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Jonas: Berlin-Kreuzberg, November 2019, Montag, ca. 16 Uhr

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Jonas spürte, wie Luca ihm über den Rücken strich. Es war nur ein leichter Hauch. Aber er hatte richtig Gänsehaut davon bekommen. Das hatte er etwas ärgerlich bemerkt, auch das leichte Blubbern, das von seinem Bauch in Richtung Genitalien kroch. Jonas wusste, dass er sich nicht umdrehen durfte. Er musste einfach so liegenbleiben, platt wie eine Flunder, die sich vor nahenden Feinden in den Sand auf dem Meeresboden einbuddelte, bis nur noch die Augen herausguckten.

Luca war dazu übergegangen, ihm den Nacken zu massieren. Das war gut, das turnte ihn nicht so an. Er merkte jetzt, dass ihm eigentlich kalt war. Wahrscheinlich kam die Gänsehaut daher. Es war wirklich eine dumme Idee gewesen, sich so, mit nacktem Oberkörper auf Tiffys Bett hinzuhauen. Er hatte seine Jeans anbehalten und die schmutzigen Tennissocken. Er hätte wenigstens die Tür zu Tiffys Zimmer zuziehen sollen. Obwohl er wusste, dass auch das Luca nicht abgehalten hätte. Luca gab nicht viel auf die Privatsphäre anderer Menschen.

Im Grunde waren ihm andere Menschen sowieso scheißegal, was sie dachten und fühlten, ob sie sich ärgerten oder sich freuten – Luca kümmerte sich nicht darum. Hauptsache, er hatte einen Effekt auf sie. Das war es: Luca wollte wissen, ob und wie er auf andere Menschen wirkte. Und er war, das musste man zugeben – einfach eine Wucht! Luca sah aus wie ein Engel oder eine Gestalt aus einem italienischen Renaissancegemälde. Er war 1,80 Meter groß, schlank und androgyn, aber zu muskulös, als dass er mädchenhaft oder gar anorektisch gewirkt hätte, dickes, naturblondes Haar, das er halblang trug – eine Strähne fiel ihm immer ins Gesicht, graublaue Augen, dichte dunkle Wimpern, feingeschnittene Gesichtszüge …

Jonas musste sich irgendwie runterbringen. Komm schon! Autosuggestion ist alles! sagte er sich. Er starrte angestrengt auf das verwaschene Kissen mit dem aufgedruckten Rennauto. Tiffys Bettwäsche sah aus, als hätte sie jemand als Sonderposten in irgendeinem Supermarkt für einen vierzehnjährigen Teenager gekauft. Dabei hatte Tiffy sonst so viel Stilgefühl! Na ja, Tiffy war so ziemlich die modebesessenste Transe, die Jonas kannte. Obwohl Tiffy nur damit spielte. Er besaß hunderte von Outfits, von Muttis guter Junge über geschniegelter junger Geschäftsmann und durchgeknallter Techno-Freak im Nineties-Retro-Look bis hin zu „Rate mal, ob ich Männlein oder Weiblein bin!“ und ultrafeminine Tucke, die sich mit deiner großen Schwester um das perlmuttrosa Lipgloss prügelt, wobei deine große Schwester dabei allerdings auf jeden Fall den Kürzeren zieht.

Luca und Tiffy waren das, was man sexuell „offen“ nannte. Offiziell waren sie sogar zusammen, was allerdings nur bedeutete, dass sie sich die Wohnung miteinander teilten und einander gelegentlich im Bett verwöhnten, wenn sonst gerade niemand da war. Luca modelte. Tiffy hatte sein Jurastudium abgebrochen, weil er mit der öden Paragraphenpaukerei nichts hatte anfangen können. Dann hatte er eine Weile Graphikdesign gemacht, was er sich autodidaktisch angeeignet hatte, und als DJ in ein paar Clubs aufgelegt, bis Jonas und er auf die Sache mit dem Internet gekommen waren.

Jonas' Nackenmuskulatur verspannte sich. Luca streichelte ihn umso zärtlicher. „Lass das!“ murmelte Jonas. „Wieso?“ zwitscherte Luca unschuldig. „Das weiß du genau, Sam, die Kleine ...“ Luca ließ ihn los. Vorsichtig linste Jonas über seine Schulter. Natürlich, das hätte er sich denken können – bis auf seine knallroten Boxershorts mit dem „Fritz the Cat“-Aufdruck war Luca splitternackt und das mit den Boxershorts wäre im Zweifelsfall auch schnell erledigt.

Eigentlich hatte er mit Tiffy an der Internetgeschichte weiterarbeiten wollen. Sie hatten da ein todsicheres Ding. Jonas hatte einen Master in Literaturwissenschaften, aber damit konnte er sich allenfalls den Arsch abwischen. Auch der Weinhandel, den er im Internet aufgezogen hatte, lief eher mau. Das waren nur Peanuts. Das brachte es nicht wirklich. Aber Tiffy war nie um eine Idee verlegen. Tiffy war verdammt fit, was das Internet anging, ein echtes Allroundtalent! Sie hatten fieberhaft überlegt, mit was man wirklich Knete machen konnte. Immerhin, er war Familienvater, er hatte Frau und Kind. Das sagte er Luca jetzt auch. „Luca, ich bin verheiratet, Familienvater, ich muss irgendwie für meine Tochter sorgen.“ Auch ohne sich umzudrehen wusste er, dass Luca dafür nicht mehr als ein spöttisches Lächeln übrig hatte.

Tiffy war irgendwie nicht da gewesen. Also hatte Jonas sich in sein Zimmer verzogen, um dort darauf zu warten, dass sein kleiner Märchenprinz und Geschäftspartner sich mal nach Hause bequemte. Tiffy hatte die Idee gehabt, Arbeitslose abzuzocken. Eine Weile hatten sie ein paar eklige Sachen im Darknet gemacht. Damit hatten sie zwar wirklich Geld wie Heu verdient, aber das mit den Arbeitslosen funktionierte ganz locker mit ein paar gefakten Stellenanzeigen, die jeder bei Google finden konnte. Es war immerhin nicht ganz so grindig wie das Darknet. Im Zweifelsfall konnten sie alles als großes Missverständnis darstellen. Zwei doofe Jungen, von denen einer gern in Frauenklamotten herumlief, die irgendwie ein gutes Herz gehabt hatten und den Leuten hatten helfen wollen und dann waren sie halt selbst auf den Mist hereingefallen. Wie blöd! Jonas hätte nie gedacht, dass es Leute gab, die auf so etwas ansprangen, denn eigentlich musste da ja bei jedem auf den ersten Blick ein rotes Warnlämpchen aufleuchten, das einem sagte, dass es da nicht so ganz mit rechten Dingen zugehen konnte, aber es waren gar nicht mal so wenige, die bereitwillig mitmachten. Irgendwie waren die selbst schuld, wenn sie so naiv waren, fand Jonas. Das Leben war nun mal kein Ponyhof.

Na mach schon, Alter! sagte Jonas sich. Beweise allen Rittern der Tafelrunde, dass du einen eisernen Willen hast! Der Gral, nach dem sie alle suchen, der kann dich mal! Aber kreuzweise! Erst am Freitag hatten Tiffy und Luca ihn auf eine Party geschleppt, nach der er ein derart schlechtes Gewissen gehabt hatte, dass er sich ernsthaft gefragt hatte, ob er nicht letzten Endes doch eine verkappte Schwuchtel war, die dieses Trara mit hetero und Ehe nur hochhielt, damit niemand darauf kam, dass er in Wirklichkeit keineswegs bloß „offen“ war, sondern stockenschwul. So schwul, dass daneben Rosa von Praunheim noch wie ein braver Spießbürger wirkte, der mit dem anderen Ufer nur ein wenig hatte kokettieren wollen, um zu sehen, was die Leute dann daraus machten, wie sie sich das Maul zerrissen.

Aber in seinem, Jonas' Fall, hatte es wohl eher an dem Zeug gelegen, das sie genommen hatten – allerbeste Qualität, so rein, dass die Wirkung heftiger gewesen war, als er erwartet hatte. Nicht diese verquirlte Scheiße, die sie in irgendwelchen illegalen Chemieküchen in Tschechien zusammenrührten. Die Nazi-Droge. Tralala. Er war mindestens ebenso breit gewesen wie Hermann Göring. Jonas grinste. Er hatte mal gelesen, dass die Nazis ihre Kampfpiloten gedopt hatten, damit sie länger durchhielten – Fliegerschokolade hatte man das genannt. Die Vorstellung, dass da lauter Nazis, die hackedicht bis obenhin gewesen waren und wahrscheinlich nur ans Poppen gedacht hatten, im Kampfflieger gesessen hatten, war einfach irre!

Ihn hatte der Kram jedenfalls auch zum echten Bomber gemacht. Er war derart prall gewesen, dass er in dem Garten der Lüste, der sich ihm dargeboten hatte, gar nicht gewusst hatte, von welchen Früchten er zuerst hatte naschen sollen. Auf der Party waren auch Mädchen gewesen. Das war es nicht. Er hatte zuerst die kleine Italienerin genagelt - Selina oder Fiorina oder irgendwie so - und war dann an einer Schwedin dran gewesen, bei der er sich gar nicht mehr die Mühe gemacht hatte, sie nach dem Namen zu fragen. Die hatte aber im letzten Moment einen Rückzieher gemacht. Hatte sich das Ganze offenbar bloß mal angucken wollen. Na ja, manche Menschen waren halt einfach fade, wollten kein Risiko eingehen und lebten ihr müdes Leben bis sie irgendwann an Altersschwäche eingingen.

Jonas dagegen war von Natur aus ein intensiver Mensch. Er war schon so geboren. Er machte keine halben Sachen. 'No risc, no fun!' war sein Motto. Das Leben war doch viel zu kurz, um sich irgendeine Chance, Spaß zu haben, entgehen zu lassen und er wollte alles mitnehmen, wirklich alles! Dann war Luca gekommen und hatte ihm ganz tuntig ein Gläschen Sekt in die Hand gedrückt. Der Sekt war an Jonas Schädeldecke hinabgeperlt wie kleine Kristalle, die lustvoll in seinem Hirn geknistert hatten und sich dann durch seine Blutbahn in seinem ganzen Körper ausgebreitet hatten. Luca hatte mit ihm rumgemacht und ihm mächtig eingeheizt, nur um ihn dann an einen Amerikaner weiterzureichen, der schon ein paar Jährchen mehr auf dem Buckel gehabt hatte, aber mordsmäßig Erfahrung. Mein lieber Scholli! Der Amerikaner hatte noch einen Kumpel dabei gehabt und zu dritt hatten sie sich dann ins Nirwana der absoluten Lust gerammelt. Wow! Es war einfach der Hammer gewesen!

Jonas hatte sich das jetzt so gedacht, dass Tiffy und er noch zusammen eine Bong durchziehen und dann ganz entspannt mit dieser Internetgeschichte weitermachen würden. Er atmete den Duft des verwaschenen Kissens mit dem Rennauto ein, das noch ein bisschen nach Tiffy roch. Luca war aus dem Zimmer gegangen. Wahrscheinlich war er beleidigt. Sollte er doch. Jonas robbte vom Bett herunter und zog sich seinen Pulli über. Er hatte irgendwie keinen Bock mehr. Wahrscheinlich wäre es ganz gut, wenn er sich jetzt eine Weile ein bisschen rar machte, damit Tiffy kapierte, dass er nicht alles mit ihm machen konnte. Zumindest wollte er nicht wie eine gedemütigte Hausfrau in Tiffys Zimmer hocken, zwischen der albernen Bettwäsche mit dem Rennauto und Tiffys Gigaschrankwand, neben der selbst die Berge an Klamotten, die Sam im Laufe der Jahre angehäuft hatte, noch bescheiden wirkten, und warten, bis es dem gnädigen Herrn oder der gnädigen Dame - je nachdem wie Tiffy heute gesehen werden wollte - einfiel, dass er - oder eben sie - da ja noch irgendwie eine Verabredung hatte. Das konnte Tiffy wirklich vergessen! Das Internetding konnten sie schließlich auch per WhatsApp durchziehen.

Jetzt wollte Jonas nach Hause, zu seiner Frau Samantha und zu seiner Tochter Paula. Ganz gleich wie bezaubernd Luca auch war, Sam war auch nicht schlecht. Sonst hätte er sie schließlich nicht geheiratet. Meistens glotzten die Leute erst einmal, wenn sie Sam sahen, weil sie sie auf den ersten Blick für eine Europäerin hielten. Sam hatte lange, dunkelbraune Haare und einen hellen Alabasterteint. Sie war so weiß, dass jeder Gruftie aus den späten Achtzigern unter seiner dicken Schminke vor Neid erblasst wäre, und daher passte es irgendwie nicht ganz, ausgerechnet Sam als Woman of Color zu bezeichnen und trotzdem war sie eine.

Ihre Mutter war Thailänderin, auch wenn Sam behauptet hatte, sie sei Vietnamesin. Sie hatte gemeint, dass die meisten Leute den Unterschied sowieso nicht begriffen und es manchmal einfacher war, ihnen das zu erzählen, was sie ohnehin dachten. Da hatte sie vermutlich recht.

Ganz abgesehen davon, dass Sams Dad in Frankfurt am Main einen guten Teil des Rotlichtbezirkes kontrollierte und ihre thailändischen Großeltern in Bangkok das gleiche taten. Deshalb waren Sam und ihre Schwester auch auf irgend so ein schickes Internat in der Schweiz gegangen, wo solche Details nicht zählten, weil es bei anderen genauso war und die, bei denen es nicht so war, waren die Kinder irgendwelcher Politiker oder Prinzen und die legten naturgemäß ohnehin Wert auf Diskretion.

Sams Mum hatte ihr jedenfalls die Schlitzaugen und die grazilen Glieder vererbt. Sam hatte einfach Glück gehabt und das Beste aus den asiatischen und europäischen Genen ihrer Eltern mitgekriegt. Paula hatte aus irgendeinem Grund blaue Schlitzaugen und noch hellere Haare als Sam, dafür aber eine etwas dunklere Haut. Sam fand, dass das irgendwie behindert aussah, aber er war sich sicher, dass seine Tochter zu einer echten Schönheit heranwachsen würde. Er hasste es, wenn Sam über Paulas Aussehen herzog.

Na ja, er hatte sich schon viel zu lange nicht mehr um die beiden gekümmert. Obwohl Sam auch nicht besser war. Am Freitag hatte sie sich mal wieder von diesem Kulturfuzzi von der Linken Partei flachlegen lassen. Wie hieß der noch? Ulrich Kerber. So 'ne graue Ossi-Maus. Na ja, der fuhr halt total auf Sam ab. Wahrscheinlich war es für den ein besonderer Thrill, eine kleine, unterwürfige Fidschi-Frau ficken zu können, weil die Ossis ja die vietnamesischen Vertragsarbeiter in den neunziger Jahren noch zur Hölle hatten schicken wollen. Jonas hatte irgendwo mal Bilder von diesem brennenden Asylbewerberheim in Rostock oder Greifswald oder wo das gewesen war gesehen. Da war wirklich wieder der hässliche Deutsche bei den Leuten rausgekommen. Der hässliche Ossi genauer gesagt. Sah man ja jetzt auch, dass die alle die Deutsche Alternative wählten.

Waren nicht irgendwann demnächst sogar wieder Wahlen? Stimmt, er hatte auf Twitter etwas darüber gelesen, auch, dass dieser Kerber dabei eine gewisse Rolle spielte. Die Pöstchen hatten sie ja jetzt schon alle verteilt. Und das nannte man dann Demokratie. Diese Araberin von den Grünen sollte offenbar regierende Bürgermeisterin von Berlin werden. Jonas fand, dass diese Maryam Husseini irgendwie nicht so aussah, als würde sie Spaß verstehen.

Aus Assoziationen und losen Gedankensträngen formte sich in Jonas' Erbsenhirn eine Idee, die er für ganz schön clever hielt. Er freute sich jetzt richtig darauf, seine Frau in seine Arme zu schließen. Vielleicht würde er sogar ein bisschen mit Paula spielen. Allerdings war Bojana, die kleine Bulgarin, die sie als Putzfrau und Kindermädchen eingestellt hatten, so langsam dabei, Mutterinstinkte zu entwickeln. Wahrscheinlich würde sie ihn gar nicht an seine Tochter heranlassen. Egal. Sein Abend war jedenfalls gerettet. Hastig zog Jonas sich seine Sneaker über. Die Schnürsenkel stopfte er nur nachlässig unter die Lasche, damit er nicht beim Gehen darüber stolperte. Seine Mauken waren eh zu breit für die arschteuren Sneaker im Hiphop-Style, die nur so aussahen, als wären sie für echte Männerfüße gemacht, in Wirklichkeit aber an allen Ecken und Enden drückten.

Er sah, dass Luca in der Küche saß. Er hatte sich einen peinlichen babyrosa Bademantel übergezogen und hielt eine Zigarette in der Hand. Luca glotzte ihn aus funkelnden kajalumrandeten Augen an und blies den Rauch in kleinen Ringen aus. „Bye, Luke!“ rief Jonas ihm zu und winkte betont tuntig in Richtung Küche. Luca nickte nur. Beleidigt. Hatte er sich doch gedacht. Aber sollte er doch schmollen! Er, Jonas, hatte zu tun.

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