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In solchen ländlichen Gegenden ist das in der Regel so: Man kommt von einer sehr schmalen Straße auf eine etwas breitere, und wenn man dann großes Glück hat, gelangt man von dieser etwas breiteren Straße auf eine noch breitere, die dann unter Umständen sogar mit Verkehrsschildern ausgestattet ist, sodass man immerhin weiß, ob man auf dem richtigen Weg ist. Ein Navigationssystem ist zwar eine feine Sache, aber nicht immer haben die Anzeigen auf dem Display auch etwas mit der Realität zu tun. Vor allem dann, wenn es um Orte geht, die ungefähr dort liegen, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen.

Und an einer dieser Kreuzungen, an der man von einer winzigen Straße auf eine etwas weniger winzige gelangen kann, hatte sich ein Wagen so hingestellt, dass man unmöglich vorbei konnte.

“Was soll das denn?”, fragte Rudi.

“Vielleicht wieder mal die ganz besonders herzliche Gastfreundschaft gegenüber Fremden, die hier üblich ist”, meinte ich.

“Die kann mir inzwischen gestohlen bleiben!”

“Tja, ich gäbe auch einiges dafür, einen ganz normalen Mord der Libanesen-Mafia im Wedding aufzuklären anstatt ...”

“Ja?”

“... sowas hier!”

“Können wir es uns aussuchen, Harry?”

“Leider nein.”

“Eben!”

Ich betätigte die Hupe.

Zwei Mal.

Aus dem Wagen vor uns stieg eine junge Frau aus. Pferdeschwanz, ein übergroßer Männer-Parka, Jeans, Gummistiefel. So stellte man sich die moderne Landfrau vor.

Ich ließ die Seitenscheibe herunter.

“Sie stehen im Weg”, sagte ich. “Oder vielmehr: Ihr Wagen.”

“Sie sind dieser Kubinke, nicht wahr?”

“Kommissar Kubinke wäre mir auch recht - statt ‘dieser’ Kubinke.”

“Tut mir leid, Herr Kommissar. Ich würde Sie gerne sprechen.”

“Wer sind Sie denn?”

“Mein Name ist Jennifer Möhrke.”

“Das sagt mir jetzt ehrlich gesagt nichts.”

“Ich kenne Devid Dresel. Also eigentlich kennt ihn ja jeder hier. Ich meine ...”

“Sie kennen ihn etwas besser?”

“Ja. Haben Sie einen Moment Zeit?”

“Eigentlich müssen wir dringend nach Dresden. Aber ...” Ich sah auf die Uhr. Wenn sie uns etwas über Devid Dresel sagen konnte, was wir noch nicht wussten, half uns das mutmaßlich weiter. “Okay”, sagte ich schließlich. “Aber wir stehen hier ungünstig.”

“Das macht nichts.”

“Aber hier kann niemand durch.”

“Ich weiß, deswegen habe ich mich ja mit meinem Wagen hier hingestellt, Herr Kubinke.”

“Woher wussten Sie denn, dass wir hier kommen würden?”

“Weil ich von unserem Hof aus beobachtet habe, dass Sie zu der Angeber-Villa vom Grafen fahren. Und da gibt es nur einen Weg hin und wieder zurück.”

“Die Angeber-Villa vom Grafen ...”, echote ich. “Sie meinen ...”

“.... das Anwesen von Herrn von Bleicher, ja.”

“Ich wusste gar nicht, dass er ein richtiger Graf ist.”

“Ist er auch nicht. Aber wir nennen ihn hier so. Angeber-Villa passt auch. Herr Kommissar, Sie können hier wirklich stehen bleiben. Es fährt hier sonst niemand her. Wahrscheinlich die nächsten zwei Stunden auch nicht und ich für mein Teil muss sowieso früher wieder weg, weil dann unsere Kühe dran sind. Mit Melken, meine ich.”

Immerhin war Jennifer Möhrke so freundlich, mir den ungefähren zeitlichen Rahmen zu nennen, den sie offenbar für dieses Gespräch angesetzt hatte. Ich konnte nur hoffen, dass sie nicht die Absicht hatte, diesen zeitlichen Rahmen auch zur Gänze auszunutzen.

Ich nickte Rudi zu.

Im nächsten Moment stiegen wir beide aus.

Es war besser, sich mit Jennifer Möhrke im Freien zu unterhalten, ging es mir durch den Kopf. Besser, als wenn Sie bei uns im Wagen auf der Rückbank Platz genommen hätte. Dann wären wir sie womöglich fürs Erste gar nicht mehr losgeworden.

“So und nun mal raus mit der Sprache, was haben Sie auf dem Herzen”, fragte Rudi.

“Das ist mein Kollege, Kommissar Rudi Meier”, erläuterte ich. “Vom Bundeskriminalamt in Berlin, genauso wie ich.”

Wir zückten unsere Ausweise und hielten sie Jennifer Möhrke gut sichtbar unter die Nase. Das machte für ein paar volle Sekunden sogar einen gewissen Eindruck auf sie, wie mir schien. Aber ich kenn das schon. Solche Effekte sind außerordentlich kurzlebig.

“Ich kenne den Devid - also den Herrn Dresel - recht gut”, begann Sie.

“Haben Sie ein Verhältnis?”, fragte ich.

“Nein. Ich meine, das wäre vielleicht noch gekommen, denke ich.”

“Ich verstehe.”

“Devid ist ein netter Kerl.”

“Den Eindruck hatte ich nicht, als er uns mit seinen bewaffneten Freunden gegenüberstand”, erklärte ich unumwunden. “Verstehen Sie mich dabei nicht Falsch, aber ...”

“Er ist in echten Schwierigkeiten, oder?”

“Ja, das würde ich sagen.”

“Denken Sie, dass er den Fremden umgebracht hat?”

“Mit Fremden meinen Sie jetzt unseren Kollegen Herrn Schmitten?”

“Ja.”

“Ja, das ist durchaus möglich. Er soll sich mit dieser Tat vor anderen gerühmt haben, haben wir gehört. Aber es wundert mich, dass Sie davon wissen!”

Jetzt, so hatte ich das Gefühl, wurde die Sache interessant. Diese junge Frau hatte irgendetwas auf dem Herzen. Da war irgendetwas, was sie loswerden wollte und mutmaßlich mit unserem Fall zu tun hatte. Vielleicht würde das ja doch noch ein ergiebiger Tag ...

“Es wird geredet im Ort”, sagte sie. “Alles spricht sich schnell herum, wenn Sie verstehen, was ich meine.”

“Das heißt, eigentlich weiß jeder davon, dass Devid Dresel behauptet hat, den BKA-Kollegen Schmitten umgebracht zu haben.”

“Das hört sich jetzt so an, als würden wir das billigen oder ...” Sie sprach nicht weiter.

“Hat sich Herr Dresel denn Ihnen gegenüber dazu auch mal geäußert?”, fragte ich. “Ich meine, Sie kennen ihn doch näher, wie Sie sagen, auch wenn Sie sich noch nicht ganz so nahegekommen sind, wie zumindest Sie sich offenbar wünschen.” Aber ich nehme an, nahe genug für eine Unterhaltung war das schon.”

“Wir kennen uns seit der Schule.”

“Ah, ja.”

“Er ist eigentlich ein guter Kerl.”

“Das Wort ‘eigentlich’ klingt in diesem Zusammenhang so, als könnte es auch anders sein. Und dass er eine schwierige Kindheit hatte, kann Entschuldigung sein, um einem BKA-Beamten den Schädel einzuschlagen - immer vorausgesetzt, die diesbezüglichen Mutmaßungen erweisen sich als wahr.”

“Was sich bald herausstellen wird, denn wir warten auf die Ergebnisse der kriminaltechnischen Untersuchung”, ergänzte Rudi.

“Sie haben mir meine Frage noch nicht beantwortet”, sagte ich, nachdem die junge Frau zunächst keine Anstalten machte, noch etwas zu sagen. Sie wirkte plötzlich sehr in sich gekehrt. Fast so, als würde sie ihren Entschluss, sich an uns zu wenden, schon wieder bereuen.

Warum auch immer.

“Hat sich Herr Dresel auch Ihnen gegenüber dazu geäußert, ob er unseren Kollegen Schmitten umgebracht hat?”, wiederholte ich die Frage eindringlich, nachdem ein paar zusätzliche Sekunden verstrichen waren, ohne dass sie etwas gesagt hatte.

“Nein”, sagte sie. “Ich habe halt nur so gehört, was angeblich gesagt worden ist ...”

“Dann hatten Sie in letzter Zeit doch nicht mehr ganz so viel Kontakt. Kann das sein?”

“Ja, das kann sein”, gab sie zu. “Hören Sie, ich weiß nicht, ob Devid sich was hat zu Schulden kommen lassen oder ob er darin verwickelt ist ... Ich weiß nur eins, aus eigenem Antrieb würde der so etwas nie tun! Der ...”

Sie stockte.

“Der ... was?”, hakte ich nach.

“Er ist einer, der leicht zu beeinflussen ist.”

“Und von wem wird Herr Dresel beeinflusst?”

Sie deutete hinüber zum Anwesen von Herrn von Bleicher. “Sie waren doch gerade dort. Hinter jedem Unsinn, den Devid im Kopf hatte, steckte dieser aufgeblasene Kerl. Und weil er Devid geholfen hat, ist Devid so dumm und macht alles für ihn. Mehr sage ich jetzt auch besser nicht ...”

“Doch, jetzt wird es gerade interessant!”

“Ich habe Ihnen schon zu viel gesagt. Unsere ganze Familie kriegt am Ende Ärger deswegen.”

“Ärger? Von wem?”

“Auf Wiedersehen, Herr Kubinke.”

Sie drehte sich um und ging davon. Ihre Gummistiefel schlurften geräuschvoll über den Asphalt. Nicht elegant, nicht damenhaft, aber sehr entschlossen. Und mir war klar, dass es im Moment sinnlos war, sie aufhalten zu wollen. Dazu hatte sie offenbar einfach zu viel Angst.

Sie stieg in ihren Wagen, knallte die Tür auf eine Weise zu, die sehr anschaulich ihre Stimmung illustrierte und fuhr dann mit durchdrehenden Reifen davon.

“Wir hätten vielleicht noch mehr von ihr erfahren können”, meinte Rudi.

“Nein, hätten wir nicht”, sagte ich.

“Bist du sicher?”

“Sie ist jetzt schon bis an die Grenze gegangen, Rudi. Vielleicht auch darüber hinaus.”

“Meinst du, dieser Herr von Bleicher organisiert hier die Schlägerbanden?”

“Wäre als Kämmerer zumindest eine effektive Art der Steuereintreibung”, meinte ich.

“Du machst Witze.”

“Natürlich.”

“Wir sollten den Kerl wirklich im Fokus behalten.”

Ich nickte.

“Sollten wir, Rudi.”

Killer-Zimmer: Krimi Koffer mit 1300 Seiten

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