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Erstes bis viertes Bändchen
XXI
Ein Sommernachtstraum

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Es war eine Nacht so frisch, als der Tag glühend gewesen. Die Vögel, welche. ohne Zweifel erstickt durch die Hitze des Tages, das Zimmer in ihren grünen Palästen gehütet hatten, fingen an die Stimmen ihrer Herolde hören zu lassen: die Nachtigall, die Grasmücke, das Rothkehlchen, sie befangen die schöne Sommernacht mit den kühlen Lüften, Nachtschmetterlinge so groß, daß sie Vögel zu sein schienen, der Todtenkopf, der Pfauenschwanz, der Sphinx der Papel flatterten geräuschlos um die Bäume mit zahllosen Schwärmen von jenen Käfern welche entartete Söhne der wahren Maikäfer zu sein scheinen und durch den frischen Ostwind in Schwung gebracht, schienen die Blumen der Ebene, auf ihren Stängeln gewiegt, zu Ehren des Gottes zu tanzen, der den Mond und die Sterne, diese sanften, bleichen Sonnen der Finsternis, schuf. Die Klapperrosen verschlangen sich mit den Kornblumen; die Maßlieben reichten den Veilchen die Hand; das Mausöhrchen mit den Goldaugen schaute verliebt den vorbeifließenden Bach an. Vögel, Schmetterlinge Blumen feierten das Fest der Natur.

Ein junger Mann, der im Kornfelde saß oder vielmehr lag. schien, den Kopf auf seine hinter ihm gekreuzten Arme stützend die Augen zum Himmel ausgeschlagen, mit Wonne die unaussprechliche Heiterkeit dieser Sommernacht zu genießen.

Auf der Stirne dieses jungen Mannen waren in Flammenbuchstaben die reinen Entzückungen einer neuen Glückseligkeit geschrieben; man konnte auf seinem Antlitz den noch sichtbaren Spuren der Freuden des vorhergehenden Tages, schon geschwächt, verwischt durch den siegreichen Einfall des gegenwärtigen Tages, folgen. Ein gleichgültiger Vorübergehender hätte allein glauben können, die Runzeln seiner Stirne seien seit Kurzem erst gegraben, wie die Furchen durch den Pflug in einer neu geackerten Erde; ein Beobachter hätte im Gegentheil sehr rasch erkannt, daß in diesen, beim ersten Anblick dürren, Furchen die grünsten, frischesten Gedanken keimten.

Dieser junge Mann war unser Schulmeister.

Oder verbesserte wir und vielmehr sogleich und geben wir ihm nicht mehr diesen Namen, der ein ganzen Gefolge von schmerzlichen Illusionen mit sich führt; nein es war nicht mehr der Schulmeister; nein, es war nicht mehr der Violoncellist, der die Scala seinen ernsten Instruments erweckte und sie zwang, über seine Schmerzen zu seufzen; nein, es war nicht mehr dieser vor den Jahren alte junge Mann, den wir so sorgenvoll in der Mitte seiner traurigen Familie gesehen haben; es war der Vogel der Fluren, dem das Glück im Vorübergehen seinen Käfig geöffnet hatte, und der in der balsamischen Abendluft die kaum erschlossenen Früchte seiner Freiheit genoß.

Es war mit einem Worte derjenige, welchen wir noch im vorletzten Kapitel den unglücklichen Justin nannten.

Begrüßen Sie ihn, liebe Leser und befreundete Leserinnen, denn er hatte große Fortschritte auf der Straße des Glückes gemacht.

Wie ein verspäteter Reisender, hatte er rasch den verlorenen Weg und die verlorene Zeit wieder eingeholt; er hatte laufend die langen Jahre seiner Vereinzelung hinter sich gelassen. – Der Weg ist so kurz vom Unglück zum Glück, daß er in sechs Monaten die Sorgen seines ganzen Lebens hatte vergessen können.

Hatte er plötzlich Glück gemacht? war ein unbekannter Verwandter von fernen Inseln bei ihm angekommen, ausdrücklich, um ihn mein Neffe zu nennen und zu seinem Erben einzusetzen? oder hatte vielmehr die Arbeit, dieser wahre Oheim aus America, der immer mehr gibt, als man erwartet, seine süße Muße geschaffen?

Sollte er nicht an diesem Tage, zu dieser Stunde, – es war ein Donnerstag, Balltag, – sollte er nicht, die Haare herababhängend wie die Zweige einer Weide, sein singendes Instrument zwischen den Knieen, im Orchester der Schenke sitzen, wo wir ihn demüthig um die Stelle des Contrabassisten haben bitten sehen?

Was machte er denn da, im Kornfelde liegend, wie ein Hirte von Virgil, ein Tityrus oder ein Damätas, während ihn seine Pflicht anderswohin rief?

Nein, seine Pflicht rief ihn nicht ins Orchester: seine zwei Zöglinge hatten mit triumphierenden Schritten den Abgrund der Dritten übersprungen; er hatte Lectionen die Hülle und die Fülle, Ersparnisse, um ein Hans zu kaufen, und schon seit drei bis vier Monaten hatte er darauf verzichtet an der übel klingenden Symphonie Theil zu nehmen, zu der ihn die Nothdurft hingetrieben.

Er war da, wo er sein sollte; nirgends wäre er besser gewesen, der Platz, den er am Rande des Feldes einnahm, den Kopf im Getreide, die Füße gegen die Straße hin abhängend, beim Mondscheine in einer schönen Sommernacht; dieser Platz war der welchen fünf Jahre vorher die Kleine einnahm, die auf eine zauberhafte Art das dürftige Haus des Faubourg Saint-Jacques verwandelt und, eine unschuldige Medea, unsern Helden verjüngt hatte; es war der Jahrestag ihres Zusammentreffens mit Justin, und er dankte in diesem Augenblick Gott für den wunderbaren Schatz, den er ihm geschickt.

Man war im Monat Juni des Jahres 1826; das Mädchen war eine große, schlanke Jungfrau geworden.

Das Kind hatte sein fünfzehntes Jahr erreicht.

Es war eine schöne Undine, denen ähnlich, welche sich in den Bächen spiegeln, deren leichte Cascaden vom Taunus herabfallen und sich in den Rhein werfen. Sie hatte lange Haare, blond wie das Gold der Aehren, Augen azurblau wie die Kornblumen, unter denen man sie liegend gefunden, Wangen roth wie die beim jungfräulichen Athem, der ihrem Munde entströmte, über ihrem Kopfe zitternden Klapperrosen.

Man hätte glauben sollen, sie sei aus allen Blumen der Felder gemacht, wo sie fünf Jahre vorher die Nacht zugebracht; es war ein lebendiger Blumenstrauß, rosig und frisch.

Justin seinerseits war fast schön geworden; wir sagten schön,er habe wenig hierfür zu thun gehabt; er brauchte nur denselben Weg zu gehen wie das Glück.

Das Bewußtsein seiner Glückseligkeit benahm seinem traurigen Gesichte die finstere Miene, die man sonst gewöhnlich an ihm fand, und sein Antlitz hatte nichts mehr von seiner Physiognomie der Unglückstage behalten, als seine Sanftheit und seine Würde.

Er hatte sich eines Tags im Spiegel betrachtet und nicht wiedererkannt; er war roth geworden, da er sich schön gefunden, und seit dieser Zeit, denn er begriff, daß er schön wurde, weil Man schön war, hatte er eine Sorgfalt auf seine Person verwendet, die ihm bis dahin fremd gewesen.

Und man mußte sich auch verschönern nur bei der Berührung dieses anbetungswürdigen Geschöpfes.

Gingen sie mit einander auf der Ebene von Montrouge, spazieren, so war es ein herrliches Paar: er blond, sie blond; sie rosenfarbig, er weiß; der Arm des Mädchens wie eine Liane um den Arm des jungen Mannes geschlungen, ihr Kopf beinahe seine Schulter berührend, als hätte sie sich eine Stütze daraus machen wollen, das war eine köstliche Harmonie, ein reizendes Duo!

Man sah sie vorübergehen, – die guten Herzen, wohl verstanden, – mit dem innigen Vergnügen, das man empfindet, wenn man mit dem Blicke berühmten oder glücklichen Leuten folgt; diejenigen. welche sie für den Bruder und die Schwester hielten, bewunderten sie; diejenigen, welche sie für Brautleute hielten, beneideten sie.

Sie sahen Beide so gut, so freudig, so jung aus! Justin, seitdem er glücklich war, schien kaum fünfundzwanzig Jahre alt zu sein; seine Jugend, die er so wenig benützt, so schlecht genossen, kehrte in dem Alter, wo er sie verlassen, das heißt, beinahe im Kindesalter, zu ihm zurück. Alle kleine Knaben liefen auf Mina zu, alle kleine Mädchen liefen auf Justin zu, alle arme Leute streckten ohne Unterschied gegen den Einen oder die Andere die Hand aus.

Wir habest in allen Einzelheiten erzählt, wie Mina vom Kinde Mädchen gewordene wie Justin von unglücklich wieder glücklich geworden; folgen wir Beiden in ihrem neuen Leben.

Die Erziehung des Kindes ist gemacht: Musik, Zeichnen, Geschichte, alte Literatur, neue Literatur, man hat sie Alles gelehrt; sie hat Alles behalten. Es ist eine junge Person voll Distinction, deren moralischer Sinn herangewachsen ist in der fruchtbaren Erde, die man die Familie nennt; ihre Neigungen sind einfach wie ihre Kleider; ihr Sonntagskleid ist das Symbol ihrer Seele: sie hat die unbefleckte Weiße davon, und bis jetzt verschlossen für die Begierden, wie der Kelch einer Blume, wartet sie um sich zu öffnen, auf die Sonne der Mädchen, die man die Liebe nennt.

Es war eine keusche Seele in einem jungfräulichen Körper.

Im Herzen von Justin hat sich, wie in einer guten Erde, die man noch nie besser, eine junge und kräftige Liebe, welche ihre Aeste schon bis zum Himmel erhebt, erschlossen.

Wie bemerkte Justin, daß er verliebt war?

Durch ein Leiden, – ein Leiden, das um so schärfer, als er des Leidens entwöhnt.

Der Donnerstag des Fronleichnamsfestes war verlaufen. Zu jener Zeit. wo die Menschen Gott noch ein Fest zu haben erlaubten, waren mehrere Straßen von Paris, besonders aber die der großen Vorstädte, mit Blumen bestreut und glichen unter den Füßen des Priesters, der das heilige Sacrament trug, ausgebreiteten Teppichen; dabei waren die Wände mit Tüchern oder Tapetenwerk behängt, der Weihrauch verbreitete seine Wohlgerüche. die Rosenblätter flogen mit vollen Händen ausgeworfen in der Luft, man läutete mit allen Glocken in den verschiedenen Kirchen. Es war ein entzückendes Schauspiel unter dem strahlenden Himmel, den Theorien der Griechen ähnlich, die Mädchen mit weißem Schleier, die der Procession der Geistlichkeit folgten, vorüberziehen zu sehen. Damals. wo die Regierung die Studenten nicht in die Provinzschulen gepfercht hatte, fanden sich noch aus den Dächern der Vorstädte, wie Schwalbennester, Schwärme von jungen Leuten, die sich aus den Fenstern ihrer Mansarden neigten, um die keusche weiße Herde defilieren zu sehen.

Mina gehörte zum Zuge; bei den Gittern des Val-de-Grace angelehnt, erwartete sie Justin im Vorübergehen.

Der Zug kam an

Justin entdeckte bald die Jungfrau, welche, wie die höchste und schönste Blume eines Straußes, mit dem Kopfe alle ihre Gefährtinnen beherrschte.

Er hatte keine andere Absicht, kein anderes Verlangen, als sie vorüberkommen zu sehen; doch er schlug, als wäre er verhängnisvoller Weise nach dieser Seite gezogen worden, die Augen auf und sah an einem Fenster einen jungen Mann, dessen glühende Augen über diesem ganzen Schwarme von Schwänen strahlten.

Schaute dieser junge Mann die Eine oder die Andere an? Justin schien es, er sei nur wegen Mina hierher gekommen und schaue nur Mina an. Eine Röthe . . . nein, eine Flamme stieg Justin zu Gesichte. Und von diesem Augenblick an sah der arme Schulmeister klar in seinem Innern.

Eine Schlange hatte ihm ins Herz gebissen; – besser noch: in das Herz seines Herzens, wie Hamlet sagt.

Er war eifersüchtig.

Justin verbarg sein Gesicht in seinen Händen, als hätte das Mädchen, an ihm vorbeiziehend und die Röthe seines Gesichtes wahrnehmend, die Ursache hiervon begreifen müssen.

Nach Hause zurückgekehrt, schloß er sich in sein Zimmer ein, und er blieb zwei ganze Stunden allein, um sich zu befragen.

Wenn nach diesen zwei Stunden die Liebe, die er für das Mädchen hegte, ihm noch nicht völlig geoffenbart war, wenn er noch zögerte, das Gefühl seines Herzens zu nennen, so sollte bald eine Revolution in ihm vorgehen, die ihm jeden Zweifel, benehmen mußte.

Am Abend, gegen zehn Uhr nachdem sie die letzten Geschäfte des Hauses besorgt, ging Mina, wie gewöhnlich, hinab, um Justin gute Nacht zu sagen, und ihm die Stirne zum brüderlichen Kusse zu reichen.

An diesem Abend, als Mina in das Zimmer eintrat, durchlief ein Schauer den jungen Mann vom Scheitel bis zu den Zehen, und eine Flamme zog über sein Gesicht, der ähnlich. welche über die Stirne von Mina an dem Tage lief, wo Justin sie mit dem Bogen in der Hand überraschte.

Er küßte sie auf die Stirne; doch indem er sie küßte. wurde er bleich, bleich wie Mina an dem Tage, wo sie ihr Lied in dem dunklen Hofe sang und, von Céleste überrascht, eine Profanation der ähnlich, welche man begeht, wenn man laut in einer Kirche spricht, begangen zu haben glaubte.

Der Kuß, den er ihr gab, dünkte ihm gottlos, unerlaubt, voll Begehrlichkeit; er wich mit Schrecken zurück, warf den Stuhl um und wäre beinahe zu Boden gefallen, als das Mädchen, das ihn mit ängstlichen Augen anschaute, zu ihm sagte:

»Ach! wie bleich bist Du heute Abend. Bruder Justin! Was hast Du denn? solltest Du krank sein?«

Oh! ja. er war sehr krank, der arme Justin!

Er war von einer tödtlichen Liebe im Herzen getroffen.

Von diesem Tage des Fronleichnamsfestes an, von dieser Stunde wo er wahrnehmend, daß sich ein kühner Blick auf Mina geheftet, sich eifersüchtig gefühlt hatte, erschien er Jedermann höchst seltsam: er hatte unvorhergesehene Anwandlungen, welche die Familie in Erstaunen setzten, Freuden ohne eine scheinbare Ursache, die sie erschreckten; dann versank er plötzlich wieder in ein finsteres, hartnäckiges Stillschweigen.

Ihm den man nie hatte singen hören, fiel es eines Tags, als er von seinem Zimmer in das seiner Mutter hinaufging, ein. die ganze Tonleiter zu durchlaufen, alle Noten des menschlichen Klaviers in den Wind zu schleudern.

An einem andern Tag sah man ihn, wie ein Schüler in den Ferien, durch die Straßen von Paris Luftsprünge machen.

Endlich schloß er sich ganze Abende in sein Zimmer ein, ohne daß das geringste Geräusch seine Gegenwart verrieth, und schaute man indiskreter Weise durch das Schlüsselloch, so sah man ihn bald unbeweglich sitzen, als ob er versteinert wäre, bald gehen und gestikulieren, als ob er ein Narr wäre.

Diese Symptome und noch viel erschrecklichere wurden von Schwester Céleste und von der Mutter Corby, so blind sie war bemerkt.

Die zwei Frauen gedachten, sich dem alten Professor zu eröffnen, der der Kalchas der zwei einfachen Geschöpfe geblieben, wie er zugleich der Mentor von Justin war.

Herr Müller hatte längst das Geheimnis des jungen Mannes ergattert, und er faßte den Entschluß, mit ihm darüber zu reden.

Sie schloßen sich eines Abends Beide ein, und wie ein alter Arzt, der nicht einmal seinem Kranken den Puls zu fühlen braucht, um die Bedeutung des Uebels zu schätzen, ging der gute Müller gerade auf die Sache los, und er hätte seinen Zögling beinahe zu Boden geworfen, als er, nachdem die Thüre kaum geschlossen war, mit den Worten begann:

»Justin, mein Junge, Du bist wahnsinnig in Mina verliebt!«

Die Mohicaner von Paris

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