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Alev: Humboldt-Universität, Berlin-Mitte, November 2019, Donnerstag, früher Abend

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Das altehrwürdige Gebäude der Humboldt-Universität Unter den Linden war jetzt, am Abend, leer. Alevs Schritte hallten auf dem Linoleumboden. Sie hatte einen Stapel Bücher unter dem Arm und schwitzte entsetzlich. Der crèmefarbenen Mohairpulli, den sie trug, war viel zu warm. Na ja, wahrscheinlich war es auch der Stress. Oder sogar Angst? Irgendetwas, das zwischen Angst und Anspannung lag, lauerte tief in ihr drin. Das wusste sie. Es war ihr ständiger Begleiter und es meldete sich immer dann, wenn sie mal ein paar Minuten allein war und Zeit zum Nachdenken hatte. Leider.

Vor zwei Stunden hatte Alev ihren Aufsatz über die Tanzgewohnheiten türkischer Gastarbeiter in der Bundesrepublik der siebziger Jahre an „Social Science Today“ geschickt. Obwohl sie längst einen Doktortitel hatte - immerhin „Magna cum Laude“ -, fürchtete sie insgeheim immer noch, nicht gut genug zu sein. 'Da amüsieren sie sich jetzt drüber. Weil sie das Thema albern finden – ein Türkenthema, das sie nicht wirklich interessiert, nur dass sie zeigen wollen, wie aufgeschlossen sie sind. Weil es schlecht formuliert ist – aber ganz gut für eine Türkin, nicht wahr? Man will doch auch einmal solchen Leuten eine Chance geben. Unter normalen Voraussetzungen allerdings – ohne den Migrantenbonus ...' lästerte ihre innere Stimme.

Oberflächlich gesehen waren alle nett zu ihr. Im Grunde wollte jeder sie ermutigen, sogar die Doktoranden, die allesamt viel jünger als sie waren. Seit Alev denken konnte, war sie die Gastarbeitertochter gewesen, zu der man nett sein wollte. Nicht, dass sie nicht auch Erfahrung mit Rassismus gehabt hätte. Es war eher – einerseits förderten sie sie so sehr, von den Konkurrenzkämpfen, die viele ihrer Kollegen auszufechten hatten, war sie irgendwie ausgenommen, man behandelte sie nicht unfair, ganz im Gegenteil: man überließ ihr oft sogar den Vortritt, andererseits ärgerte es die Kartoffeln dann aber wieder und sie ließen sie spüren, dass sie nur die Türkin war, dass sie das alles eigentlich gar nicht verdient hatte – nur wegen Rostock-Lichtenhagen, wegen Hoyerswerda, Mölln und Solingen war sie Kultursoziologin, nur wegen der NSU-Mordserie, die man zynischerweise zunächst als „Dönermorde“ abgetan hatte, durfte sie an einer renommierten Uni wie der Humboldt-Uni Lehrveranstaltungen abhalten.

Es war paradox – je mehr man demonstrierte, dass man Menschen wie ihr nun endlich die lange vorenthaltene Anerkennung geben wollte, desto mehr hungerte Alev nach echter Anerkennung. Sie sehnte sich nach einem Lob, das ehrlich gemeint war und nicht in erster Linie der türkeistämmigen Migrantin galt. Sie machte sich davon abhängig, als sei sie eine unsichere 16jährige. Sie wollte wissen, was sie den Leuten wert wäre, wenn sie Anne oder Andrea heißen würde.

Nachdem Alev ihren Artikel abgeschickt hatte, war sie in die Geschwister-Scholl-Bibliothek rübergegangen und hatte Bücher abgeholt, die sie bestellt hatte – eine gerade erschienene, provokante Streitschrift zum Thema „Diversity“ aus den USA und ein paar andere Sachen, die sie für die Einführungsveranstaltung in Postcolonial Studies, die sie im nächsten Semester geben sollte, brauchte. Überhaupt – das war die Erklärung für ihr Schwitzen: Die Geschwister-Scholl-Bibliothek war heillos überheizt gewesen. Der ganze Bau war eine Fehlkonstruktion: die Luft war schlecht und die Plätze waren so knapp bemessen, dass Externe sie nur in den späten Abendstunden benutzen durften. Vielleicht sollte sie sich gleich in der Toilette noch ein bisschen frisch machen. Ein kleines Döschen Deospray musste sie noch irgendwo in der Handtasche haben. Sie hoffte, dass sich auf der Bluse, die sie unter dem Pulli trug, keine Schweißflecken gebildet hatten.

Irgendwann morgen musste sie außerdem noch die Zeit finden, sich auf das taz-Podium am Abend vorzubereiten. Gestern hatte sie sich mit Leyla Can getroffen, die ebenfalls an dem Podium teilnehmen würde. Leyla hieß eigentlich Nele und war Biodeutsche, aber sie hatte einen Türken geheiratet und war für ihn zum Islam übergetreten. Außerdem hatte sie sich einen neuen Namen gegeben. Warum wusste Alev nicht. Muslim konnte jeder sein, der den muslimischen Glauben für sich annahm. Man musste nicht aus der Türkei oder einem arabischen Land stammen. Aber vielleicht hatte Leyla-Nele ihren Kindern dumme Fragen ersparen wollen. Dass eine deutsche Frau mit einem Türken glücklich sein konnte, war immer noch zu viel für viele Kartoffeln. Es gab Gerüchte, dass Leylas Mann Murat, der als Rechtsanwalt arbeitete und sich bei der CDU engagierte, Kontakte zur Gülen-Bewegung haben sollte, und die eine oder andere Kartoffel, die sich nach außen hin progressiv und tolerant gab, dann aber darauf hinauswollte, dass Leyla Can in Wahrheit eine üble Islamistin war, die mit ihrem Gerede den Untergang des Abendlandes herbeiführen wollte, fand sich immer, ganz gleich, um was es gerade ging.

Dass Leyla freiwillig Kopftuch trug und dass sie es gewesen war, die darauf bestanden hatte, dass ihre Kinder nicht in die Kita gingen, sondern sie sich zu Hause um sie kümmerte, wobei Murat zwar ganz ihrer Meinung gewesen war, ihr aber keinerlei Vorschriften gemacht hatte – das wollte immer noch nicht in die Köpfe der Leute.

Genau darum sollte es morgen auf dem taz-Podium gehen – um selbstbewusste Muslimas und andere Women of Color, die mit ihrer abweichenden Lebenseinstellung immer noch allzu oft auf das Unverständnis der Mehrheitsgesellschaft stießen. Pluralismus meinte Vielstimmigkeit und das bedeutete, dass die Kartoffeln - gerade auch die, die sich als Ausländerfreunde gaben - lernen mussten, dass People of Color für sich selbst sprachen, anstatt sich sozialpädagogisch von der Mehrheitsgesellschaft betreuen und oftmals auch verbiegen zu lassen.

Alev hatte den Nachmittag gestern bei Leyla genossen. Sie hatte sie in ihrer großzügigen, geschmackvoll eingerichteten Wohnung in Schöneberg besucht, damit Leyla nebenher ein Auge auf ihre Kinder haben konnte und bei Tee und Keksen hatten sie so lange geplaudert, dass es Abend gewesen war, als sie endlich auf das taz-Podium zu sprechen gekommen waren. Leylas Türkisch war mittlerweile wirklich gut, doch die taz-Sache hatten sie dann schnell auf Deutsch abhandeln müssen. „Weißt du, Murat kommt bald nach Hause und da wollte ich gern das Essen fertig haben. Er hatte einen anstrengenden Tag in der Kanzlei ...“ hatte Leyla entschuldigend gesagt.

Alev musste die Texte, die sie für das Podium vorbereitet hatten, also morgen noch mal durchgehen und sie dann per Chat mit Leyla besprechen. Außerdem hatte sie um elf einen Zahnarzttermin, wie ihr jetzt siedend heiß einfiel.

Alev war so in Gedanken versunken, dass sie ihre Kollegin Frauke Petersen, die halb aus ihrem Büro getreten war, gar nicht bemerkt hatte. „Du gehörst auch zu denen, die kein Zuhause haben, Alev?“ fragte Frauke. Alev zuckte zusammen. „Ja.“ Sie lächelte fahrig. Und verwünschte sich sofort dafür. Karin, ihre Chefin, hatte ihr einmal im Vertrauen gesagt, dass das ein typisch weiblicher Reflex sei, den man ihnen im Zuge ihrer Sozialisation antrainiert hatte – dass Frauen immer nett und entgegenkommend wirken wollten. Genau deshalb nahmen Männer sie nicht ernst.

„Das heißt“ fuhr Alev dann mit etwas festerer Stimme fort „Ich treffe mich gleich noch mit Karin im Schmittkes. Sie wollte irgendwas mit mir besprechen, das nicht warten kann und hat in ihrem vollen Terminkalender sonst keine Zeit gefunden. Du kennst sie ja.“ Frauke nickte. Alev hatte ein gutes Verhältnis zu Karin Wolter. Die Professorin, die in den letzten Jahren mit bahnbrechenden Studien zu Gender, Queer und Critical Whiteness von sich Reden gemacht hatte und auch in den Medien oft zu Wort kam, lebte offen lesbisch und kannte daher viele der Probleme, sich als Minderheit behaupten zu müssen, mit denen auch Alev zu kämpfen hatte.

„Ich weiß nicht, ob du's schon mitgekriegt hast. Es gab 'ne Bombendrohung für die Flughäfen in Tegel und Schönefeld. Eine der ankommenden Maschinen soll über dem Flughafenkomplex explodieren, wie damals bei September Eleven ...“ Warum dann nicht gleich über dem Reichstag, dachte Alev. Frauke kiekste, was sonst gar nicht ihre Art war. „Der Islamische Staat soll schon die Verantwortung dafür übernommen haben. Dein Mann, ich hoffe doch ...“

Alevs Mann arbeitete bei einer Londoner Investmentbank. Soweit sie wusste, hatte er nicht vorgehabt, in diesen Tagen nach Berlin zu fliegen. Und mit dem IS hatte er schon gar nichts zu tun. Alev schluckte die Bitterkeit, die in ihr hochstieg wie eine ätzende, dunkle Flüssigkeit, hastig herunter. Sogar eine tolerante, gebildete Frau wie Frauke verfiel sehr viel schneller, als Alev gedacht hätte, auf die simple Rechnung Muslim = Terrorist, sobald ihnen der islamistische Terror ein bisschen näher kam als in den Abendnachrichten auf dem Fernsehbildschirm.

„Ismail ist in London, in der Bank.“ Alev bemühte sich, ruhig und freundlich zu klingen. „Er hat noch lange nicht Feierabend, aber danke, Frauke, es ist lieb von dir, dass du dir Sorgen um ihn gemacht hast.“

Alev lächelte wieder. Diesmal war es ein künstliches Lächeln. „Na dann“ sagte Frauke „Du kannst dir ja denken, was gerade auf Twitter abgeht. Das meiste sind vermutlich Fakenews. Aber ich wohne ja in Frohnau und ich würde gern wissen, ob die Straßen, ich meine, wenn in Tegel alles explodiert … Also, ich bin jedenfalls noch ein Weilchen hier, wenn du was brauchst ...“ Alev bedankte sich noch einmal bei der Kollegin. „Ich glaube, ich sollte Ismail eine SMS schicken. Und dann mal gucken, was überhaupt los ist. der RBB ist ja sicher schon vor Ort. Ich denke mal, die haben verlässliche Informationen. Aber ich will Karin auch nicht unnötig warten lassen.“

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