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Tonka: Berlin-Neukölln, November 2019, Donnerstag, früher Abend

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Müde ließ Tonka sich auf einen der Holzstühle vom Sperrmüll plumpsen, die in ihrer WG-Küche herumstanden. Sie überlegte kurz. Dann zog sie sich noch den heran, an dem das Geflecht der Rückenlehne aufgeplatzt war. Es wäre gut, jetzt ein wenig die Füße hochlegen zu können. Sie hatte das Gefühl, dass sie unten an den Beinen zwei dicke, brennende Klumpen hängen hatte. Das konnte ja heiter werden. Heute war ihr erster Tag als Aufsicht in der Berliner Galerie der Moderne gewesen und sie hatte nicht damit gerechnet, dass es so anstrengend werden würde. Dabei war sie froh, dass sie den Job hatte.

Ihr Master in Kulturwissenschaften hatte ihr nichts eingebracht. Während ihres Studiums hatte sie das eine oder andere Mal ein alternatives Kulturprojekt ehrenamtlich auf die Beine gestellt, mit anderen, die damals ebenfalls idealistisch und voller Tatendrang gewesen waren, und sie hatte gedacht, dass ihre Praxiserfahrungen sich eines Tages auszahlen würden. Doch nach dem Abschluss war die Luft plötzlich raus gewesen. Die Leute waren weg gewesen und die Motivation auch. Die Stadtteilmagazine überschlugen sich vor Lob für andere studentische Projekte und Tonka hangelte sich von einem öden Minijob zum nächsten. Zuerst war sie als Sekretärin in einem schäbigen Callcenter gelandet, das nach eineinhalb Jahren Weile pleite gegangen war. Danach hatte sie sich als Briefträgerin versucht, immer mit Dreimonatsverträgen. Als der erste verlängert worden war, hatte sie gedacht, dass sie bestimmt bis zur Entfristung durchhalten würde, doch der zweite Dreimonatsvertrag war dann nicht mehr verlängert worden.

Ächzend nahm Tonka ihre angequollenen Füße wieder vom Stuhl. Sie humpelte zu dem windschiefen Regal aus dem Baumarkt, wo sie ihren alten Laptop aufbewahrte, nahm ihn aus dem abgewetzten schwarzen Polyestertäschchen und baute ihn auf dem rot gestrichenen Holztisch auf. Den Tisch hatte sie selbst gestrichen, damals, als sie zu ihrem Freund Philipp und dessen Kumpel Basti in die WG in Neukölln gezogen war.

Die Sache mit Phil war schon vor einer Weile in die Brüche gegangen. Zuerst hatten sie einander noch stillschweigend geduldet. Dann hatte Phil die Promotionsstelle in Göttingen gekriegt und Claire, eine Übersetzerin aus Großbritannien, war in sein Zimmer gezogen. Claire war ganz nett. Vor allem war sie selten da. Sie schien ihr eigenes Leben zu haben, das vor allem aus einer Clique junger Leute aus aller Welt bestand, die tagsüber in Cafés und abends in diversen Clubs in Friedrichshain-Kreuzberg und Neukölln herumhingen. Manchmal blieb Claire auch zu Hause und übersetzte dann nächtelang irgendwelche Texte, um das Geld für die nächste Miete und weitere wilde Clubnächte zusammenzubekommen. Meistens klappte das ganz gut und Tonka fragte sich manchmal, wann und wie Claire die ganzen Aufträge an Land zog, wo sie doch so sehr mit herumhängen und Party machen beschäftigt war. Jetzt war ihre Mitbewohnerin für ein paar Tage nach Worcester gefahren, wo sie herkam, weil ihre ältere Schwester ein Kind bekommen hatte. Keine Ahnung, ob sie bleiben würde, wenn der Brexit erst einmal durch wäre. Vielleicht schaute sie sich zu Hause schon nach Stellenangeboten um.

Tonka beneidete sie fast ein wenig darum. Sie selbst konnte nicht einfach so die Koffer packen und sagen „Na gut, dann gehe ich eben wieder nach Hause.“ Ihr Zuhause war ja hier. Sie könnte allenfalls nach Mallorca ziehen, wo ihre Mutter lebte – mit Markus, ihrem neuen Freund, einem Künstler aus Westdeutschland, der eine Finca dort hatte. Markus war nicht gerade arm und Mutti, die gelernte Krankenschwester war, hatte auf Mallorca sofort einen Job als Arzthelferin bei einem deutschen Arzt gefunden. Na ja. In Berlin wimmelte es nur so von Spaniern, die in ihrer Heimat keine Jobs bekommen hatten, obwohl viele mehrere tolle Masterabschlüsse hatten und fast alle fließend Englisch sprachen. Da konnte sie wohl kaum mithalten. Es war zum Heulen.

Aber immerhin hatte sie jetzt den Job als Aufsicht in der Berliner Galerie der Moderne. Herr Ziegler von der Security hatte sogar gesagt, dass in den nächsten Tagen Stühle für sie aufgestellt werden würden – spätestens Anfang der nächsten Woche, so lange würden sie doch bestimmt noch durchhalten. Tonka war sich da nicht so sicher – so, wie sich ihre Füße im Moment gerade anfühlten. Aber sie musste morgen erst um zwei Uhr nachmittags wieder da sein – genug Zeit also, sich heute Abend zu entspannen und morgen so richtig auszuschlafen. Montag hatte sie dann ihren freien Tag und Dienstag wären die Stühle sicher da. Was zu lesen, um die Zeit totzuschlagen, durfte sie leider nicht mitnehmen.

„Ihr müsst schon darauf achten, dass die Leute nicht zu nah an die Bilder rangehen.“ hatte Herr Ziegler, den sie eigentlich Uwe nennen sollten, ihnen eingeschärft. „Das ist schließlich euer Job. Die Berliner Galerie hat auf Lichtschranken verzichtet, was vielleicht am falschen Ende gespart war, denn so piept nichts. Es kommt durchaus mal vor, dass irgendwelche Gören sich einen Spaß machen und mit Kuli ein Autogramm auf die Bilder kritzeln oder eine Frau dreht sich um und schlägt mit der Handtasche irgendwo gegen. Der Schaden kann dann in die Millionen gehen. Immerhin leben die Künstlerinnen nicht mehr. Was von deren Werk kaputt geht, bleibt für immer zerstört und einige der Sachen sind nur Leihgaben. Es kommt also auf euer Augenmaß an. Und immer schön höflich bleiben!“ hatte der Leiter der Security-Firma weiter ausgeführt. Rucksäcke mussten im Eingang an der Garderobe abgegeben oder in Schließfächer gesperrt werden.

Tonka fand die Ausstellung, die gestern eröffnet worden war, eigentlich ganz interessant - „Die Freiheit nehm' ich mir! Berliner Künstlerinnen der Weimarer Republik.“ Von dadaistischen Collagen über Gemälde der neuen Sachlichkeit, die oft unterkühlt und spröde wirkten, und frecheren, bunteren Bildern, die vermutlich dem Expressionismus zuzurechnen waren, bis hin zu experimentellen Schwarzweißfotografien war fast alles vertreten. Klar – Berlin war damals genau wie heute ein Mekka für Künstler und Kreative gewesen, ein Zentrum der Avantgarde in den wilden Zwanzigern und eine europäische Metropole, die für ihre Toleranz und Weltoffenheit bekannt gewesen war. Als die Werke, die sie in der Ausstellung zeigten, entstanden waren, hatte immerhin noch niemand ahnen können, dass nur wenige Jahre später die Nazis an die Macht kommen würden.

Ein Bild hatte es Tonka ganz besonders angetan: Rechts stand eine große blonde Frau im Profil, deren weißes Kleid sich im Wind zu bauschen schien. An der Hand hielt sie einen kleinen Jungen. Hinter ihnen war, dem Betrachter zugewandt, ein Mädchen zu sehen, das fröhlich lachte und ein Lineal und einen Bleistift in den Händen hielt. Links bildete ein großer Baum das Gegengewicht zu der Frau und den Kindern. In seinen Ästen hingen kleine rote Früchte, wahrscheinlich Kirschen. Hinter der Frau, waren bunte Flachdachhäuser zu sehen, die sich mit Grünflächen abwechselten und über allem strahlte ein blauer Himmel.

„Die Schwester der Künstlerin“ stand auf der kleinen weißen Tafel unter dem Bild. Die Malerin hieß Meta Wiethold. Tonka hatte eine Weile gegrübelt, ob sie den Namen irgendwo schon einmal gehört hatte, konnte sich aber nicht erinnern. Dann war Herr Ziegler - Uwe - an sie herangetreten und hatte sie gebeten, in den anderen Raum zu wechseln. „Hier macht Julia.“ Julia war eine dickliche Russlanddeutsche mittleren Alters. Sie hatte sich ein bisschen damit großgetan, dass sie einen speziellen Security-Lehrgang absolviert hatte - vom Jobcenter gefördert! - und war erstaunt gewesen, dass man Tonka einfach so eingestellt hatte. Julia hatte sogar einen Waffenschein. Das behauptete sie zumindest. „Dich hatte ich für den nächsten Raum vorgesehen, Tonka“ hatte Herr Ziegler gesagt. „Da sind die Bilder genauso schön.“

Tonka überlegte kurz, ob sie Meta Wiethold googeln sollte, verwarf den Gedanken dann aber. Sie wollte lieber ein bisschen auf Twitter rumdaddeln und dann noch E-Mails checken, obwohl sie nicht wusste, wer ihr hätte schreiben können – Claire vielleicht. Tonka loggte sich bei Twitter ein. Sie hatte einen Artikel über die Panda-Zwillinge, die im Berliner Zoo geboren worden waren, in ihrer Twitter-Timeline, Fridays for Future, Werbung für eine neue Netflix-Serie und die neuesten Erkenntnisse über den antisemitischen Anschlag in Halle. Die Kommentare dazu waren zum Kotzen: ein „Malte_DeutscheAlternativeJetzt“ war sich sicher, dass der Täter in Wirklichkeit ein Linker war und die „Lügenpresse“ und das „linke Establishment“ das zu vertuschen versuchten - „Die gehören doch alle an den Galgen!“ tat er seine Sicht der Dinge kund.

Gregor, der Mann von Tonkas Cousine Madlen, kandidierte in Liebenau, dem Dorf, in dem Tonkas Mutter aufgewachsen war, für die Deutsche Alternative. Es war wirklich zum Gruseln! Mit ihrem spitzen Gesicht, den künstlich aufgehellten Haaren, den blöden Kindern und dem beschränkten Mann, der in den Neunzigern ein Nazi-Schläger gewesen war, verkörperte Madlen alle Negativklischees, die die Leute über Ostdeutschland im Kopf hatten.

Zum Glück war Tonkas andere Cousine Susanne da ganz anders. Ihr Mann und sie waren beide Ärzte und lebten in Frankfurt am Main. Im Herbst vor vier Jahren hatten sie einen unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingsjungen aus Afghanistan als Pflegesohn bei sich aufgenommen. Aziz hatte mittlerweile eine Ausbildung zum Krankenpfleger begonnen und eine deutsche Freundin gefunden. Er war überhaupt nicht so wie Madlen und ihr blöder Mann Flüchtlinge darstellten – als „Rapefugees“, die Frauen sexuell belästigten, weil sie mit der sexuellen Freizügigkeit hier nicht klarkamen, oder „Merkels Goldstücke“, die hier nur in die Sozialsysteme einwanderten – da war sich vor allem Madlens Mann Gregor sicher. Dabei hatten Madlen und Gregor selbst eine Weile von Hartz IV gelebt.

Tonka klickte wieder zurück in ihre Timeline. Sie wollte sich lieber mit lustigeren Sachen befassen. In der Box mit den Trends, die ihr der Twitter-Algorithmus empfahl, ploppte #Berlin auf. Bis zur Senatswahl im Januar waren es noch ein paar Wochen. Vermutlich hatten ein paar Witzbolde zigmal die Wettervorhersage retweetet, damit Berlin trendete. Tonka scrollte noch ein bisschen durch ihre Timeline. Dann erhob sie sich unwillig von ihrem Stuhl und machte sich einen Tee. Sie durchforstete den Küchenschrank, in dem Basti seine beachtliche Teesammlung aufbewahrte. Tonka fand eine Packung Fencheltee, auf der das Logo einer Billigmarke prangte. Na prima! Sie selbst hatte ja neulich erst Kaffee gekauft, da würde Basti sich sicher nicht so haben.

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