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Das Glöckchen

Alfred Bekker


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Einer der furchtbarsten Schrecken, die der menschliche Geist sich vorzustellen und auszumalen in der Lage ist, ist die Vorstellung, bei lebendigem Leib be-graben zu werden. Kaum etwas Grausameres läßt sich denken, als in einem Sarg zu liegen, aus einem Zustand des Scheintodes zu erwachen und dann zu gewahren, daß man ohne die geringste Chance ist, aus seinem Grab wieder herauszukommen.

Was auch immer man versucht, es bleibt sinnlos. Kein rufen oder klopfen, kein noch so verzweifelter Schrei kann durch anderthalb Meter Erde dringen.

In Wien war es daher früher üblich, den Verstorbenen gegen dieses Risiko durch ein Glöckchen abzusichern, das mit Hilfe einer Schnur, die über verschiedene Winden von der Wohnung des Friedhofswärters bis in den Sarg hinein verlegt wurde. Im Sarg befand sich dann ein Griff, an dem ein lebendig Begra-bener nur zu ziehen brauchte, um damit in der Wohnung des Friedhofswärters ein Klingeln auszulösen. Dieser war verpflichtet, nach einer Beerdigung für den Fall der Fälle in Hörweite des Glöckchens zu bleiben. So war es auch an diesem Tag. Der Friedhofswärter setzte sich bequem in einen Sessel und las in einer Zeitung. Seit drei Jahren machte er seinen Beruf nun schon und die Pflicht, nach einer Beerdigung in Hörweite des Glöckchens zu verweilen hatte er immer weniger ernstgenommen. Bislang hatte er nicht erlebt, daß es je betätigt wor-den wäre und die einzigen Berichte über solche Vorfälle fielen noch in die Amtszeit des Vorgängers seines Vorgängers. Der Friedhofswächter war ein nüch-terner Mann, der solche Geschichten in das Reich der Fabel verbannte. Tot war tot. Und das ein Arzt irrtümlich einen Totenschein ausstelle, hielt er zwar für möglich, aber für äußerst unwahrscheinlich. Er war wohl etwas über der Lektüre seiner Zeitung eingenickt und in einen leichten Schlummer gefallen, da ließ ihn auf einmal ein Geräusch aufschrecken, das ihm das Blut in den Adern gefror. Er war sofort wach, saß aber noch einige Sekunden wie erstarrt in seinem Sessel. Sein Blick ging zu dem Glöckchen an der Wand und dabei überzog eine Gänsehaut seinen ganzen Körper. Das Glöckchen bewegte sich und gab seinen charakteristischen Klang von sich. Der Friedhofswärter sprang auf und lief zum Telefon, während das Glöckchen erneut läutete. Als erstes verständigte er den Arzt, dann rief er seinen Gehilfen an, der längst Feierabend hatte. "Wir müssen den Toten von heute Morgen wieder ausgraben, Willy!"

"Das ist nicht dein Ernst!"

"Doch, das ist es! Das Glöckchen hat geläutet. Der Mann lebt. Also beeil dich!" Der Friedhofswärter knallte den Hörer auf die Gabel und rannte hinaus.

Auf dem Weg zur Grabstelle ergriff er eine herumstehende Schaufel und nahm sie mit sich. Kaum hatte er das Grab erreicht, fing er an zu graben. Fieberhafte Eile hatte ihn dabei ergriffen. Nicht auszudenken, wenn der arme Kerl da unten erstickte, bevor der Kubikmeter Erde wieder abgetragen war!

Fünf Minuten später tauchte Willy auf. "Was werden die armen Erben sagen!"

feixte er, aber der Friedhofwärter fand das gar nicht witzig.

"Pack lieber mit an, Willy!"

"Meine Güte! Verstehst du keinen Spaß mehr?" Sie gruben schweigend. Die Erde war noch locker und so kamen sie schnell vorwärts. Der Arzt kam und faßte auch noch mit zu. Und dann war es soweit. Sie öffneten den Sarg. Der Arzt beugte sich nieder, während der Friedhofswärter und sein Gehilfe wie gebannt daneben standen. Dann erhob der Arzt sich wieder und schüttelte den Kopf. Er wandte sich an den Friedhofswärter und stellte sachlich fest: "Sie müssen sich geirrt haben!" - "Aber... das Glöckchen!"

"Dieser Mann kann nicht daran gezogen haben! Er ist nämlich unzweifelhaft tot." Der Arzt atmete tief durch und kletterte aus dem Grab heraus. Willy half ihm dabei. "Ich verstehe das nicht", murmelte der Friedhofswärter. "Er hat an der Schnur gezogen und das Glöckchen betätigt!"

"Sie sehen blaß aus", meinte der Arzt. "Vielleicht sind Sie überanstrengt und brauchen Urlaub... Wenn Sie wollen, schreibe ich Ihnen ein Attest!"

"Ich weiß, was ich gehört habe!"

"Und ich weiß, daß der Mann in dem Grab dort mausetot ist!"

Der Friedhofswärter atmete tief durch. Er blickte ins Grab hinab zu dem Leichnam, der tatsächlich einen sehr toten Eindruck machte und nickte schließlich. "Gut, Doktor. Ich habe nur meine Pflicht getan."

"Das weiß ich doch!" Der Doktor verabschiedete sich und Willy wollte auch gehen. "Es hat doch sicher Zeit bis morgen früh, ihn wieder einzubuddeln!"

meinte er. Der Friedhofswärter zuckte die Achseln und knurrte: "Meinetwegen!"

Dann kletterte er hinab ins Grab und klappte den Sarg zu. Bevor er ging, zögerte er einen Moment, dann brachte er doch noch den Mechanismus mit dem Glöckchen wieder in einen benutzungsfertigen Zustand. Eigentlich war es überflüssig, denn schließlich hatte sich ja gerade noch ein Arzt davon überzeugt, daß der Verstorbene endgültig verblichen war. Aber der Friedhofswärter war ein Mann, der großen Respekt vor den letzten Wünschen der Toten hatte.

Er war kaum in seiner Wohnung angelangt und dachte daran, sich ein Spiegelei in die Pfanne zu hauen, da ließ ihn erneut der Klang des Glöckchens erstarren.

Ganz deutlich war es zu hören. Wie gebannt ging er auf das Glöckchen zu und faßte es mit den Händen. Das Geräusch verstummte und er spürte den physischen Widerstand. Nein, das konnte keine Sinnestäuschung und auch nicht das Ergebnis überreizter Nerven sein. Er fühlte das Herz bis zum Hals schlagen. Dann rannte er hinaus in Richtung Grab. Er stieg hinab und riß den Sargdeckel auf. Der Tote hatte das Seil in der Hand, mit dem die Glocke gezogen wurde. Aber er war noch genauso starr und tot wie zuvor.

Als der Friedhofswärter dann zu seiner Wohnung zurückging, wußte er nicht mehr, woran er glauben und was er für wahr halten sollte. Dann blieb er plötzlich wie angewurzelt stehen. Sein Blick erfaßte einen großen, dunklen Vogel, der herangeflogen kam. Der Vogel hatte einen Zweig im Schnabel. Nur einen Augenaufschlag später ließ er sich an einer bestimmten Stelle auf dem Dach nieder, genau dort, wo das Seil hergeführt wurde, daß den Toten mit dem Glöckchen verband. Und das Glöckchen klingelte immer wieder, bis der Vogel endlich den Zweig in sein halbfertiges Nest eingebaut hatte und erneut losflog, um Baumaterial zu holen.

Heiter und unterhaltsam in die Weihnachtszeit: 2 Romane und 66 Kurzgeschichten

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