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Der Urahn

Alfred Bekker


Das Camp lag irgendwo in der Kreide-Zeit, ca. 70 Millionen Jahre in der Vergangenheit. Um eine Zeit auf hunderttausend Jahre genau treffen zu können, waren die Zeitmaschinen ein-fach noch nicht gut genug. Aber das spielte bei den in den letzten Jahren in Mode gekommenen Reisen ins Erdmittelalter auch kaum eine Rolle. Die Leute wollten einmal in ihrem Leben den Tyrannosaurus Rex in natura gesehen haben, um all denen davon erzählen zu können, die sich eine solche Saurier-Safari nicht leisten konnten.Dann waren sie zufrieden.

*


Am Horizont zog ein Flugsaurier ruhig seine Kreise. Ein lauer Wind bog die Farne nach Westen. Es herrschte Stille.

"Was machst du hier?" fragte der große, breitschultrige Mann dessen Hemd das Emblem der Reisegesellschaft trug.

Der Junge fuhr zusammen. Er wußte, daß der Mann Bender hieß und es hier im Camp zu sagen hatte.

"Nichts", sagte der Junge schuldbewußt.

"Es ist nicht gestattet, sich so weit vom Camp zu entfer-nen, Junge. Das müßtest du doch wissen!" knurrte Bender.

Dann ließ eine Bewegung sie beide herumfahren Eine Katze kam zwischen den urweltlichen Pflanzen hervor.

Der Junge stürzte auf das Tier zu und nahm sie auf den Arm.

Bender schüttelte den Kopf.

"Es ist verboten, lebende Tiere mit in die Vergangenheit zu nehmen, Junge", sagte Bender.

"Ich wollte sie aber gerne dabeihaben."

"Wie hast du es geschafft, sie mitzuschmuggeln?"

"In meiner Tasche."

"Wußten deine Eltern davon?"

"Nein. Und sagen Sie ihnen bitte nichts. Sie werden schimpfen."

"Tut mir leid. Das wirst du aushalten müssen."

Der Junge strich seiner Katze über das Fell und sah dabei zur Seite. Da bemerkte er zwischen den wuchernden Pflanzen die Überreste dessen, was dem Tier als Nahrung gedient hatte. Irgend etwas Kleines, Graues.

Bender sah es auch.

"Gib mir das Tier", sagte er.

"Warum?"

"Es muß in einen Quarantäne-Käfig. Die Beutelratte, die es gefressen hat, könnte krank gewesen sein."

Zögernd gab der Junge Bender das Tier.

*


Die Eltern des Jungen waren alles andere als begeistert, als Bender ihnen die Sache erzählte.

"Was geschieht jetzt?" fragte sein Vater.

"Die Katze bleibt in Quarantäne, bis wir wissen, ob sie sich bei der Beutelratte angesteckt hat!"

"Der Urlaub fängt ja schön an!" schimpfte der Vater.

"Wahrscheinlich werden wir jetzt diese Konventionalstrafe zahlen müssen, die in unserem Vertrag steht."

"Aber meine Katze hat doch gar nichts Schlimmes gemacht!"

verteidigte sich der Junge. "Von diesen Beutelratten gibt's doch Millionen!"

"Beutelratte?" fragte die Mutter. "Ich dachte, in der Kreidezeit gab es nur Reptilien."

Bender schüttelte den Kopf. "Nein, es existierten auch bereits die ersten Säugetiere."

*


Die Tage in der Kreidezeit vergingen wie im Flug. Mit Hub-schraubern ließen sich Besucher des Camps zu den wandernden Triceratopsherden fliegen, um diese dreihörnigen Monstren dabei zu beobachten, wie sie donnernd über die Ebenen stampften und den Boden unter ihren Füßen zum Erzittern brachten. Der Höhepunkt blieb natürlich die Jagd auf den Tyrannosaurus, jenes sechs Meter hohes fleischfressendes Ungeheuer, dessen überdimensionales Gebiß geeignet war, auch dem Unerschrok-kendsten das Blut in den Adern gefrieren zu lassen. Aller-dings war diese Jagd nur mit der Kamera gestattet. Schließlich stand die gesamte Kreidezeit unter Naturschutz.

Inzwischen riß die Verbindung mit der Gegenwart ab, aber Bender sagte niemandem etwas davon. Es war auch eigentlich kein Grund zur Beunruhigung. Die Zeitreisetechnik steckte noch in den Kinderschuhen und so etwas kam häufiger vor.

Dann kam irgendwann der Tag des Abschieds. Das Camp wurde abgebaut und alles sorgfältig in der Zeitreise-Kapsel verstaut. Die Rückreise verlief problemlos, aber als die Reisegesellschaft aus der Kapsel stieg, erlebte sie eine Überraschung. "Wo ist denn der Zeitreisebahnhof, von dem wir gestartet sind?" fragte eine Touristin. Und jemand anderes fragte: "Wo ist überhaupt die Stadt?"

Vor ihnen lag nichts als wucherndes, Dschungelartiges Grün. Einer der Reisebegleiter betätigte ein Funkgerät, aber alle Frequenzen waren tot. "Es scheint, als gäbe es auf der gesamten Erde niemanden mehr, der Funksignale sendet!" war sein Kommentar dazu.

"Wir sind allein", flüsterte Bender. "Diese verdammte Katze!"

"Was sagen Sie da?"

"Nichts." Bender behielt seinen Verdacht zunächst für sich. Aber welche andere Erklärung konnte es geben? Es schien tatsächlich so sein, als hätte die Katze sich genau jene Beutelratte als Mahlzeit ausgesucht, deren Nachfahren irgendwann zu höher entwickelten Säugetieren und schließlich zum Homo sapiens mutiert waren. Mutiert wären! korrigierte er sich und dachte: Sie hat unser aller Urahn aufgefressen!

In den folgenden Tagen suchten die Gestrandeten erfolglos den Äther und die Umgebung ab. Es hatte weder Funkgeräte noch Menschen je gegeben.

Heiter und unterhaltsam in die Weihnachtszeit: 2 Romane und 66 Kurzgeschichten

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