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Tonka: Berlin-Neukölln, November 2019, Donnerstag, früher Abend

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Als Tonka sich wieder vor ihren Laptop setzte, trendete auf Twitter gerade #Berlin #Tegel #Bombendrohung. Tonka hatte einen Tweet von Sam Ritter in der Timeline: „Oha! People of Color nehmen sich, was ihnen zusteht und Annika und Thomas drehen durch!“ - „Annika und Thomas“ war unter Queerfeminist*innen und Critical-Whiteness-Aktivist*innen eine beliebte Anspielung auf Astrid Lindgrens Pippi-Langstrumpf-Bücher: hier die charmanten, unkonventionellen „Anderen“, also queere Menschen und Menschen mit Migrationshintergrund - in der Rolle der Pippi Langstrumpf -, dort die braven, dummen Streber der Mehrheitsgesellschaft - Annika und Thomas.

Das Profilbild von Sam Ritter zeigte eine hübsche Asiatin mit auffallend hellem Teint und langen, seidig-braunen Haaren. Tonka mochte die Frauen rund um das hippe queerfeministische Magazin „Die dicke Zicke“, bei dem Sam Ritter als Redakteurin arbeitete, nicht besonders. Sie hatten Geld und beschäftigten sich schwerpunktmäßig mit Mode und cool sein. Trotzdem beanspruchten sie für sich, politisch überall ein Wörtchen mitzureden, es ging ja um ihre Körper und die seien eben politisch, so begründeten sie das. Davon abgesehen schlugen sie verbal auf jeden ein, der eine sachliche Diskussion beginnen wollte. „Linke Trolle“ nannten viele Medienleute die in den sozialen Netzwerken sehr aktive Clique um „Die dicke Zicke“ wohlwollend und so hatte Sam Ritter für ihren dämlichen Tweet auch bereits mehrere hundert Likes eingeheimst.

Tonka verstand nicht einmal genau, worum es ging. Sie klappte die Kommentarleiste aus. „Endlich zeigen wir den scheiß Nazi-Kartoffeln mal, wo der Hammer hängt!“ hatte ein Profil namens „FettundstolzdaraufduArsch“ geschrieben und dazu ein Foto gepostet, das eine stark übergewichtige Frau in einer pinken Burka zeigte, die angriffslustig die Fäuste geballt hatte. Tonka klickte den Account an: Natürlich war „FettundstolzdaraufduArsch“ selbst Deutsche, sogar blond und blauäugig, trotz des Gezeters von wegen „Nazi-Kartoffeln“.

Tonka klickte zurück zu dem Tweet von Sam Ritter. „Keine Ahnung, aber eine Bombendrohung? Da soll irgendwie gleich ein Flugzeug in die Luft fliegen, das lässt doch an 9/11 denken. Finde ich nicht so toll, was können denn all die Leute, die im Flugzeug sitzen, dafür?“ hatte „Zecke14093“ kommentiert. „Bullen_schreck“ hatte „Zecke14093“ geantwortet: „Da geht’s um zwei Asylbewerber, die aus Großbritannien abgeschoben werden sollten. Jetzt, mit Johnson und dem Brexit, herrscht da natürlich ein total rassistisches Klima, gegen das die zwei sich wehren. Hier eine Analyse von uns.“ „Bullen_schreck“ hatte einen Link beigefügt, „Revolution vom Rand“ hieß der Blog. Tonka hatte keine Lust, es zu lesen.

Basti kannte Leute wie „Bullen_schreck“. Ihr Mitbewohner bastelte gerade an seiner Promotion in Geschichte - irgendwas mit Frauen im Nationalsozialismus - und engagierte sich in seiner Freizeit für die Linke Partei in Neukölln. Im Moment war er gerade nicht da. Wahrscheinlich war er noch an der Uni oder er hing mit seinen Parteigenossen in irgendeiner angesagten Neuköllner Kneipe herum und diskutierte Politkram, vielleicht sogar über dieses mit Sprengstoff beladene Flugzeug mit den zwei abgeschobenen Asylbewerbern.

„KopftuchHülya“ hatte zu Sam Ritters Tweet angemerkt: „Die Kartoffeln sind Nazis und werden es immer bleiben. Denk an NSU!“. „FettundstolzdaraufduArsch“ hatte das geliked und hinzugefügt: „Absolut!“. Endlos viele Kommentare im selben Stil folgten. Weiter unten hatte „Andyderschonlängerhierlebt“ sich zu Wort gemeldet: „Fidschi-Fotze halts maul! Wenn Merkels Gäste Hier was Abziehen wie bei den amis 2001 bist du dran!“ - Es bestand kein Zweifel daran, wo „Andyderschonlängerhierlebt“ politisch stand. Ekelhaft!

Tonka klickte zurück in ihre Timeline. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Nichts, wenn sie ehrlich war. Allerdings wäre es vielleicht ganz sinnvoll, mal in Erfahrung zu bringen, was gerade in Tegel abging. Der RBB brachte ein GIF, in dem der Berliner Innensenator Albert Geyer mit wichtiger Miene irgendein Statement zu der Sache ablieferte. Tonka legte keinen Wert darauf, zu erfahren, was genau er sagte – wahrscheinlich sonderte er ein paar inhaltsleere Floskeln ab wie jeder Politiker, nur dass Geyer halt besonders gut darin war. Die „Berliner Abendnachrichten“ versprachen unter der Headline „Bombendrohung am Flughafen Tegel – Was wir bislang wissen“ eine kurze Zusammenfassung der Ereignisse. Tonka klickte auf den Artikel.

19 Uhr 30: In einem Schreiben bekennt sich die Terrororganisation Islamischer Staat zu den Bombendrohungen für die Berliner Flughäfen Tegel und Schönefeld. In beiden Flughäfen untersuchen unterdessen Sprengstoffexperten Gebäude und Gelände.

Die Verantwortlichen des Flughafen Tegel sind in Absprache mit Sicherheitskreisen bereit, die aus London kommende British Airways Maschine in Tegel landen zu lassen. Die planmäßige Landung der Maschine ist für 20 Uhr 10 vorgesehen. Wohnhäuser in der Nähe des Flughafens werden zur Zeit evakuiert. Der Berliner Innensenator Albert Geyer erklärt, dass es sich um eine reine Vorsichtsmaßnahme handele. Das Personal an Bord der British Airways Maschine habe weder Sprengstoff oder Ähnliches im Passagierraum finden können noch sei einer der Passagiere in irgendeiner Weise verdächtig aufgefallen. Im Moment bemühe man sich vor allem, die Passagiere, von denen einige die Berichterstattung online verfolgt hätten, zu beruhigen.

19 Uhr 25: Der Berliner Innensenator Albert Geyer verkündet, dass der Flugverkehr für die Berliner Flughäfen Tegel und Schönefeld eingestellt worden sei. Abflüge seien verschoben worden, Landungen seien auf Flughäfen in der Umgebung umgeleitet worden. Auch dort seien entsprechende Sicherheitsvorkehrungen getroffen worden.

19 Uhr 15: Nach der Bombendrohung für den Berliner Stadtflughafen Berlin-Tegel wird gemeldet, dass auch der Flughafen Berlin-Schönefeld eine Bombendrohung erhalten hat. Der Flughafen Tegel wird geräumt. Sprengstoffexperten sind auf dem Weg dorthin.

Gerüchte aus bislang noch unbekannter Quelle deuten darauf hin, dass das Flugzeug mit der Bombenfracht an Bord eine British Airways Maschine sein könnte, die in den frühen Abendstunden vom Londoner Flughafen Heathrow gestartet ist. Offizielle Stellen in Heathrow weisen jedoch daraufhin, dass die Sicherheitsüberprüfung sowohl der Flugzeuge als auch der Passagiere höchste Standards erfülle.

19 Uhr 10: Auf dem Flughafen Berlin-Tegel ist eine anonyme Bombendrohung eingegangen. Es sei Sprengstoff auf dem Flughafengelände versteckt. Zudem befinde sich Sprengstoff an Bord eines Flugzeuges mit dem Ziel Tegel, das innerhalb der nächsten Stunde landen und kurz davor über dem Flughafengelände explodieren soll.

Tonka schaute auf die Zeitanzeige ihres Laptops: 0 Uhr 5. Na gut, das musste sie mal wieder neu einstellen. Sie ging zu der Steckdose neben der Tür, wo sie ihr Handy gerade auflud. 19 Uhr 40. Als sie sich wieder vor ihren Laptop setzen wollte, hörte sie, wie sich ein Schlüssel in der Haustür drehte. Sie überlegte gerade, ob sie, was den Artikel der „Berliner Abendnachrichten“ betraf, auf Update klicken sollte, als die Haustür krachend aufsprang. „Hi Tonka!“ Basti musste gesehen haben, dass in der Küche Licht brannte. „Heute gibt’s was zu feiern! Ich hab den Job!“ Ihr Mitbewohner stand im Türrahmen.

Tonka sah, dass er feuchte Haare hatte und seine Jacke an den Schultern durchnässt war. Offenbar hatte es zu regnen angefangen. Basti fuhr meistens mit dem Fahrrad und nahm die U-Bahn nur, wenn es gar nicht anders ging. „Ich war gerade noch bei Netto.“ Er zog eine Flasche Rotkäppchen-Sekt aus seinem Bundeswehrrucksack.

„Also, der Reihe nach. Uli Kerber hat mich eingestellt!“ Kerber war der Spitzenkandidat der Linken Partei für die kommenden Senatswahlen. „Wenn Uli Bürgermeister wird, braucht er vielleicht noch jemanden zusätzlich. Aber für's erste bin ich da Mädchen für alles.“ Alle rechneten damit, dass die Grünenpolitikerin Maryam Husseini Berlins nächste Regierende Bürgermeisterin werden würde. Die Grünen lagen derzeit den Wahlprognosen zufolge bei über 24% und die Chancen standen sehr gut, dass wieder ein rot-rot-grüner Senat zustande kommen würde. Uli Kerber könnte dann Kultursenator werden und zu einem der zwei stellvertretenden Bürgermeister von Berlin aufsteigen. Es war allgemein bekannt, dass er dem liberalen, kosmopolitischen Flügel der Linken Partei angehörte, und sich auch privat gut mit Maryam Husseini verstand. „Und wenn er Kultursenator wird – wow, Tonka – Uli wird sich richtig ins Zeug legen. Vielleicht fällt dann auch für dich ein cooler Job ab!“ Basti grinste breit.

Tonka rang sich mühsam ein Lächeln ab. Sie hatte im Internet gerade etwas gesehen, das ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Das Worst Case Szenario war eingetreten. „Komm mal, Basti. Guck mal hier!“ Sie klickte das GIF an, das die Deutsche Alternative Brandenburg unter der Headline „Harte Worte, ehrliche Worte – Matzke spricht aus, was andere denken!“ gepostet hatte. Ein dicklicher Mann mittleren Alters mit raspelkurzen gräulich-blonden Haaren pestete eine junge Journalistin an: „Die Groko ist damit ja wohl erledigt! Angela Merkel täte wirklich besser daran, zurückzutreten, bevor die Leute ungemütlich werden! Ich bin Familienvater! Ich habe vier Kinder und eine Enkelin! Wie lange soll das noch so weitergehen, dass diese Araber, die Merkel ins Land geholt hat, hier Frauen vergewaltigen und mit dem Lastwagen in Weihnachtsmärkte rasen und jetzt auch noch diese Bomben in Tegel und Schönefeld! Wieder so etwas wie 2001 beim World Trade Center! Sie müssen doch zugeben, dass das kulturell nicht zusammenpasst! Für die Moslems ist es auch besser, wenn sie wieder dahin zurückgehen, wo sie herkommen! Wir von der DA haben nichts gegen Ausländer, wirklich, wir haben sogar welche bei uns in der Partei, aber das sind fleißige, anständige Leute, die dankbar für die Chancen sind, die man ihnen hier in Deutschland gegeben hat. Bei Mord und Totschlag ist für uns Schluss! Das ist falsch verstandene Toleranz! Merkel muss endlich weg!“ Im Hintergrund brandete Beifall auf. Die Journalistin, eine junge Frau mit dunkelblondem Kurzhaarschnitt wandte sich mit dem Gesicht zur Kamera: „Harte Worte von DA-Politiker Gregor Matzke im brandenburgischen Liebenau. Hier ist die Stimmung angespannt. Mehrere Leute haben sich auf dem Kirchplatz versammelt, um gegen Angela Merkel zu protestieren, unter ihnen auch einige Russlanddeutsche. Alla Krötzer ...“ An dieser Stelle brach das GIF ab. „Das ist der Mann meiner Cousine“ flüsterte Tonka. Basti stand stumm hinter ihr.

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