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Uli Kerber: Liebenau, November 2019, Donnerstag, ca. 21 Uhr

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Dumpf nahm Uli Männergebrüll und das Getrappel von Füßen wahr. Es mussten hunderte sein, schwere Körper. So kam es ihm jedenfalls vor. Durch das kleine Fenster des Raumes, den sie als Abstellkammer nutzten, sah er auf der Straße dunkle Schatten und das Glimmen von Fackeln. Sie kamen näher. Jetzt hörte er, was sie skandierten: „Merkel muss weg! Merkel muss weg!“ und „An den Galgen mit dem Schwein!“ Uli wurde übel. Vorsichtshalber hatte er das Licht im Flur ausgeschaltet. Ein siebter Sinn hatte ihm gesagt, dass es besser wäre, nicht allzu viel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Schließlich wusste jeder im Ort, dass hier, in dem Haus, das einst der Architekt Erich Seidel für seine Familie gebaut hatte, „der Rote“ wohnte, der den „großen Austausch“ vorantreiben und die „weiße Rasse“ durch „Vermischung“ vernichten wollte.

Zwar hatte Uli darauf geachtet, sein „Refugees welcome“-T-Shirt nicht anzuziehen, wenn er bei Aldi einkaufen ging, aber vermutlich hatten sie gesehen, dass er ein paarmal mit Rosi Mahler von der Flüchtlingsinitiative Liebenau-Schiedenfeld bei den Flüchtlingen im Waldeck-Carrée gewesen war. Außerdem kannten sie ihn natürlich aus den Nachrichten und er wurde den Eindruck nicht los, dass einige ihm auch unter Tarnnamen in den sozialen Netzwerken folgten. Sein Parteigenosse René Martens hätte es hier, wo die Deutsche Alternative bei den letzten Wahlen über 20% der Stimmen erhalten hatte, sicher leichter. René gab sich volkstümlich. Wladimir Putin war für ihn einer, der dem Westen kühn die Stirn bot und vor ein paar Jahren war er bei den Friedensmahnwachen ganz vorn mit dabei gewesen.

Uli seufzte. In den heruntergekommenen Plattenbauten im Waldeck-Carrée wohnten viele Russlanddeutsche. Die störten sich allerdings an den Flüchtlingen, die man dort untergebracht hatte und liefen daher dem lauten Gregor Matzke von der Deutschen Alternative hinterher, der, wie Uli wusste, in seiner Jugend ein Neonazi gewesen war.

Hastig zog Uli die Gardine zu. Dann bückte er sich und nahm zwei Flaschen Bier für sich und seine Frau Hanna, die im Wohnzimmer saß, aus dem Kasten, der im Halbdunkel vor ihm auf dem Boden stand. Er überlegte kurz, ob er sich noch einen Joghurt aus der Küche holen sollte, denn er hatte noch nicht zu Abend gegessen, ließ es dann aber. Im Moment würde er eh nichts herunterbekommen.

Er hatte schon länger überlegt, ob sie nicht lieber wieder nach Berlin ziehen sollten. Hanna und er hatten nicht gewollt, dass die Kinder im Großstadtchaos zwischen Autoabgasen und Drogendealern aufwuchsen. Zwar war er selbst im Prenzlauer Berg groß geworden, aber das waren damals noch andere Zeiten gewesen – weniger Kriminalität, und wenn er erst Kultursenator und, wie er hoffte, stellvertretender Bürgermeister von Berlin sein würde, dann wäre es wirklich zu gefährlich, die Kinder allein mit der U-Bahn fahren zu lassen. Er hatte Feinde und es gab genug Irre, die in einem Wahneinfall auf die bizarrsten Ideen kommen konnten, um sich und ihren Anliegen politisch Gehör zu verschaffen. Aber war es hier draußen in Liebenau mit Matzke und seinen DA-Kumpanen wirklich besser?

Als sie das Haus im Sommer vor vier Jahren gekauft hatten, war die Deutsche Alternative noch nicht ganz so stark gewesen. Es war etwas verfallen gewesen, aber sie hatten sich sofort in das schlichte, weiß verputzte Gemäuer verliebt, das 1926 gebaut worden war. Über der Haustür hatte es ein Oberlicht und nach hinten raus riesige Fenster, eine Terrasse und einen wilden, verwunschenen Garten, den in seiner Urform wohl noch Klara Seidel, die Frau des Architekten Erich Seidel, angelegt hatte. Auf dem großzügigen Balkon im ersten Stock, der von ihrem Schlafzimmer abging, saßen Hanna und er im Sommer abends manchmal bei einem Glas Wein, wenn die Kinder im Bett waren.

Zu DDR-Zeiten hatte ein SED-Funktionär in dem Haus gewohnt und es, wie Uli gehört hatte, gut in Schuss gehalten. In den nuller Jahren hatte es dann nach dem Tod der Funktionärswitwe, die ihren Mann um ein paar Jahre überlebt hatte, eine Weile leer gestanden. Dann hatte eine Künstlerin in dem Haus gewohnt, die aber bald wieder weggezogen war. Vermutlich fiel einem in Liebenau schnell die Decke auf den Kopf, wenn man allein war und keine Lust hatte, in dem Imbiss am Kirchplatz unter verschwitzten Nazis, die am Automaten spielten und alten Trinkern, die der DDR hinterhertrauerten und ihre Erinnerungen mit Bier und Schnaps begossen, nach Bekanntschaften zu suchen.

Uli hatte ein Jahr in Eigenarbeit an den Wochenenden an dem Haus herumgewerkelt. Am Ende war es dann doch nicht mehr so billig gewesen, wie Hanna und er zunächst angesichts des ungewöhnlich niedrigen Kaufpreises frohlockt hatten, doch er hatte sich und seiner Familie hier im Schweiße seines Angesichts ein Nest geschaffen, das er so schnell nicht wieder aufgeben wollte.

Leise schlich Uli mit dem Bier ins Wohnzimmer, wo seine Frau Hanna mit ihrem Laptop auf den Oberschenkeln auf dem blauen Ikea-Sofa saß, das sie sich gleich nach ihrer Hochzeit angeschafft hatten. Es war mindestens fünfzehn Jahre alt und das billigste Modell, dass sie damals bei Ikea gehabt hatten - sie hatten ja noch studiert, sie hatten zu der Zeit eigentlich überhaupt kein Geld für Möbel gehabt -, aber Hanna saß fast immer da, wo sie jetzt saß. Sie liebte das alte Sofa.

„Draußen geht irgendwas vor sich, eine Demo. Ich habe im Flur das Licht ausgeschaltet“ sagte Uli. „Das sollte eh nicht ständig brennen“ murmelte Hanna und fragte dann, ohne von ihrem Laptop aufzuschauen: „Hat der Matzke seine Leute zusammengetrommelt?“. „Ich fürchte, die sind nicht nur aus Liebenau. Es sind richtig viele.“ Uli ließ sich in den bequemen Schwingsessel fallen, den sie letztes Jahr von einem jungen, noch unbekannten Berliner Möbeldesigner gekauft hatten – Kiefernholz aus heimischen Wäldern, ökologisch verträglich angebaute Baumwolle für die Bezüge.

„Der Matzke sieht in diesen Bombendrohungen in Tegel und Schönefeld vermutlich die Gelegenheit, um gegen Maryam und mich zu hetzen.“ Uli machte die Bierflaschen auf und reichte seiner Frau eine.

„Na ja, sie haben in Tegel Sprengstoff gefunden ...“ sagte Hanna zögernd. „Aber die British Airways Maschine ist sicher gelandet. Das untersuchen sie jetzt noch. Die Passagiere stehen unter Schock, aber das ist auch alles. Auch alle anderen Flugzeuge sind ohne große Zwischenfälle gelandet. Allein in Hannover soll eine Scandinavian Airlines Maschine aus Stockholm, die planmäßig in Schönefeld hätte landen sollen, bei der Landung Funken gesprüht haben, aber da handelte es sich wohl um einen technischen Defekt.“

Das war mehr oder weniger das, was Uli auf dem Nachhauseweg in der Nachrichten-App seines Smartphones gelesen hatte. Der kleine Schönheitsfehler war, dass der Sprengsatz in Tegel in einem Dönerimbiss nahe der Eingangshalle gefunden worden war. Am Abend war nur ein junger Mann, der aushilfsweise dort arbeitete, in dem Imbiss gewesen. Ob er Kontakte zu radikalislamistischen Kreisen hatte, wurde derzeit noch geprüft. Und dann war da natürlich das Bekennerschreiben des Islamischen Staates. Es war die perfekte Vorlage für alle, denen die Grenzöffnung Angela Merkels im Herbst 2015 zu weit gegangen war und die jetzt abrechnen wollten mit der pluralistischen, offenen Gesellschaft.

„Ich habe gerade einen Artikel im „Independent Observer“ gelesen“ fuhr Hanna fort. „Sie bezweifeln, dass diese ganze Sache wirklich auf das Konto des Islamischen Staates geht. Zu viele Punkte passen nicht. Zum einen kam das Bekennerschreiben schon bevor überhaupt irgendetwas passiert ist. Ich meine, im Grunde ist ja, wie gesagt, nichts passiert, zumindest bislang nicht. Toi, toi, toi.“ Sie verzichtete darauf, auf Holz zu klopfen. „Dann war das mit Nine Eleven Al-Qaida. Das Strickmuster des Islamischen Staates sind Messerattacken oder mit dem Auto in die Menge fahren. Mit Flugzeugen haben die sich bislang nicht abgegeben.“ Uli nickte lahm. Wer auch immer dahinter steckte, hatte sein Ziel vermutlich trotz allem erreicht. Und er wurde den Eindruck nicht los, dass auch er selbst in der Schusslinie stand.

„Vielleicht haben da wieder irgendwelche Leute etwas auf eigene Faust gemacht. Es ist doch bekannt, dass der Islamische Staat Einzelgänger oder kleine Grüppchen dazu animiert, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen.“ Uli sah, dass die Bierflasche, die vor ihm auf dem flachen Holztisch stand, schon halb leer war. „Ja, das kann sein, aber man muss jetzt wirklich darauf dringen, dass die Bullen den Arsch hochkriegen und das richtig untersuchen.“ Uli zuckte bei dem Wort „Bullen“ innerlich zusammen. Dabei hatte er selbst auch so geredet, als Hanna und er sich an der Uni kennengelernt hatten. Er hatte sogar vor ein paar Jahren noch so geredet, wenn auch nur noch im kleinen Kreis, privat und mit Parteifreunden. Seit er durch seine politische Arbeit ständig in der Öffentlichkeit stand, hatte er lernen müssen, darauf zu achten, was er sagte und vor allem, wie er etwas sagte. Nicht nur die DA, sondern auch die so genannten Parteien der Mitte hielten ihm in schöner Regelmäßigkeit sein Engagement als junger Student in der Hausbesetzerszene vor. Wenn es nicht gerade um seinen Vater ging, der in der SED gewesen war.

„Ja, Hanna. Keine Ahnung. Natürlich muss man darauf achten, dass da jetzt nichts unter den Teppich gekehrt wird.“ Uli spürte, dass die innere Anspannung, die ihn schon den ganzen Tag begleitet hatte, kein Stück nachgelassen hatte – eher im Gegenteil. Es gelang ihm einfach nicht, abzuschalten. „Ich glaube bloß, es geht darum, Angst zu erzeugen und Verwirrung zu stiften. Also, darum geht es leider auch den Islamisten. Und die Rechten schlachten das dann für sich aus. Die schaukeln sich gegenseitig hoch, weißt du. Und genau das haben sie ja jetzt auch wieder erreicht.“

Hanna legte ihm ihre linke Hand auf den Oberschenkel. Es war ihm etwas unangenehm. 'Lass das!' hätte er am liebsten gesagt, aber er wollte sie nicht verletzten. Es war nur so, dass er mit den Nerven total runter war. „Uli, du bist deiner Zeit mental schon wieder zwei Tage voraus. Ich verstehe ja, dass du dir Sorgen machst, aber ich glaube kaum, dass es dir und Maryam schaden wird.“ Schön wäre es. „Die meisten Leute sind doch nicht so blöde und lasten dir an, was der Islamische Staat tut. Wenn die überhaupt etwas damit zu tun haben. Und Maryam hat längst einen Ruf als ziemlich mittig und regierungsfähig.“ Sag doch gleich 'als Vertreterin des Establishments'. Der letzte Halbsatz hatte etwas scharf geklungen und Uli wusste, dass Hanna Maryam nicht besonders gut leiden konnte.

Er hoffte, dass keines seiner drei Kinder durch das Gegröle dieser Nazi-Typen mit ihrem Fackelmarsch aufgewacht war. Na ja, Josefine, seine Älteste, die jetzt vierzehn war, schlief bestimmt sowieso noch nicht. Er würde nachher noch nach ihnen sehen müssen, nur fühlte er sich dazu jetzt absolut nicht in der Lage.

„Ja“ sagte er an Hanna gewandt. „Du hast recht. Ich glaube, es ist eher der Stress. Zum Glück habe ich seit heute einen neuen Mitarbeiter für's Büro. Ich glaube, er ist ganz fit.“ Er erzählte ihr von Basti. Mit seiner Bierflasche in der Hand machte er es sich neben ihr auf dem alten Ikea-Sofa bequem.

Als er seinen Arm um sie legen wollte, schubste Hanna ihn sanft zurück. „Tut mit leid, Uli. Aber ich will noch kurz zu den Kindern hoch. Wollte ich schon die ganze Zeit, aber ich hatte so ein schlechtes Gefühl. Ich meine, ich habe es geahnt, dass du dich erstmal ausquatschen musst. Die Kinder haben ihre Zimmer zum Garten hin, aber trotzdem ...“ sagte sie. Er nickte. Natürlich, er hatte ja selbst nach ihnen sehen wollen.

Nachdem sie aus dem Zimmer gegangen war, setzte er sich wieder in seinen Sessel. Er starrte durch das große Panoramafenster, hinter dem im Dunkel der Nacht ihr wilder, verwunschener Garten lag. Hanna kümmerte sich darum. Sie hatte ja sonst nicht viel zu tun. Manchmal schrieb sie Artikel für Zeitschriften oder gab zusammen mit Rosi Mahler den Flüchtlingen im Waldeck-Carrée ehrenamtlich Deutschunterricht. Aber davon abgesehen war Hanna Hausfrau und Mutter – etwas, das sie nie hatte sein wollen.

Uli schloss die Augen und rieb sich die Schläfen, als könne er so seine innere Anspannung verscheuchen. Matt ließ er sich noch ein Stückchen tiefer in seinen Sessel sinken. 'Nato-Fanboy!', 'Der Kerber war mal beim schwarzen Block!', ' Der hofiert die gewaltbereite Linke!' kreiste es in seinem Kopf, 'rote Zecke!', 'Einmal SED, immer SED!', 'ein neoliberaler Drecksack, der sich dem Establishment andient!', 'Frieden interessiert den doch nicht!'.

Auf dem Weg nach Hause hatte Uli gelesen, was Sam Ritter von den Frauen rund um das hippe, queerfeministische Magazin „Die dicke Zicke“ zu der Bombendrohung in Tegel getwittert hatte. Scheiße! 'People of Color nehmen sich, was ihnen zusteht!' Das war für den Arsch! Sam hatte es total verbockt! Aber sie hatte unzählige Likes dafür gekriegt.

Laut durfte er nicht sagen, was er davon hielt. Ina Päffgen, die Chefredakteurin der „dicken Zicke“, war mit der renommierten Professorin Karin Wolter liiert. Wolters Engagement für queere Menschen - sie lebte ja, wie gesagt, selbst in einer lesbischen Beziehung - und für People of Color war über die Grenzen der Bundesrepublik bekannt und wurde überall dort, wo man Diversity fördern wollte, hochgeschätzt. Und die mittlerweile vierteljährlich erscheinende Druckversion der „dicken Zicke“ lag in jedem Goethe-Institut zwischen Timbuktu und Manila aus, um der Welt zu demonstrieren, zu was für einem weltoffenen, toleranten Land Deutschland sich gemausert hatte. Uli beschloss, sich noch ein Bier zu holen. Er hoffte regelrecht auf einen leichten Dusel, der seinen Kopf irgendwie von dem Gedankenmüll, der dort vor sich hingärte, befreien würde.

Liebenau

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