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Zorn und Scham: Aias und Odysseus

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Die Ambivalenz, der die Darstellung des Odysseus in der Ilias unterworfen ist, bestätigt sich in der unterschiedlichen Bewertung seines Charakters in der Tragödie. Während Sophokles im Aias noch ein erstaunlich positives Odysseus-Bild präsentiert, zeichnen Euripides in der Hekabe und Sophokles im Philoktet ein Portrait des listigen Helden, das dessen Kehrseite beleuchtet. Nicht die kluge Einsicht des Troja-Bezwingers steht im Mittelpunkt ihrer Darstellung, sondern der intrigante Charakter eines Machtpolitikers, dem es allein um die Sicherstellung der eigenen Interessen geht.

In der frühen Tragödie Aias greift Sophokles auf ein Motiv zurück, das sich unmittelbar von der Ilias herleitet: den Streit um die Waffen des Achill, die nach dessen Tod Odysseus und nicht Aias zugesprochen wurden. Der Streit zwischen Aias und Odysseus nimmt die Ausgangskonstellation wieder auf, die schon die Ilias bestimmte: In Aias und Odysseus stehen sich die unterschiedlichen Tugenden der Tapferkeit und der Besonnenheit gegenüber, die sich bei Homer auf die Paare Achill und Aias sowie Odysseus und Agamemnon verteilten. Im Rahmen der Tragödie, in deren Zentrum eigentlich die Darstellung des Selbstmords des Aias steht, vollzieht Sophokles eine Auszeichnung der Odysseus-Figur, die sich auf die vermittelnde Kraft seines vorausschauenden politischen Denkens beruft. Odysseus, mit dessen Auftritt die Tragödie auch beginnt, und nicht Aias, ist die Sympathie der Göttin Pallas Athene sicher, die scharfäugig über das Geschehen und ihren Schützling wacht. Wenn Aias dem Untergang preisgegeben wird, dann liegt der Grund im Mangel an Besonnenheit, die sein Gegenüber auszeichnet. Unbesonnen erscheint Aias bei Sophokles gerade im Rückgriff auf den Affekt, der noch den tragischen Charakter des Helden Achill ausgezeichnet hatte: „Zorn um Achilleus’ Waffen hat ihn übermannt.“ (Aias, 41) Der Zorn ist nicht nur das Moment, das Achill und Aias unmittelbar miteinander verbindet. Er verweist zugleich auf die Differenz zwischen der Einschätzung der Affekte, die Epos und Tragödie geben: Im Vergleich zum erhabenen Affekt des Zorns, der Achill in der Ilias beseelt, erscheint die symbolische Schlachtung der Griechen, die Aias im Wahn verfolgt, als eine unerträgliche Karikatur des Erhabenen, der der Schuldige nur in der Form des Selbstmords begegnen kann. Der erhabene Affekt des Zorns wandelt sich zu der Scham, der der aus seinem Wahn erwachte Aias anheim fällt.22 Bedeutet die Scham im Gegensatz zur Seelengröße, die der Zorn repräsentiert, eine Selbstverkleinerung des mythischen Helden, der vor Troja durch seine Tapferkeit auf sich aufmerksam gemacht hatte, so stellt der Selbstmord die ursprüngliche Ordnung wieder her: Ehrenvoller ist es für Aias, zu sterben, als mit der Schande zu leben. Der Selbstmord dient der Abwehr der Scham, die das Überleben bedeutete. Die Beschämung, der sich Aias aussetzt, weist darauf hin, dass die Tragödie im Vergleich zum Epos eine Neubewertung der Affekte und der damit verbundenen Heroisierung vornimmt. Im Mittelpunkt der Tragödie steht nicht mehr der individuelle Affekt des Zorns, der die Figur des Achill in der Ilias zu tragischer Größe erhob, sondern politische Tugenden wie Einsicht und Besonnenheit, für die nicht der tapfere Kämpfer Aias, sondern der kluge Denker Odysseus einsteht.

Vor diesem Hintergrund dient die Figur der Pallas Athene von Beginn an als Richterin über die unterschiedlichen Ansprüche von Aias und Odysseus: „den Besonnenen/lieben die Götter, und den Frevler hassen sie“ (Aias, 132–133). Im Rahmen der Tragödie erscheint der Zorn des Aias als eine Form der Selbstüberhebung und Verblendung, die ihn von seinem Feindbild Odysseus abhebt. Was von Aias gefordert wird, ist die Beherrschung des Zorns, die ihm nicht gelingen kann, weil er wie sein Vorbild Achill nicht über persönliche Interessen hinwegzugehen vermag. Wie der des Achill in der Ilias richtet sich der Zorn des Aias gegen das Bruderpaar Agamemnon und Menelaos, denen er Betrug vorwirft, weil sie die Waffen des Achill dem Konkurrenten zugesprochen haben. Am meisten aber richtet er sich gegen Odysseus selbst, für den Aias nur üble Schmähworte findet. Er nennt ihn einen „durchtriebnen Fuchse“ (Aias, 103), „der Heimtücke Hort“ (Aias, 381), um die Redekunst des Odysseus in unmittelbare Nähe zum Betrug zu setzen. Aus seinem Wahn erwacht, malt er sich aus, wie sehr sich Odysseus über seinen Fall freuen wird. „Gewiß verspottet er nun den Umnachteten, der arglist’ge Mann/und lacht im Anblick all dieser wütenden Qual/mit lauter Lache, pfui, pfui,/mit ihm die Könige, beide Söhne des Atreus.“ (Aias, 955–960) Gerade darin aber täuscht er sich. Als Aias sich aus Scham für seine Tat selbst den Tod gibt, steht Odysseus dem Toten bei.

So höre! Bei den Göttern, lasse diesen Mann

nicht so gefühllos unbeerdigt liegen dort!

Und niemals darf die Macht zu solchem Hasse dich

hinreißen, daß du alles Recht mit Füßen trittst.

Auch mir war dieser einst der ärgste Feind im Heer,

seitdem Achilleus’ Waffen ich als Preis errang.

Doch wenn er sich auch so zu mir verhielt, mag ich

ihn doch nicht so entehren, um nicht zu gestehn,

daß ich in ihm den Besten der Argeier nach

Achilleus sah, soviel gen Troja segelten.

Mit Unrecht würde er drum jetzt von dir entehrt.

Nicht ihn verletzt du dann, vielmehr die göttlichen

Gesetze: unrecht ist es, einen tapferen Mann

zu kränken, wenn er starb, war er dir auch verhaßt. (Aias, 1332–1345)

Die Besonnenheit, die Odysseus im Rahmen der Tragödie auszeichnet, offenbart sich anhand des Streites um die Bestattung des toten Helden, der nach seinem Selbstmord entbrennt. Wie Kreon in der Antigone, so verhängt auch Menelaos ein Bestattungsverbot über den Toten, wie Antigone aber stemmt sich mit dem Bruder Teukros die Ordnung der Familie gegen das ungerechte, von persönlicher Rache motivierte Verbot. Endgültig zu eskalieren scheint der Streit, als Agamemnon seinem Bruder zur Seite tritt und das Bestattungsverbot bestätigt. Vor dem sichtbar erstaunten Teukros bleibt es dem klugen Odysseus vorbehalten, den Streit zu schlichten. Das Einlenken des Odysseus ist nicht nur für Teukros selbst, sondern auch für die Atriden überraschend. Nur widerwillig geben sie ihm nach. Gerade darin zeigt sich, dass die Vorwürfe des Aias im Falle des Odysseus unberechtigt sind. Die Besonnenheit, die Odysseus auszeichnet, offenbart sich in der Tatsache, dass er im Unterschied zu Aias wie zu den Atriden über persönliche Motive hinwegsieht. Nicht nur erkennt Odysseus den Toten als den besten Krieger nach Achill an, um damit den Ausgang des Streits um die Waffen zu revidieren. Mit seiner klugen Rede rechtfertigt er zugleich die Auszeichnung, die er von Athene erfahren hat und entscheidet den Streit abermals für sich: Besonnenheit steht höher als Tapferkeit, lautet die Botschaft des Odysseus, die über allen persönlichen Hass fordert, dass die Gesetze der Götter geachtet und der Tote bestattet werden muss. Mit dem salomonischen Lösungsangebot, das die Rede des Odysseus offeriert, verhält sich der Aias vor dem Hintergrund des gemeinsamen Themas des Bestattungsverbots geradezu spiegelverkehrt zur Antigone. Treibt das unbedingte Festhalten an der eigenen Position Antigone wie Kreon in den Untergang, so löst die vermittelnde Kraft des Odysseus den Konflikt auf, indem sie an die Ehre erinnert, die sich Aias vor Troja gesichert habe: „Und jetzt erklär’ ich Teukros, daß in Zukunft ich/genau so Freund bin, wie ich Feind gewesen bin.“ (Aias, 1376–1377) Dass er dem lebenden Aias ein Feind war, will Odysseus nicht verleugnen. Dass er dem toten Aias ein Freund sein will, weist jedoch darauf hin, dass die archaischen Gesetze, die das Epos schilderte, von der politischen Kunst der Tragödie tendenziell überwunden werden. In Sophokles’ Aias erkennt Christian Meier daher „eine neue Stufe diesseits des Archaischen, die Stufe einer sich ihrer Voraussetzungen neu bewußt werdenden Polis“23, für die die Figur des klugen Odysseus einsteht. Wie sich zeigen wird, bleibt das Vertrauen in die vermittelnde Kraft des politischen Denkens jedoch nur von kurzer Dauer. Vom besonnenen Schlichter wandelt sich das Bild des Odysseus in der Tragödie schon bald zu dem des kalt kalkulierenden Betrügers, der die Gesetze der Götter und der polis nur achtet, um sie zu eigenen Zwecken zu missbrauchen.

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