenhang von Liebe und Betrug. Im Unterschied zum philosophischen Diskurs, der, wie Horkheimer und Adorno zeigen, eine Herrschaft über die Sprache der Lüge zu errichten sucht, ist Literatur ein Sprachspiel, das sich in einer Bewegung der fortgesetzen Maskierung der Herrschaft der Wahrheit entzieht. Wenn die Texte von Homer, Goethe und Kafka Zeugnis ablegen, dann nicht von der Unterwerfung der Sprache unter die Wahrheit, sondern von den Winkelzügen der Schrift als immer neuen Umwegen der List. Ihnen nachzugehen, ist das Anliegen der folgenden Untersuchung.
1 Vgl. Wolfgang G. Müller, Ironie, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hrsg. von Harald Fricke. Band II. H-O, Berlin, New York 2000, S. 185–189, hier S. 186.
2 Alexander Košenina, Verstellung, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie hrsg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel. Band 11: U-V, Darmstadt 2001, S. 938–942, hier S. 938. Zur Funktion von Simulation und Dissimulation vgl. auch Peter von Matt, Die Intrige. Theorie und Praxis der Hinterlist, München/Wien 2006, S. 20 und 29.
3 Vgl. Aurelius Augustinus, Die Lüge und Gegen die Lüge, Würzburg 1953, S. XLI.
4 Ebd., S. XLII.
5 Heinz D. Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens, Frankfurt/Main 1991, S. 162.
6 Ebd., S. 407.
7 Balthasar Gracián, Handorakel und Kunst der Weltklugheit, Stuttgart 1954, S. 5.
8 Ebd., S. 49f.
9 Vgl. Ulrich Schultz-Buschhaus, Über die Verstellungskunst und die ersten ‚Primores‘ des Héroe von Gracián, in: Romanische Forschungen 91 (1979), S. 411–430, zu Affektkontrolle und Herrschaft S. 420.
10 Balthasar Gracián, Handorakel und Kunst der Weltklugheit, S. 7.
11 Ebd.
12 Ebd., S. 29.
13 Ebd., S. 10.
14 Ebd., S. 110.
15 Niccolò Machiavelli, Il Principe. Der Fürst, Stuttgart 1986, S. 137.
16 Balthasar Gracián, Handorakel und Kunst der Weltklugheit, S. 126.
17 Friedrich Nietzsche, Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, in: Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari, Band 1, New York/München 1967–1977, S. 875. Im folgenden im Text abgekürzt als KSA.
18 Pindar, Oden, Stuttgart 1986, S. 153.
19 Vgl. Achim Geisenhanslüke, Der Mensch als Eintagswesen, ins Nietzsche-Studien 28 (1999), S. 125–140, hier S. 129.
20 Balthasar Gracián, Handorakel und Kunst der Weltklugheit, S. 146.
21 Zur Lüge vgl. Maria Bettetini, Eine kleine Geschichte der Lüge. Von Odysseus bis Pinocchio, Berlin 2003.
22 Mathias Mayer, Das rechte Leben und das falsche Lesen? Über den Zusammenhang von Literatur, Lüge und Ethik, in: Mathias Mayer (Hg.): Kulturen der Lüge, Köln, Weimar, Wien 2003, S. 225–245, hier S. 236.
23 Zur Lüge bei Nietzsche vgl. Hans Rott, Der Wert der Wahrheit, in: Mathias Mayer (Hg.): Kulturen der Lüge, S. 7–34.
24 „The far greater number of the movements of expression, and all the more important ones, are, as we have seen, innate or inherited; and such cannot be said to depend on the will of the individual“, notiert Charles Darwin, The Expression of the Emotions in Man and Animals. Third Edition, Glasgow 1998, S. 349.
25 Vgl. Aurelius Augustinus, Die Lüge und Gegen die Lüge, S. XLI.
26 Martin v. Koppenfels, Schmerz. Lessing, Duras und die Geschichte der Empathie, in: Robert Stockhammer (Hg.): Grenzwerte des Ästhetischen, Frankfurt/Main 2000, S. 118–145, hier S. 122f.
27 Vgl. Walter Gebhard, Strukturen der Scham bei Friedrich Nietzsche, in: Walter Gebhard (Hg.): Friedrich Nietzsche. Perspektive und Tiefe. Bayreuther Nietzsche-Kolloquium 1980, Frankfurt am Main/Bern 1982, S. 177–205, sowie Marcus Planckh, Scham als Thema im Denken Friedrich Nietzsches, in: Nietzsche Studien 27 (1998), S. 214–237.
28 Aristoteles, Rhetorik, München 1980, S. 104.
29 Vgl. Achim Geisenhanslüke, Der Buchstabe des Geistes. Postfigurationen der Allegorie von Bunyan zu Nietzsche, München 2003, S. 210f.
30 Vgl. in diesem Zusammenhang die Perspektive der Evolutionsbiologie, die ebenfalls an einer „Rehabilitierung der Lüge“ interessiert ist. Volker Sommer, Lob der Lüge. Täuschung und Selbstbetrug bei Tier und Mensch, München 1992, S. 11. „Der Mensch ist ein Lebewesen, das der Lüge fähig ist“, kommentiert aus linguistischer Sicht Harald Weinrich, Linguistik der Lüge, Heidelberg 1966, S. 9.
31 Vgl. Michel Foucault, Histoire de la sexualité 2. L’usage des plaisirs, Paris 1984, S. 13.
32 Darin unterscheidet sich das Erkenntnisziel der Arbeit zugleich von der evolutionshistorisch und anthropologisch argumentierenden Studie Peter von Matts Die Intrige.
33 Manfred Schneider, Liebe und Betrug. Die Sprachen des Verlangens, München/Wien 1992, S. 434.