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Zweiter Teil
VI.
Das »In pace«

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Es mochte ungefähr halb zwei Uhr Morgens sein, aber die vorgerückte Stunde war für den Kardinal ein weiterer Grund, seine Nachforschungen fortzusetzen. Er fürchtete, für den Fall, dass er bei Tage an den Pforten dieses Klosters erschiene, wo man alle Dirnen aus den unsauberen Orten von Paris verhaftet hielt, man würde das Motiv seines Kommens erfahren, und Die, um derentwillen er kam, verschwinden lassen. Er wusste, welchen Schleier Concini, die Königin-Mutter und D'Epernon über die schreckliche Angelegenheit der Ermordung Heinrichs IV. zu breiten versucht und auch seither wirklich ausgebreitet hatten. Er wusste und wir haben Einiges davon im vorigen Kapitel gesehen, dass hie schriftlichen Beweisstücke verschwunden waren: er fürchtete nun, man werde auch die lebendigen Beweise verschwinden lassen. Latil war nur ein solcher Wegweiser, welchen der Tod jeden Augenblick brechen konnte; er brauchte diese Frau, bei welcher Ravaillac längere Zeit gelebt hatte, und welche wegen ihres Mitwissens an diesem Staatsgeheimnisse gestorben war oder in einem »In pace« verschmachtete, das heißt, in einem jener Gräber, welche von jenen bewunderungswürdigen Marterknechten erfunden worden sind, welche man Mönche nennt, und die es versuchen, ihren Mitmenschen durch physische Leiden das zurückzuzahlen, was sie sich selbst an physischen und moralischen Martern in einem Alter auferlegten, in welchem sie oft nicht wissen können, ob sie die Kraft haben werden, dieselben zu ertragen.

Es war eine weite Strecke von der Rue de l'Homme Armé, oder vielmehr von der Rue du Plâtre, wo die Sänfte des falschen Kapuziners ihn erwartete, bis zur Rue des Postes, in der das Kloster der Büßerinnen lag, auf demselben Platze, wo seitdem die Madelonettes gestanden haben. Aber der Kardinal verhinderte die Einwendungen, welche die Träger vielleicht machen wollten, indem er jedem derselben zwei silberne Louis in die Hand drückte. Sie schlugen also den kürzesten Weg ein, den sie wählen konnten, und welcher durch die Rue des Billettes, die Rue de la Coutellerie, über die Notre-Dame-Brücke, die kleine Brücke der Rue St. Jacques und die Rue de l'Estrapade führte, durch die man wieder an die Ecke der Rue des Postes gelangte, wo selbst dann an der Ecke der Rue du Chevalier das Kloster der Büßerinnen sich befand.

Als die Sänfte vor der Tür des Klosters hielt, schlug, es auf dem Kirchthurm von St. Jacques zwei Uhr.

Der Kardinal steckte den Kopf durch den Schlag und befahl einem der Träger, heftig zu klingeln.

Der Größere von den Beiden gehorchte.

Nach dem Verlaufe von zehn Minuten, während deren der ungeduldige Kardinal noch zweimal kräftig an der Klingel gezogen hatte, tat sich eine Art von Guckfenster auf, und es erschien der Kopf der Schwester Pförtnerin, welche fragte, was man wolle.

»Sagt, es sei ein Bruder Kapuziner, der vom Pater Josef käme und mit der Oberin über wichtige Dinge zu sprechen hätte.«

Der eine der Träger wiederholte Wort für Wort die Rede des Kardinals.

»Von welchem Pater Josef?« fragte die Pförtnerin.

»Mir scheint, es gäbe bloß einen Pater Josef,« erwiderte eine gebieterische Stimme aus dem Innern der Sänfte, »und das ist der Sekretär des Kardinals!«

Die Stimme hatte einen solchen Ton von Autorität, dass die Pförtnerin keine andere Frage stellte, sondern ihr Guckfenster schloss und verschwand.

Einige Augenblicke später sprangen die beiden Thorflügel auf, die Sänfte wurde unter die Gewölbe des Klosters getragen, und die Tür, die ihr Einlass gewährt hatte, schloss sich hinter ihr.

Die Sänfte wurde niedergestellt und der Mönch stieg aus.

»Die Oberin kommt herab?« fragte er die Pförtnerin.

»Im Augenblicke, wenn jedoch Euer Ehrwürden bloß eine unserer Gefangenen zu sprechen wünschen,« sagte sie, »so wäre es nicht nöthig, die Frau Oberin deshalb zu wecken. Ich habe die Weisung, jedem würdigen Diener Gottes, der Kutte oder Priesterkleid trägt, den Eingang in die Gefängniszellen zu gewähren.«

Das Auge des Kardinals warf einen Blitz.

Was man ihm gesagt hatte, war also wahr: den Unglücklichen, welche man in diesem Kloster einsperrte, damit sie innerhalb seiner Mauern die Reue über ihre begangenen Fehltritte finden sollten, wurde im Gegenteil das Mittel geboten, neue zu begehen.

Die erste Regung des strengen Priesters war gewesen, das Anerbieten der Pförtnerin auszuschlagen, da er jedoch auf diese Weise vielleicht sicherer und rascher an sein Ziel zu gelangen hoffte, sprach er:

»Gut; führt mich also in die Zelle der Frau von Coëtman.«

Die Pförtnerin wich einen Schritt zurück.

»Herr Jesus!« sagte sie, sich bekreuzend, »welch einen Namen hat Euer Ehrwürden da ausgesprochen?«

»Das ist ja wohl der Name einer Eurer Gefangenen, wie mir scheint?«

Die Pförtnerin blieb stumm.

»Ist Die, nach der ich frage, todt?« fragte der Kardinal mit etwas unsicherer Stimme, denn er befürchtete eine bejahende Antwort.

Die Pförtnerin beharrte bei ihrem Stillschweigen.

»Ich frage Euch, ob sie todt oder lebendig ist,« wiederholte der Kardinal mit einem Ausdruck, an dem man das Zittern der Ungeduld zu hören begann.

»Sie ist todt,« sagte eine Stimme aus der Finsternis jenseits des Gitters heraus, durch welches man in das Innere des Klosters gehen musste.

Der Kardinal warf sein scharfes Auge nach der Seite, woher die Stimme kam, und unterschied in der Dunkelheit eine menschliche Gestalt, welche er als die einer zweiten Nonne erkannte.

»Wer seid Ihr,« fragte Richelieu, »das, Ihr so entschieden auf eine Frage antwortet, die nicht an Euch gerichtet ist?«

»Ich bin Die, der es zukommt, auf Fragen dieser Art zu antworten, obwohl ich Niemanden das Recht zuerkenne, sie zu stellen.«

»Und ich, ich bin Der, der sie stellt,« sagte der Kardinal, »und dem man, ob willig oder nicht, antworten muss.«

Er wandte sich nach der Seite der Pförtnerin, die noch immer stumm und regungslos dastand, und sagte:

»Bringt Licht!«

Es war unmöglich, sich im Tone des Sprechenden zu irren; das war die feste und gebieterische Stimme des Mannes, der das Recht hat, zu befehlen.

Auch ging die Pförtnerin, ohne die Bestätigung des Befehls, den sie erhalten, abzuwarten, hinein, und trat alsbald wieder mit einer brennenden Wachskerze hervor.

»Ordre des Kardinals,« sagte der falsche Kapuziner, und zog ans dem Busen ein Papier, welches er entfaltete, und auf dem unter einigen geschriebenen Zeilen ein großes Siegel aus rotem Wachs glänzte.

Und er reichte das Papier der Oberin, die es durch die Stäbe des Eisengitters in Empfang nahm, durch welches auch die Pförtnerin ihr Wachslicht steckte, so dass die Oberin die folgenden Zeilen lesen konnte:

»Auf Befehl des Kardinal-Ministers ist es geboten, im Namen der zeitlichen und der ewigen Gewalt, im Namen des Staates und der Kirche, auf alle Fragen, wie sie auch beschaffen sein und was sie auch betreffen mögen, zu antworten, sobald der Träger dieses sie gestellt, sowie auch Letzteren in Verbindung zu setzen mit jeder Gefangenen, welche er bezeichnen wird.

»Den 13. Dezember im Jahre des Heiles unseres Herrn Jesus Christus 1628.

»Armand, Kardinal Richelieu.«

»Solchem Befehle,« sagte die Oberin, »kann ich mich nur beugen.«

»Wollt daher die Schwester Pförtnerin anweisen, dass sie auf ihr Zimmer gehe und sich daselbst einschließe.«

»Ihr habt gehört, Schwester Perpetua,« sagte die Oberin, »gehorcht!«

Schwester Perpetua setzte ihren Leuchter auf die oberste der Stufen, welche zu dem Gitter führten, trat dann in ihr Zimmer zurück und schloss sich ein.

Der Kardinal seinerseits befahl seinen Trägern, mit ihrer Sänfte sich bis an das Gassenthor zurückzuziehen und sich dort für sein erstes Signal bereit zu halten.

Unterdessen hatte die Oberin das Gitter geöffnet und der Kardinal trat in das Sprachzimmer ein.

»Warum, meine Schwester, sagtet Ihr mir,« sprach er mit strengem Tone, »die Frau von Coëtman sei gestorben, da sie es doch nicht ist?«

»Weil,« entgegnete die Oberin, »weil ich jede Person für todt halte, welche durch einen Urteilsspruch aus der Gesellschaft der Menschen ausgeschieden wurde.«

»Nur Jene,« sagte der Kardinal, »sind ausgeschieden aus der menschlichen Gesellschaft, »über denen sich der Stein des Grabes geschlossen hat.«

»Der Stein des Grabes hat sich über Der geschlossen, nach der Ihr verlangt.«

»Der Stein, der sich über einer lebenden Person schließt, ist nicht der Stein des Grabes; er ist die Tür eines Kerkers und jedes Kerkerthor kann sich öffnen.«

»Selbst dann,« fragte die Oberin, indem sie das Gesicht des Mönches fixierte, »selbst dann, wenn ein Spruch des Parlaments bestimmt hat, dass diese Tür geschlossen bleibe für Zeit und Ewigkeit?«

»Es gibt kein Urteil, welches die Gerechtigkeit nicht revidieren könnte, und ich bin Der, welchen der Herr auf die Erde gesandt hat, um die Richter zu richten.«

»Nur einen Mann gibt es in Frankreich, der also sprechen darf.«

»Den König?« fragte Richelieu.

»Nein, aber Den, der an Rang unter ihm, an Genie über ihm steht. Es ist Monseigneur, der Kardinal Richelieu. Seid Ihr der Kardinal in Person, so muss ich gehorchen, aber meine Befehle sind so bestimmt, dass ich jedem Anderen widerstehen werde.«

»Nehmt dieses Licht und führet mich zum Grabe der Frau von Coëtman, welches im Hintergrunde des Hofes, in der Ecke links, sich befindet,« gebot ihr der Kardinal.

Und gleichzeitig die Capuze zurückschlagend, enthüllte er jenes Haupt, das unter gewissen Umständen auf Die, welche es sahen, denselben Eindruck machte wie das der Medusa im Altertum.

Die Oberin blieb einen Augenblick unbeweglich: sie war gelähmt, zwar nicht mehr durch ihren Widerstand, aber durchs das Erstaunen; dann bückte sie sich mit jenem passiven Gehorsam, welchen einen Befehl von Richelieu im Allgemeinen Dem auferlegte, an den er gerichtet war, nahm den Leuchter und mit gehobenem Arme voranschreitend sagte sie:

»Folgt mir, Monseigneur.«

Richelieu folgte ihr; sie durchschritten Beide den Hof.

Es war eine ruhige, aber kalte und finstere Nacht. Die Sterne glänzten an einem schwarzen Himmel mit einem Geflimmer, welches das Herannahen von baldigem Winterfrost anzeigt.

Die Kerzenflamme stieg senkrecht gegen den Himmel auf; kein Windhauch bewegte sie.

Im Umkreise des Mönches und der Nonne war ein runder Raum von Licht, der mit ihnen fortschritt, und der Reihe nach die Gegenstände erhellte, denen sie sich näherten, während er die zurückbleibenden im Schatten ließ.

Endlich begann ein rundes Bauwerk in Form eines arabischen Marabuts sichtbar zu werden. Ein viereckiges schwarzes Loch zeigte sich in der Mitte desselben, ungefähr in der Brusthöhe eines Mannes; das war das Fenster. Näher gekommen, gewahrte man, dass das Fenster vergittert war, und die einzelnen Stäbe des Gitters sich einander so sehr näherten, dass man kaum eine Faust durchzwängen konnte,

»Ist es hier?« fragte der Kardinal.

»ES ist hier,« erwiderte die Oberin.

Als man noch näher kam, schien es dem Kardinal, als ob ein fahles Gesicht und zwei bleiche Hände, die ans Gitter gelegt waren, sich davon loslösten und in die innere Finsternis dieser Grabeshöhle zurückwichen.

Der Kardinal trat voranschreitend hinzu, und trotz des ekelerregenden Geruchs, den das Grab aushauchte, legte er das Gesicht an die Stäbe und versuchte, im Innern etwas zu unterscheiden.

Aber die Nacht war darin so tief, dass er nichts sah, als zwei grünliche Lichtpunkte, welche im Finstern wie zwei Augen eines wilden Tieres glänzten.

Er trat einen Schritt zurück, nahm das Licht aus den Händen der Oberin und steckte es durch die Zwischenräume des Gitters in das Innere des Raumes hinein.

Die Luft darin war jedoch so memphitisch, so dicht und so geschwängert mit Miasmen, dass die Flamme des Wachslichtes, als es hineingesteckt ward, erblich, abnahm und dem Auslöschen nahe war.

Der Kardinal zog es zurück und draußen erst brannte es wieder hell.

Da zündete der Kardinal, sowohl um die Luft innen etwas zu verbessern, als auch um dieses Grab zu erleuchten, das Papier an, welches die von ihm gefertigte und besiegelte Ordre enthielt, und das ihm nun, nachdem er sich zu erkennen gegeben, nicht mehr nöthig war. und warf es flammend in das Gemach.

Trotz der Dichtheit der Luft verbreitete sich dadurch eine Helle, groß genug, um dem Kardinal an der Wand, gegenüber der Tür, eine zusammengekauerte Gestalt zu zeigen, mit den Ellbogen auf den Knien, das Kinn auf ihren zwei Fäusten, vollkommen nackt, bis auf einen Lappen von Kleidung, der sie vom Gürtel bis zu den Knien bedeckte; ihr Haar fiel auf die Schultern herab und fegte mit seinen Enden die feuchten Bretter des Fußbodens.

Die Gestalt war fahl, ekelhaft, schlotternd; sie betrachtete mit hohlen, stieren, fast wahnwitzigen Augen diesen Mönch, der sie in ihrer Nacht aufsuchte.

Regelmäßiges Stöhnen wand sich bei jedem Atemzuge aus ihrer Brust hervor, schaurig wie das Geröchel der Sterbenden. Das Leiden war so lang und so ausdauernd gewesen, dass die Klage darob regelmäßig geworden war, ein eintöniges, schmerzliches Röcheln.

Der Kardinal, obgleich wenig gefühlvoll für den Schmerz eines Anderen, ja sogar für seinen eigenen, schauderte bei diesem Anblicke vom Kopfe bis zu den Füßen und warf einen drohenden, vorwurfsvollen Blick auf die Oberin, welche murmelte:

»Das war der Befehl.«

»Wessen Befehl?« fragte der Cardin«!.

»Der des Urteilsspruches.«

»Wie lautet dieser Spruch?«

»Er lautet: Jacqueline Levoyer, genannt Marquise Coëtman, Frau des Isaac von Barenne, soll in ein Gemach von Stein eingesperrt werden, welches über ihr verschlossen sei, damit Niemand eindringen könne, und ihre Nahrung soll nur Wasser und Brot sein.«

Der Kardinal fuhr mit der Hand über die Stirn.

Dann näherte er sich der vergitterten Öffnung, folglich auch der Höhle, in der es neuerdings Nacht geworden war, und sprach, die Stimme dahin richtend, wo er die bleiche Gestalt gesehen hatte:

»Seid Ihr es, Jacqueline Levoyer, Frau von Coëtman?«

»Brot! Feuer! Kleider!« erwiderte die Gefangene.

»Ich frage Euch,« wiederholte der Kardinal, »ob Ihr Jacqueline Levoyer seid, die Frau von Coëtman?«

»Mich friert! Mich hungert!« erwiderte die Stimme mit schmerzlichem Schluchzen.

»Antwortet erst aus meine Frage,« drängte der Kardinal.

»O, wenn ich Euch sage, dass ich Die bin, die Ihr genannt habt, werdet Ihr mich Hungers sterben lassen. Schon seit zwei Tagen vergisst man mich hier trotz meines Wehgeschreis,«

Der Kardinal warf einen zweiten Blick auf die Oberin.

»Der Befehl, der Befehl!« murmelte diese.

»Der Befehl war, sie mit Wasser und Brot zu ernähren, nicht aber, sie verhungern zu lassen.«

»Warum beharrt sie dabei, am Leben zu bleiben?« fragte die Oberin.

Der Kardinal fühlte etwas wie einen Fluch auf seine Lippen steigen.

Er bekreuzte sich.

»Gut,« sagte er zu ihr, »Ihr werdet mir sagen, von wem der Befehl gegeben wurde, sie Hungers sterben zu lassen, oder ich schwöre es bei Gott, Ihr nehmt augenblicklich ihren Platz in jenem Loche ein.«

Dann kehrte er zu der Elenden zurück, welche der Gegenstand des Streites war, und sagte:

»Wenn Ihr mir sagt, dass Ihr wirklich Frau von Coëtman seid, wenn Ihr aufrichtig die Fragen beantwortet, die ich Euch zu stellen habe, so sollt Ihr in einer Stunde Kleider. Feuer und Brot haben.«

»Kleider! Feuer! Brot!« rief die Gefangene, »worauf schwört Ihr das?«

»Auf die fünf Wunden unseres.Herrn.«

»Wer seid Ihr?«

»Ich bin Priester.«

»Dann glaube ich Euch nicht. Es sind die Priester und die Nonnen, die mich seit neun Jahren martern. Lasst mich sterben; ich werde nicht sprechen.«

»Ich war Edelmann, bevor ich Priester wurde,« rief der Kardinal, »und ich schwöre es Euch bei dem Worte eines Edelmannes.«

»Und was geschieht, Eurer Meinung nach, Dem,« fragte die Gefangene, »der diese beiden Eide verletzt?«

»Er verliert seine Ehre in dieser, seine Seligkeit in jener Welt.«

»Wohl an denn, ja!« rief sie, »möge denn kommen, was da wolle, ich werde Alles sagen.«

»Und wenn ich damit, was Ihr mir sagt, zufrieden bin, so sollt Ihr zum Brot, Feuer und den Kleidern auch noch die Freiheit haben.«

»Die Freiheit!« kreischte die Gefangene und stürzte auf die Öffnung los, wo ihre dürre Gestalt sichtbar wurde. »Ja! ich bin Jacqueline Levoyer, Frau von Coëtman; ja, ich werde Alles sagen, Alles, Alles!«

Dann, gleichsam in einem Anfalle närrischer Freude, fuhr sie fort:

»Die Freiheit! Die Freiheit!« Und sie heulte unter krampfhaftem Lachen, einem Lachen, welches schaudern macht, und sie rüttelte an den eisernen Stäben des Gitters mit einer Kraft, welche ihrem gebrechlichen, mageren Körper Niemand zugetraut hätte. – »Die Freiheit! O, Ihr seid also unser Herr Jesus Christus selber, da Ihr zu den Todten sprecht: Erhebet Euch und geht hervor aus Euren Gräbern!«

»Meine Schwester,« sagte der Kardinal und wandte sich zur Oberin, »ich will Alles vergessen, wenn ich innerhalb fünf Minuten die Werkzeuge habe, mit denen man in dieses Grab eine Öffnung machen kann, groß genug, um jener Frau den Durchgang zu gewähren.«

»Folgt mir,« sagte die Oberin,

Der Kardinal machte eine Bewegung.

»Entfernt Euch nicht, entfernt Euch nicht!« rief die Gefangene; »wenn sie Euch mit wegnimmt, könnt Ihr nie mehr zurückkommen, ich werde Euch niemals wiedersehen, der Himmelsstrahl, der in meine Hölle gefallen ist, wird verlöschen und ich muss dann zurücksinken in meine Nacht.«

Der Kardinal streckte seinen Arm aus und sprach:

»Sei ruhig, ärmstes Geschöpf; mit Gottes Hilfe ist dein Märtyrertum seinem Ende nahe.«

Sie aber ergriff mit ihren fleischlosen Händen den Arm des Kardinals, hielt ihn fest zusammengepresst wie in einem doppelten Schraubstock und rief:

»O, ich halte ihn, ich halte Euren Arm. Die erste Menschenhand, die sich mir seit neun Jahren entgegenstreckt. Die anderen alle waren Tigerklauen. Sei gesegnet, o, sei gesegnet, Du Menschenhand!«

Und die Gefangene bedeckte die Hand des Kardinals mit Küssen.

Er hatte nicht den Mut, sie,ihr zu entziehen; er rief daher seine Träger herbei und sagte den Herzueilenden, auf die Oberin deutend:

»Folgt dieser Frau; sie wird Auch die Werkzeuge geben, welche nöthig sind, um dieses Grab zu öffnen. Es trägt Jedem von Euch fünf Pistolen ein.«

Die beiden Männer folgten der Oberin, welche, das Licht in der Hand, sie in eine Art Keller führte, in dem man die Gartengerätschaften aufbewahrte, und von wo sie in fünf Minuten wieder hervorkamen, der Größere eine Axt auf der Schulter, der Kleinere eine Brechstange in der Hand.

Sie pochten an die Wand und begannen an dem Orte, wo sie ihnen weniger dick schien, zu arbeiten.

»Und was soll ich jetzt tun, Monseigneur?« fragte die Oberin.

»Geht, und laßt in Eurem eigenen Zimmer Feuer machen,« gebot der Kardinal, »und bereitet ein Abendessen.«

Die Oberin ging. Der Kardinal konnte ihr mit den Augen folgen, denn sie nahm die brennende Wachskerze mit sich. Er sah sie ins Innere des Klosters eintreten; wahrscheinlich hatte sie nicht einmal dm Gedanken, gegen das Ereignis anzukämpfen, das sich da draußen vollzog. Sie wusste zu gut, dass sie bei der Lage, in der sie sich befand, trotzdem die Macht des Kardinals noch bei weitem nicht ihre höchste Stufe erreicht hatte, von Niemandem, als von ihm Gnade erwarten durfte, denn seine kirchliche Gewalt war zu jener Zeit noch bedeutend größer als seine weltliche. Kraft dieser beiden Gewalten hing das Kloster gänzlich von ihm ab: als Correctionshaus von seiner weltlichen, als Nonnenkloster von seiner geistlichen Macht.

Als die Gefangene den Widerhall der Axtschläge auf dem Steine und das Knirschen der Brechstange hörte, da erst glaubte sie, was ihr der Kardinal gesagt hatte,

»Es ist also wahr! Es ist wahr!« rief sie. »O, wer seid Ihr, damit ich Euch segne, aus dieser und auf jener Welt?«

Aber als sie hörte, dass schon die innersten Steine berührt wurden, als ihre Augen, gewöhnt an die Finsternis, wie die Augen der Nachtraubtiere, bemerkten, wie sich nicht etwa das Licht, sondern die durchscheinendere Finsternis, die draußen herrschte, in ihr Grab hineinstahl, und zwar durch eine andere Öffnung, als durch das vergitterte Loch, welches ihr seit neun Jahren das einzige Licht für ihre Augen, die einzige Luft für ihre Lungen gegeben hatte – da ließ sie die Hand des Kardinals los, stürzte sich auf die Öffnung, und ergriff auf die Gefahr hin, dass ihre Hände von den Axtschlägen zerschmettert werden könnten, die wankenden, Gesteine, schüttelte sie mit aller Macht und strebte sie loszureißen, um auch ihrerseits das Werk der Befreiung zu beschleunigen.

Und bevor noch das Loch groß genug war, um sie hindurchzulassen, steckte sie den Kopf durch und dann die Schultern, unbekümmert darum, dass sie sie zerfleischte, und rief ungeduldig:

»Helft mir, so helft mir doch! Zieht mich doch heraus aus meinem Grabe, meine gesegneten Befreier, meine geliebten Brüder!«

Und als sie sich mit größter Anstrengung schon zur Hälfte herausgewunden hatte, ergriffen die Männer diesen Körper, der an Kälte und Farbe dem Steine glich, aus dem er hervorzuwachsen schien, und zogen ihn an sich.

Die erste Bewegung des armen Geschöpfes, als es draußen war, als es zum ersten Male wieder mit vollen. Zügen die reine Lust geatmet, als es mit einem schmerzlichen Freudenschrei die Arme zu dem Sternenhimmel emporgestreckt hatte, war, dass sie auf die Knie sank und Gott dankte, und dann, als sie zwei Schritte vor sich ihren Retter sah, streckte sie ihm die Arme entgegen und stürzte mit einem Schrei der Dankbarkeit zu ihm hin.

Aber er, ob aus Mitleid für diese halbnackte Frau oder aus Schamgefühl, hatte bereits seine Mönchskutte abgenommen, welche, um schneller an- und ausgezogen zu werden, sich vorne von oben bis unten öffnete, und breitete sie nun über ihre Schultern; wahrend er in den Kleidern blieb, die er darunter getragen hatte, d. h. im vollständigen Cavaliercostüme von schwarzem Samt mit veilchenblauen Bändern.

»Bedeckt Euch mit diesem Gewand, meine Schwester,« sagte er, »so lange, bis die Euch versprochenen Kleider zur Stelle sind.«

Dann als sie vor Gemütsbewegung oder Erschöpfung schwankte, gab er den Trägern eine Börse, die ungefähr doppelt so viel enthalten konnte, als er ihnen versprochen, und sagte:

»Ihr guten Leute, nehmt diese arme Frau, die vor Schwäche nicht gehen kann, in Eure Arme und bringt sie in das Zimmer der Oberin.«

Dann ging er in dieses Zimmer hinauf, in welchem nach dem Befehle, den er der Oberin gegeben, ein großes Feuer im Kamin flackerte und zwei Kerzen auf einem Tische brannten, und sprach zur Oberin:

»Jetzt rasch Papier, Feder, Tinte und dann verlasst uns.«

Die Oberin gehorchte.

Der Kardinal blieb allein und stützte sich auf den Tisch, indem er murmelte:

»Diesmal glaube ich, dass der Geist des Herrn mit mir ist.«

In diesem Momente brachte der größere der beiden Männer auf seinen Armen, wie ein Kind, die Gefangene, die Völlig bewusstlos geworden war, und legte sie, in das Mönchsgewand gehüllt, in einiger Entfernung vom Feuer auf der Stelle nieder, die ihm der Kardinal mit dem Finger bezeichnete.

Dann grüßte er ehrfurchtsvoll, als wenn er, die Größe des Ranges wohl kennend, die Größe der vollbrachten Tat noch hinzurechnete, und ging hinaus.

Der Graf von Moret

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