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Prolog

Ein Tanz auf dem Dach

1

Ängstlich suchte Dilan nach Alberts Hand. Ihr Herzschlag hämmerte in der Brust und das Blut rauschte ihr in den Ohren, während sie die Treppe im Hofladen erreichten und auf allen Vieren in den Spitzboden krochen. Sie konnten weder stehen noch gerade sitzen. Und trotz der spätsommerlichen Temperaturen lief beiden eine Gänsehaut über den Rücken.

Es roch nach Staub und irgendetwas Süßem und Herbem. Stimmengewirr drang zu ihnen nach oben. Sie hörten Lachen, Hundegebell, das Klingen der Münzen in der Kasse, wenn Hilda Dammann ihren Laufkunden im Hofladen Äpfel und Birnen verkaufte. In der Ferne schlug eine Autotür zu.

Dilan zitterte und schmiegte sich an Albert. Was hatten sie nur getan? Wenn man sie erwischte, war alles aus. Ihre Familie würde in Schande leben, sie selbst in den Osten der Türkei in ein abgeschottetes Bergdorf schicken, vielleicht töten, oder mit Glück, mit einem drei- oder viermal so alten Mann verheiraten. Der sie auf immer und ewig einsperre, schlüge und vergewaltigte. Was zählte das Wort einer Siebzehnjährigen bei kurdischen Familiengesetzen?

Und Albert? Ismail, Turhan und Mehmet, ihre Brüder, ließen Albert keine Ruhe, würden ihn jagen, verprügeln, vielleicht käme er mit dem Leben davon.

Albert knipste die Taschenlampe seines Handys an und ließ den kargen Lichtstrahl über den Spitzboden gleiten. Links ein Dreibeintischchen, kniehoch, etliche staubbedeckte Kartons und zwei zusammengerollte alte Teppiche, ihre vergilbten Fransen verknotet wie Lichterketten für den Weihnachtsbaum.

Hier suchte sie so schnell niemand. Die Bahn war frei.

Um zwei oder drei in der Nacht, wenn alles schlief, würden sie sich vom Dach schleichen und bei Dilans Oma Johanna, in Jork, unterschlüpfen. Denn auch, wenn Johanna nicht Dilans richtige Oma war, so teilten die Frauen, die aus Kulturen stammten, die unterschiedlicher nicht sein konnten, ein und dasselbe Schicksal.

Dilan öffnete die blumenbedruckte Reisetasche; vor Tagen schon hatte Albert diese auf dem Kriechboden im Haus seiner Eltern versteckt. Sie zog das Brautkleid aus und schlüpfte in Jeans, weißes T-Shirt und Strickjacke.

Ein Wahnsinn, dachte sie. Das ist alles ein Wahnsinn.

Ein halbes Jahr hatten sie geplant. Ein halbes Jahr voller Angst etwas zu sagen, zu tun, was sie verriet. Ihre Liebe verriet. Und jetzt, jetzt kam alles anders, war ihr Plan dahin. Musste alles schnell gehen.

Vor zwei Jahren lernte sie Albert in der Jorker Bücherei kennen. Sie recherchierte für ein Referat in der Schule über den Abwurf der Atombombe der USA am 06.08.1945 über Hiroshima. Albert suchte Karteninformationen aus Kolumbien. Irgendwann würde er nach Südamerika, nach Cali, auswandern, Tabak anbauen wie seine Tante oder eine Strandbar am Golfo Tortugas eröffnen.

Es war Liebe auf den ersten Blick. Eine Liebe ohne Hoffnung, Zukunft, für sie, die kurdische Dilan Yasar und Albert Dammann, den deutschen Hofsohn. Ich gehe zu unseren Vätern, hatte er gesagt. Ich werde sie von unserer Liebe überzeugen. Dilan hatte ihm den Zeigefinger auf den Mund gelegt und traurig den Kopf geschüttelt.

Doch jetzt war es soweit. Es dauerte nicht mehr lange und sie waren frei. Vogelfrei.

Dilan kuschelte sich enger an Albert. Sie erschraken, als die Stimmen von unten lauter wurden und die Luke der Spitzbodendecke sich einen Spalt öffnete, einen Lichtstrahl und einen Luftzug auf ihre Gesichter warf. Mit Schwung rollten sich Dilan und Albert hinter die Kartons, legten sich auf den Bauch und hielten die Luft an. Dilan brach der Schweiß aus. Rinnsale bildeten sich an ihrem Hals, unter den Achselhöhlen, zwischen ihren Brüsten, während sie darauf warteten, dass Alberts Mutter ihre Körperfülle in die Dachluke schob und sie entdeckte.

Es war ein Wahnsinn, was sie hier taten. Ja, ein wirklicher Wahnsinn.

»Nein, Gerda, das ist doch gar kein Problem. Ich habe sie nur hier auf den Kriechboden geschoben, weil sonst mein Mann eine nach der anderen aufpafft. Er kann es nicht lassen, dabei hat der Arzt ihm dringend geraten, mit der Qualmerei aufzuhören. Aber hat man eine Schwester in Kolumbien, die ebenso unvernünftig ist, kann ich ja reden und reden. Ständig schickt sie ihm neue Stinker. Und immer kann ich ja auch nicht sagen, dass ein Paket verloren gegangen ist. Wie viel brauchst du?«

Ein nackter fleischiger Arm streckte sich vor, Finger tasteten über Teppiche, die staubbedeckte Holzdecke. »Verdammt, wo ist er denn hin? Ich hab ihn doch nach vorne … Ah, da haben wir sie ja.« Ein Karton wurde an den Spalt gezogen, geöffnet, Papier knisterte, süßherber Duft erfüllte verstärkt den Bodenraum. Reifer Pfirsich und Leder.

»Halte mal die Leiter, Gerda, wenn ich da reinkrieche, bleibe ich noch stecken. Also, wie viel?«

»Gib mir zehn Stück. Am Wochenende kommen mein Bruder und mein Schwager. Die qualmen was weg.«

»Das Stück kostet heute sieben Euro. Nur, dass du Bescheid weißt.«

»Schließt du dich schon den Weihnachtspreisen an?«

»Weihnachten ist in drei Monaten, Gerda. Willst du jetzt quaken oder Zigarren kaufen? Wenn dir meine Preise nicht schmecken, kauf dir welche beim Lottoheini an der Ecke. Aber ich sage dir, meine Qualität ist allerfeinste Chiamocha.«

»Ja, schon gut. Komm wieder runter, ich brauche noch zwei Kilo Zwetschgen. Wie geht es eigentlich Albert? Ich habe ihn lange nicht gesehen.«

»Albert geht es gut. Er macht sein Abitur und muss viel lernen.« Die Dachluke schloss sich. Die Stimmen wurden leiser.

»Und ist er jetzt …? Hat er was gesagt …? Na, du weißt schon. Wir sprachen doch neulich …«

»Gerda, was unser Albert ist oder nicht ist, geht dich feuchten Jorker Fleetschlamm an.«

»Ich mein’ ja nur. Weil doch bei uns, im Alten Land, der Hof meist von einer Generation in die nächste wechselt und wenn er …«

»Gerda, ich verspreche dir, schwule Pflaumen schmecken dreimal so gut. Hier, deine Zwetschgen, etwas sauer, aber garantiert hetero angebaut.«

Dilan und Albert kicherten mit vorgehaltener Hand, um nicht laut loszuprusten.

»Dieses blöde Dorfgequatsche«, flüsterte Albert. »Wenn die wüssten.«

»Besser nicht«, sagte Dilan, bevor Albert ihr Gesicht mit Küssen bedeckte. »Es gäbe einen Tanz auf dem Dach.«

Der Horoskop-Killer

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