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Verstellung und Scham

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Der Zusammenhang von Verstellung und Maske, den Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne anspricht, steht im Werk Nietzsches zugleich im Kontext der Scham.27 Korrespondiert der christlichen Gewissenskultur der Begriff der Schuld, so entspricht der Kunst der Verstellung das Gefühl der Scham. In dem Maße, in dem sich Nietzsches Kritik der christlichen Kultur vom Pathos des Mitleids zu emanzipieren sucht, orientiert sich die neue Philosophie Jenseits von Gut und Böse nicht mehr am Gewissen, sondern am Phänomen der Scham. In Nietzsches Philosophie vertritt das Schamgefühl daher die Zusammenhänge, die in der christlichen Kultur durch Gewissen und Mitleid verkörpert werden. Lessings Formel vom mitleidigsten als dem besten Menschen ließe sich mit Nietzsche in die vom schamvollsten als dem besten Menschen übersetzen. Am deutlichsten wird die Bedeutung der Scham für Nietzsche in der Abfolge dreier Aphorismen aus der Fröhlichen Wissenschaft:

273.

Wen nennst du schlecht? – Den, der immer beschämen will.“

274.

Was ist dir das Menschlichste? Jemandem Scham ersparen.

275.

Was ist das Siegel der erreichten Freiheit? – Sich nicht mehr vor sich selber schämen. (KSA 3, 519)

Als Frage- und Antwortspiel vollziehen Nietzsches Aphorismen ein Selbstgespräch nach, das der Vergewisserung einer moralischen Maxime dient, der auch der Immoralist folgen kann. Dass der, der beschämt, schlecht ist, verweist auf die Demütigung, die eng mit der Scham zusammenhängt. „Scham aber empfindet man dann, wenn man solches, was zu Verlust der Ehre und zur Verhöhnung führt, erlitten hat bzw. erleidet oder erleiden wird“28, hält schon Aristoteles in der Rhetorik fest. In einer Umwertung der aristotelischen Auffassung denkt Nietzsche die Scham ausgehend von dem, der beschämt, nicht von dem, der beschämt wird. Das Schamgefühl, nicht die Scham steht im Zentrum seiner Überlegungen. Im moralischen Sinne schlecht ist demzufolge derjenige, der andere demütigt, ihnen die Ehre nimmt und sie in ihrer Selbstachtung verkleinert. Den Menschen symbolisch zu erniedrigen, wie es in der Beschämung geschieht, ist dem Philosophen auf der Suche nach dem Übermenschen das Unmenschlichste. Humanes Handeln beruht für Nietzsche dagegen darauf, Scham zu ersparen, um den Wert des Menschen anzuerkennen, ohne ihn zu verkleinern. Ist das Mitleid nach Nietzsche eine Form der Identifikation, die nur im Eingeständnis der gemeinsamen Schwäche geschieht, so verkörpert das Schamgefühl eine moralische Regung, die über Schwächen hinwegsieht und dem Menschen zu der ihm eigenen Größe verhilft. Sich nicht mehr vor sich selber schämen zu müssen, erscheint Nietzsche daher als Zeichen von Freiheit und menschlicher Größe: Freiheit von Gewissen und Ressentiment und Anerkennung der Größe, die dem Menschen zukommt, wenn er sich von den Hoffnungen auf ein anderes Leben losgemacht hat. Für Nietzsche ist die Scham ein zentraler Affekt, weil er in ihr das Menschenbild erkennt, das er im Christentum vermisst. Lastet die innere Stimme des Gewissens auf den Menschen, indem sie ihn beständig herunterdrückt und kleiner macht, so bedeutet das Schamgefühl eine symbolische Selbsterhöhung des Menschen, die zum Übermenschen führt. Einen positiven Begriff der Scham entwickelt Nietzsche, da er in ihr eine Form der List erkennt, die darin besteht, dass der moralisch gute Mensch sich verkleinert, um von seiner eigentlichen Größe abzulenken:

die Scham ist erfinderisch. Es sind nicht die schlimmsten Dinge, deren man sich am schlimmsten schämt: es ist nicht nur Arglist hinter einer Maske, – es giebt so viel Güte in der List. Ich könnte mir denken, dass ein Mensch, der etwas Kostbares und Verletzliches zu bergen hätte, grob und rund wie ein grünes altes schwerbeschlagenes Weinfass durch’s Leben rollte: die Feinheit seiner Scham will es so. Einem Menschen, der Tiefe in der Scham hat, begegnen auch seine Schicksale und zarten Entscheidungen auf Wegen, zu denen Wenige je gelangen, und um deren Vorhandensein seine Nächsten und Vertrautesten nicht wissen dürfen: seine Lebensgefahr verbirgt sich ihren Augen und ebenso seine wieder eroberte Lebens-Sicherheit. Ein solcher Verborgener, der aus Instinkt das Reden zum Schweigen und Verschweigen braucht und unerschöpflich ist in der Ausflucht vor Mittheilung, will es und fördert es, dass eine Maske von ihm an seiner Statt in den Herzen und Köpfen seiner Freunde herum wandelt; und gesetzt, er will es nicht, so werden ihm eines Tages die Augen darüber aufgehn, dass es trotzdem dort eine Maske von ihm giebt, – und dass es gut so ist. Jeder tiefe Geist braucht eine Maske: mehr noch, um jeden tiefen Geist wächst fortwährend eine Maske, Dank der beständig falschen, nämlich flachen Auslegung jedes Wortes, jedes Schrittes, jedes Lebens-Zeichens, das er giebt. (KSA 5, 58)

Nietzsche denkt Schamgefühl und Verstellung zusammen. Der Regelfall ist ihm nicht der Zwang, eine Schwäche zu verdecken, sondern der, eine Stärke zu verbergen. Das Schamgefühl ruht auf der Verstellung, weil moralische Größe in einer Form der Selbstverleugnung besteht, die ein Maskenspiel notwendig macht, das den Gegensatz von Tiefe und Oberfläche neu definiert: „Alles, was tief ist, liebt die Maske; die allertiefsten Dinge haben sogar einen Hass auf Bild und Gleichniss. Sollte nicht erst der Gegensatz die rechte Verkleidung sein, in der die Scham eines Gottes einhergienge?“ (KSA 5, 57). Die Maske verkörpert die Verbindung zwischen Schamgefühl und Verstellung. Was Nietzsche als Philosoph des Maskenspiels einfordert, ist ein Ethos des Sichverbergens, das der christlichen Forderung entrinnt, das Ich müsse durch die Instanz des Gewissens mit sich identisch werden: „Flieht in’s Verborgene! Und habt eure Maske und Feinheit, dass man euch verwechsele!“ (KSA 5, 42) Sich verwechseln lassen wird zum Gebot wahrer Größe. Die Phantasie, als unerkannter Gott unter den Menschen zu wandeln, die noch Nietzsches letzte Briefe leitet, lässt das Phänomen der Scham in einen engen Zusammenhang zu dem des Geheimnisses treten:

Scham. – Die Scham existirt überall, wo es ein ‚Mysterium‘ giebt; dies aber ist ein religiöser Begriff, welcher in der älteren Zeit der menschlichen Cultur einen grossen Umfang hatte. Ueberall gab es umgränzte Gebiete, zu welchen das göttliche Recht den Zutritt versagte, ausser unter bestimmten Bedingungen: zu allererst ganz räumlich, insofern gewisse Stätten vom Fusse der Uneingeweihten nicht zu betreten waren und in deren Nähe Diese Schauder und Angst empfanden. (KSA 2, 97)

Nietzsche führt das Schamgefühl auf religiöse Ursprünge zurück, um einen sakralen Raum zu errichten, dessen Entweihung Scham bedeutet: „Bei aller Scham ist ein Mysterium, welches durch uns entweiht oder in der Gefahr der Entweihung zu sein scheint; alle Gnade erzeugt Scham.“ (KSA 2, 583) Keine Scham mehr zu empfinden, bedeutet daher, keine Entweihung am Heiligtum mehr vorzunehmen, weil man selbst zum Gott geworden ist. „Wer zu ihm sagt, ‚du hast es verdient‘, scheint ihm zuzurufen ‚du bist kein Mensch, sondern ein Gott‘.“ (KSA 2, 583). Nietzsches Theorie der Scham kulminiert in der Idee des Schenkenden, der eine List gebrauchen muss, um die von ihm Beschenkten nicht zu beschämen.

Scham des Schenkenden. – Es ist so ungrossmüthig, immer den Gebenden und Schenkenden zu machen und dabei sein Gesicht zu zeigen! Aber geben und schenken und seinen Namen und seine Gunst verhehlen! Oder keinen Namen haben, wie die Natur, in der uns eben Diess mehr als Alles erquickt, hier endlich einmal nicht mehr einem Schenkenden und Gebenden, nicht mehr einem ‚gnädigen Gesichte‘ zu begegnen! – Freilich, ihr verscherzt euch auch diese Erquickung, denn ihr habt einen Gott in diese Natur gesteckt – und nun ist wieder Alles unfrei und beklommen! Wie? Niemals mit sich allein sein dürfen? Nie mehr unbewacht, unbehütet, ungegängelt, unbeschenkt? Wenn immer ein Anderer um uns ist, so ist das Beste von Muth und Güte in der Welt unmöglich gemacht. Möchte man nicht gegen diese Zudringlichkeit des Himmels, gegen diesen unvermeidlichen übernatürlichen Nachbar ganz des Teufels werden! – Aber es ist nicht nöthig, es war ja nur ein Traum! Wachen wir auf! (KSA 3, 279)

Was die Scham des Schenkenden bedeutet, entwickelt Nietzsche im Zarathustra einleitend am Beispiel der Sonne, die an ihrer Überfülle leidet und daher ihr Licht an die Menschen geben muss.29 In Nietzsches Dialektik von Geben und Nehmen ist es der Gebende, nicht der Nehmende, dem die Beschämung droht. Sowohl der Schenkende als auch der Beschenkte sind daher zur Verstellung verpflichtet: Der Schenkende, indem er die Größe seiner Gabe nicht zu erkennen gibt, der Beschenkte, indem er nicht erkennen lässt, dass er um den wahren Wert des Geschenks – in der Begrifflichkeit des Zarathustra das Heraufkommen des Übermenschen als endgültiger Aufhebung der Beschämung des Menschen – weiß. In dieser Logik des Betrugs findet Nietzsches Philosophie der Scham ihre Erfüllung und zugleich ihre Selbstaufhebung in einer Vision, in der zwischen Scham und Gewissen nicht mehr unterschieden werden muss, weil die neue Welt des Übermenschen keinen Platz mehr für sie lässt.

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