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Sam: Berlin-Prenzlauer Berg, November 2019, Montag, ca. 17 Uhr

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Gedankenverloren schob Sam den Buggy, in dem Paula saß und vor sich hindöste, hin- und her, ein kleines Stück nur, so als wollte sie ihre Tochter sanft in den Schlaf wiegen. In Wirklichkeit bestand wohl eher die Gefahr, dass sie sie damit aufweckte. Bloß nicht! Sam nahm die Hand hastig weg, als hätte sie auf eine heiße Herdplatte gefasst.

Sie hoffte, dass der süße Kellner es nicht gesehen hatte. Wie alt er wohl sein mochte? Mitte-Ende zwanzig? Ein wenig jünger als sie? Sam nippte an ihrem Fenchel-Honig-Tee. Mann, war der heiß! Es dampfte ja noch richtig aus dem großen, klobigen Glas. Vielleicht hätte sie erst die kleine Orangenscheibe nehmen sollen. Sam überlegte, wie es wirken würde, wenn sie die kunstvoll am Rand des Glases drapierte Orangenscheibe mit einer lässigen Bewegung in die rechte Hand nehmen und genießerisch hineinbeißen würde. Mit der linken Hand würde sie sich ihre langen, dunkelbraunen Haare aus dem Gesicht streichen. Das musste alles sitzen. Bis ins Detail. Es musste wie zufällig aussehen, ein bisschen verpeilt und doch sehr sinnlich. Ob es den schnuckeligen Kellner dazu bringen würde, noch einmal zu ihr an den Tisch zu kommen? Obwohl ihr Teeglas doch noch ganz voll war …

Sam verwarf den Gedanken. Der Orangensaft würde ihr an den Fingern kleben. Und sie musste arbeiten. Sie warf dem Laptop, der aufgeklappt vor ihr auf dem Tisch stand, einen missmutigen Blick zu. Sie musste jede Menge Tweets in die Tasten hauen, die die Wut einer kleinen, zierlichen Halbvietnamesin auf die kartoffeldeutsche Mehrheitsgesellschaft zum Ausdruck brachten. Sam versuchte, sich mental darauf vorzubereiten. Der antisemitische Anschlag in Halle, die Schmierereien, die Uli vor ein paar Tagen an seinem Haus gehabt hatte, der Mord an Chooey - das alles sprach eine eindeutige Sprache. Der Rechtsruck in der Gesellschaft schien unaufhaltsam zu sein. Aber sie würde sich ihm entgegenstemmen. Sie würde kämpfen wie eine Löwin. Es durfte nicht verzweifelt wirken. Sie musste stark und selbstbewusst auftreten.

Chooeys Leiche war heute Morgen in Kreuzberg entdeckt worden, in der Nähe des „Uncle Gertud“, mitten im Partykiez. Chooey war transgender und stammt aus Südkorea. Darauf musste Sam abheben.

Ina wollte, dass sie alle zusammen hielten. Sie selbst sah sich als Leitwölfin, als Vorbild - eine starke queere Frau, die sich von der Mehrheitsgesellschaft und ihren Zwängen nicht unterkriegen ließ. Sie hatte die „dicke Zicke“ gegründet – zunächst nur als Online-Magazin, seit einem Jahr aber dank der Unterstützung diverser linker und frauenfreundlicher Stiftungen aber auch als vierteljährlich erscheinendes Hochglanz-Mag, das für 10 Euro in ausgewählten Buchhandlungen und am Bahnhof zu haben war.

Zu dem, was an dem Mord an Chooey antifeministisch, homophob und transphob war, würde Ina einen längeren Essay schreiben. Chooey selbst war es eigentlich immer eher um das In-Between gegangen. Er hatte gewollt, dass die Leute sich auf die Uneindeutigkeit einließen, dass sie begriffen, dass er sich nicht in eine bestimmte Schublade stecken ließ. Chooey war an der Universität der Künste für freie Kunst eingeschrieben gewesen. In Wirklichkeit hatte er allerdings in erster Linie das Kreuzberger Partyleben studiert. Seine Performances, die er gelegentlich in queeren Kneipen abgehalten hatte, würden unvergesslich bleiben. Früher oder später würde allerdings herauskommen, dass er drogensüchtig gewesen war und auch selbst mit Drogen gedealt hatte. Aber na ja, von irgendwas hatte er halt leben müssen. Und wer war schon perfekt?

Sam knabberte nervös am Nagel ihres Daumens. Sie hatte noch keine einzige Zeile geschrieben. Genau genommen hatte sie sich noch nicht einmal bei Twitter eingeloggt. Paula schlief immer noch friedlich in ihrem Buggy. Sam hatte ihr was ins Fläschchen gemischt, damit sie ..., na ja, sie war eben ein sehr lebhaftes Kind. Sie wollte nicht, dass sie sie nervte, während sie arbeiten musste. Sam sah auf die Uhr. Schon Viertel nach fünf. Bojana, das Kindermädchen, hätte eigentlich schon längst da sein müssen.

Leider war Sam schon wieder schwanger. Man sah noch nichts und sie hatte auch Jonas noch nichts davon gesagt. Sie wusste nicht einmal, ob Jonas wirklich der Vater war. Oder eben Uli. Sie war mit ihren Tagen seit zwei Wochen überfällig und ihr war morgens immer leicht übel und ein bisschen schwindelig. Am Freitag war es ihr so dreckig gegangen, dass es ihr nicht einmal etwas ausgemacht hatte, dass Uli sie so schnell abserviert hatte. Natürlich war es verletzend, dass das einzige, was ihn an ihr interessierte, ihr Körper war, aber sie hatte sich sowieso nur mit ihm getroffen, weil sie den Kontakt nicht hatte abreißen lassen wollen. Man könnte vielleicht sagen, dass es eine Art gesellschaftliche Verpflichtung gewesen war.

Sam betrachtete den Buggy mit Paula. Der Buggy war knallpink mit grauen Sternen und einem pastellfarbenen Regenbogen, der sich über den zusammengefalteten Sonnenschutz zog, den sie hier, im Café natürlich nicht brauchte. Sie hatte den Buggy in einem megateuren Laden in London gesehen, als sie mit Paula schwanger gewesen war und sich dann ein paar Wochen später im Internet die Finger wundgegoogelt, um ihn bestellen zu können. Sie wollte nicht mit demselben Buggy durch den Prenzlauer Berg schieben, den hier jede fade Bio-Mama hatte. Die waren alle über vierzig und nachdem ihre Postdoc-Stellen an der Uni ausgelaufen waren und sich abzeichnete, dass es mit der akademischen Karriere nichts mehr werden würde, wollten sie dann unbedingt noch schwanger werden und ließen sich künstlich befruchten und waren heilfroh, wenn's gegen alle Erwartungen mit 45 doch noch klappte mit dem Wunschkind. Die Hälfte der Gören hatte sowieso Down-Syndrom, aber das durfte man natürlich nicht laut sagen.

Sam trank einen Schluck Fenchel-Honig-Tee und loggte sich dann bei Twitter ein. Sie schielte über den Rand ihres Bildschirms und sah, dass der gut aussehende Kellner einer Blonden in einem ultraengen grauen Grobstrickpulli einen Espresso brachte. Welche Körbchengröße hatte die wohl? E? F? Sam tippte auf B, mit Ausfütterung dann zwischen C und D. Sie grinste triumphierend.

Der Kellner lächelte die Blonde an – das gleiche strahlende Lächeln, das er ihr geschenkt hatte. Sam verging das Grinsen augenblicklich. Aua, das tat weh! Aber, ach, Männer waren nun einmal so. Männer waren scheiße, da hatte Ina recht. Alles Schweine!

Sam zwang sich, wieder auf den Bildschirm zu starren. „Waffen aus Polizeidepot verschwunden“. Boah, gähn, die „Berliner Abendnachrichten“. Sam überflog den kurzen Text schnell. Offenbar waren am Donnerstagabend ein paar Pistolen aus den Beständen der Berliner Polizei „verloren“ gegangen. Na, sowas! Donnerstagabend vor einer Woche war doch erst der Hype um diese komischen Bombendrohungen in Tegel und Schönefeld gewesen. Aber was ging sie das an, ob Osama Ben Laden oder irgendein anderer Irrer die Kartoffeln mit ihren eigenen Waffen abballern wollte?!

„Ihr bringt uns noch alle um!“ twitterte Sam. Sie löschte den Tweet und fing nochmal von vorn an: „Ihr bringt uns noch alle um! Ein asiatischer Transmensch ist gestern in Kreuzberg ermordet worden und es interessiert keine Sau! #QueerPower #GetupStandupforYourRights“.

Sam starrte auf das kleine Kästchen mit den Trends. Statt #QueerPower trendeten #Bilderraub und #BerlinerGaleriederModerne. Sie lachte kurz und schrill auf. War das etwa eine PR-Aktion, damit mal wieder mehr Leute ins Museum gingen? Sie war bislang noch nicht in der neuen Ausstellung der Berliner Galerie der Moderne gewesen - „Die Freiheit nehm' ich mir! Berliner Künstlerinnen der Weimarer Republik“. Alev hatte einen kurzen Artikel dazu geschrieben, dem man aber leider angemerkt hatte, dass Alev nicht viel Ahnung von Kunst hatte. Na und? Sie war schließlich Soziologin, wenn auch Kultursoziologin. Georgia wollte sich die Ausstellung unbedingt noch ansehen und hatte Sam gefragt, ob sie mitkommen wollte, aber Sam hatte ausweichend reagiert. Im Moment konnte sie sich irgendwie zu gar nichts aufraffen. Vor allem, na ja, so ein paar angestaubte Bilder aus dem letzten Jahrhundert interessierten sie irgendwie nicht besonders. Das war doch sowieso Kartoffelkultur. Nichts Fetziges, Queeres jedenfalls.

Sam klickte wenig motiviert den Hashtag #Bilderraub an. Die „Berliner Abendnachrichten“ hatten auch dazu einen Artikel gebracht - „Bilderraub in der Berliner Galerie der Moderne“ lautete die Überschrift. Weil Alev mit der Ausstellung zu tun hatte und es so gesehen ja auch die „dicke Zicke“ betraf, beschloss Sam, sich einen kurzen Überblick zu der Angelegenheit zu verschaffen.

„In der Nacht zum Montag wurde aus der aktuellen Ausstellung der Berliner Galerie der Moderne ein Bild gestohlen.“ Ach nee. „Erst heute Morgen bemerkte der Sicherheitsdienst das Fehlen des Bildes 'Die Schwester der Künstlerin' der bislang wenig bekannten Malerin Meta Wiethold. Die Diebe müssen durch ein Toilettenfenster entkommen sein.“ Sportlich, sportlich. „Nach dem derzeitigem Ermittlungsstand wird davon ausgegangen, dass ein Ausstellungsbesucher sich am Sonntag in der Berliner Galerie der Moderne einschließen lassen hat. Er oder sie muss jedoch Komplizen gehabt haben, die bei dem Raub des Bildes und der anschließenden Flucht behilflich gewesen sind. Anwohnern war nach ersten Erkenntnissen in der Nacht nichts Ungewöhnliches aufgefallen. Eventuelle Lücken im Sicherheitskonzept des renommierten Museums werden derzeit geprüft. Da in der letzte Woche mit großem Medienecho eröffneten Ausstellung 'Die Freiheit nehm' ich mir! Berliner Künstlerinnen der Weimarer Republik' unter anderem Werke von Hannah Höch, Jeanne Mammen und Else Lasker-Schüler zu sehen sind, ist unklar, warum ausgerechnet ein Bild, das auf dem Schwarzmarkt kaum nennenswerte Preise erzielen dürfte, entwendet worden ist. Ansonsten ist kein weiterer Sachschaden entstanden.“

Hannah Höch, Jeanne Mammen und Else Lasker-Schüler – die Namen hatte Alev in ihrem Artikel erwähnt. Sam hatte nur behalten, dass die eine offenbar verquere Gedichte verfasst hatte – irgendwas mit Prinz Yussuf und Morgenland – der reinste Orientalismus, wenn der Islamische Staat hinter dem Bilderdiebstahl steckte, dann hätten die bestimmt eher deren Sachen geklaut! So aus Rache! -, die andere hatte Collagen gemacht und nur die mit dem französischen Namen war wirklich Malerin gewesen. Sam sagte das alles nichts.

Künstlerinnen, das waren für sie Cara Walker oder Cindy Shermann. Oder eben Leute wie Chooey. „Meta Wiethold lebte von 1920 bis 1931 in Berlin und gehörte kurzzeitig einer Lebensreformkolonie im Umland an. Ein Großteil ihres Werkes ist verschollen oder wurde von den Nationalsozialisten zerstört.“ Vermutlich war sie Jüdin gewesen. Sam öffnete ein zweites Fenster und googelte Meta Wiethold. Sie fand nur einen mageren Wikipedia-Eintrag. „Meta Wiethold, geb.: 05. Februar 1894 in Leschnitz, Ostpreußen, poln.: Leżnice, gest.: wahrscheinlich 1937 in Moskau, UdSSR. Deutsche Malerin der klassischen Moderne, in den zwanziger Jahren in Berlin tätig.“ Na toll. „Horst Kretschmer, der Direktor der Berliner Galerie der Moderne teilte mit, dass sein Haus am morgigen Dienstag wie gewohnt öffnen werde. Es bestehe kein Anlass, in den Ausstellungsbetrieb einzugreifen.“ Damit endete der Artikel der Berliner Abendnachrichten. Klang ganz so, als wüsste niemand etwas Genaues. Am Ende war es vielleicht tatsächlich nur eine schräge PR-Aktion. Oder Versicherungsbetrug oder so. Sam klickte wieder zurück in ihre Timeline.

Uli hatte getwittert: „Den Rechten die rote Karte zeigen! Gegen Pöbeleien im Netz + offline!“ Sam hatte keine Lust, sich alle 73 Kommentare dazu durchzulesen. Sie twitterte: „Ihr scheiß Nazi-Schweine! Ein Transmensch of Color ist ermordet worden + euch ist das egal! Man sollte euch alle abknallen! Schade, dass das mit der Bombe vorletzte Woche Donnerstag nicht geklappt hat!“

Sam wusste, dass Uli gelogen hatte, als er Ina ein Interview gegeben hatte und behauptet hatte, er fände es ganz toll, dass seine Frau Hanna sich die Beine nicht rasierte. Das sei so natürlich, er sei für Body Positivity, Frauen sollten sich in ihrem Körper wohlfühlen, so wie er nun einmal war. Das fände er als Mann ganz besonders sexy. Hatte er etwa gedacht, sie, Sam, sei als Halbasiatin von Natur aus so zerbrechlich-dünn? Na ja, vielleicht. Sam wusste ja, dass rassistische Vorurteile tief saßen. Womöglich nahm er auch an, dass Asiatinnen keine Körperbehaarung hatten. Und dass ihr Kopfhaar ihr so seidenweich und glatt über den Rücken floss, ohne dass sie nachhelfen musste. Dass sie mit feinen dünnen Linien als Augenbrauen geboren war. Dass sie nie Ringe unter den Augen hatte, selbst wenn sie nur drei Stunden Schlaf gekriegt hatte. Dass ihre Haut ganz von selbst immer so makellos rein war.

Sam brauchte morgens drei Stunden im Bad, um richtig Sam zu sein, so wie sie sie alle kannten und liebten – Uli eingeschlossen. Nicht zu vergessen ihre Ausflüge zum Klo nach dem Essen, die Abführmittel, das Fitnesstraining in jeder freien Minute.

Sam fror, obwohl es im Café viel zu warm war. Sie dachte an Uli, an seine Küsse, bei denen er sich immer etwas trottelig angestellt hatte, wie ein Schuljunge, der zum ersten Mal ein Mädchen küsst, etwas sabbernd, aber das hatte sie ihn natürlich nicht spüren lassen. Hanna hatte es vermutlich nie etwas ausgemacht. Aber Hanna war dumm. Also, nicht dumm, was Bücher anging, sie hatte offenbar Germanistik und Slawistik studiert, in Dresden, wo Uli und sie sich in einer linken Hochschulgruppe kennengelernt hatten. Aber sie war dumm, wenn's um Männer ging. Sie dachte, dass sie sie tatsächlich so mögen würden, wie sie war. Sie forderte nichts von ihnen, auch, weil sie unterbewusst wohl spürte, dass eine wie sie nicht viel fordern konnte.

Bei ihr, Sam, wurde Uli handzahm. Sein Blick, der eines kühlen, rationalen Denkers, der sich bei hitzigen Debatten so schnell nicht aus dem Konzept bringen ließ, wurde bei ihr zu dem eines bettelnden Hundes: gierig und notgeil, aber auch ängstlich und bittend, weil sie ihn immer erst einmal abwehrte. Das war kein Ritual, wie er wahrscheinlich annahm. In ihrem flachen, im Fitnessstudio durchtrainierten Bauch wuchs ein Wust an negativen Gefühlen heran, der größer und größer wurde, ein ekelhaftes, bösartiges Geschwulst, das alles wegfraß, was an Lebendigkeit in ihr drin war.

Sam fragte sich, ob es Formen von Krebs gab, die einen innerhalb von 24 Stunden umbrachten. Wenn ja, dann hätte sie gerne einen solchen Krebs, dachte sie pathetisch, ohne es ernst zu meinen. In Wirklichkeit war es vermutlich das Baby, das vielleicht ja sogar von Uli war. Oder doch von Jonas. Spaß gemacht hatte es ihr nie. Das heißt, es hatte ihr schon Spaß gemacht, nicht „es“ selbst, aber die Verführung, die Macht, die sie über Männer hatte, wenn sie sie angelockt und in ein Netz aus erotischen Gefälligkeiten verwoben hatte, sodass sie nicht mehr heraus konnten und sich ihr schließlich irgendwann hilflos zappelnd ergaben. Zuerst las sie ihnen jeden Wunsch von den Augen ab. Sie ließ sie die Machos sein. Egal, was sie behaupteten, wie sehr sie auch vorgaben, für Gleichberechtigung zu sein und den Feminismus zu unterstützen, in der Hinsicht waren sie alle gleich, da hatte Ina wirklich recht.

Im Netz war Uli der Frauenversteher. Aber was wusste er schon? Wenn man seine Tweets las, konnte man ihn tatsächlich für eine Schwuchtel halten. Da hatten diese rechten Kotzbrocken nicht ganz Unrecht. Auch wenn sie ihm in ihren Kommentaren nachbrüllten, dass er bei jeder Frau, die ein Flüchtling vergewaltigt hatte, in gewisser Weise mitvergewaltigt hatte. Sam biss sich auf die Lippen. Im Grunde war doch jeder Mann ein Vergewaltiger. Oder etwa nicht?! Sam sah das alles eigentlich ganz genau wie Ina.

Sie schaute kurz, welche Wirkung ihre Tweets erzielt hatten. Unter dem letzten hatten sich bereits 128 Kommentare angesammelt. Es fing gleich an mit: „Geh dahin zurück, wo du herkommst!“ - Das war der Klassiker. Dann hieß es: „Da wäre wohl eine Anzeige wegen Volksverhetzung fällig.“ Ein anderer rechter Hater hatte darauf geantwortet: „Nimm lieber Unterstützung einer terroristischen Vereinigung. Das Schlitzauge macht doch jetzt gemeinsame Sache mit dem IS. Der große Austausch geht der wohl nicht schnell genug!“, „Ach, ich wusste gar nicht dass diese Islamisten jetzt auf Transgender stehen.“, „Also, ich hab nix gegen Transen, bloß gegen Moslems.“, „Ich find beides total entartet!“, „An den Galgen mit denen!“.

Auch einige Pseudolinke waren ihr leider in den Rücken gefallen: „Was hat Chooeys Tod - Rest in Peace! - mit islamistischen Attentaten zu tun?“, „Sam, diesmal bist du zu weit gegangen!“ Ach, und ihr geht nie zu weit? „Sam, hast du schon mal überlegt, was Chooey von dem halten würde, was du hier zusammentwitterst?“ Er fände es gut, schon allein, weil die Mehrheitsgesellschaft es scheiße findet. „Ich finde deinen Tweet total kontraproduktiv, tut mir leid. Bislang weiß niemand, wer diesen Transgender-Künstler aus Korea ermordet hat + tut mir leid, jetzt mit dem IS zu kommen, macht ihn* auch nicht wieder lebendig!“ Tut mir leid, tut mir leid! Du tust mir auch leid!

Frauke Petersen, eine Kollegin von Alev von der Humboldt-Universität, hatte getwittert: „Sorry, hat jemand hier die Drukos gelesen? Sam wehrt sich mit ihrem Tweet gegen so etwas. Als Unterschichts- UND Flüchtlingskind überlegt sie nun einmal nicht vor jedem Wort! Eure Solidarität bitte!“ Danke, Frauke. Die Drunter-Kommentare der Rechten waren doch wirklich noch viel schlimmer als alles, was sie getwittert hatte. Warum maßen jetzt selbst die Linken so sehr mit zweierlei Maß? Na ja, es waren Alman Linke, Deutsche, die sich ihrer Privilegien nicht so bewusst waren und sich nicht die Mühe machten, mal über den Tellerrand zu schauen. Dann konnten sie sich ihre ganzen schönen Worte von wegen, dass sie angeblich so sehr gegen Rassismus waren und Multikulti so toll fanden, aber auch sparen. Es gab Sam einen Stich, dass Alev nichts Ermutigendes zu ihrem Tweet getwittert hatte, aber vermutlich hatte sie zu tun. Sam klickte kurz zu Alevs Twitter-Account rüber. Tatsache, sie war schon seit Freitag nicht mehr eingeloggt gewesen oder hatte zumindest nichts getwittert.

Sam sah, wie die Tür aufging und Bojana schnaufend auf sie zugelaufen kam. Paula pennte friedlich in ihrem Buggy. Der schnuckelige Kellner war nicht mehr da. Ein kleiner Dicker mit Glatze und einem peinlichen Goldkettchen, dass, selbst wenn es ironisch gemeint war, stupide wirkte, hatte seinen Dienst übernommen. Wie schade! Sam hatte einen Entschluss gefasst. Wenn kein Schwein sich für den Tod von Chooey interessierte, dann würde sie das eben selbst in die Hand nehmen. Sie übergab Paula samt Buggy an Bojana, klappte ihren Laptop zusammen und zahlte.

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