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Die Ereignisse von damals, wie sie der Kunstkritiker Konrad Hallinger erlebt hat, Dezember 1920

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Sibylla rekelte sich auf Konrads Sofa. Nur ihr mit Spitzen besetztes, weißes Unterkleid hatte sie anbehalten. Als sie vor seiner Tür gestanden hatte, hatte Konrad sie eher widerwillig hereingelassen. Doch sie hatte alle Vorbehalte seinerseits geflissentlich ignoriert. Sie war bester Laune gewesen und hatte ihn bezirzt, wie sie es immer tat. Das war so eine Angewohnheit an ihr, die sie einfach nicht ablegen konnte. Er hatte sich von ihr einfangen lassen wie ein Stubenkater, der ausgebüxt war, um von den Freuden der nächtlichen Jagd in freier Natur kosten zu können, sich aber sogleich unsicher gefühlt hatte, so allein draußen, beäugt von den zahlreichen unbekannten Tieren der Nacht. Ohne großes Vorgeplänkel waren sie übereinander hergefallen.

Konrad hatte in den letzten Tagen unter starker Anspannung gestanden. Sibylla war ihm da im Grunde gerade recht gekommen war, wie er sich eingestehen musste. Sie war die Ablenkung gewesen, die er dringend gebraucht hatte. Letzten Sonntag war Antons Freundin Jette Krüger im Grunewald an der Krummen Lanke ermordet aufgefunden worden. Sie alle hatten sich gefragt, was Jette in der einsamen Gegend gemacht hatte.

Konrad hatte Mühe gehabt, seinen Freund Anton zu trösten. Ihm war einfach nicht eingefallen, was er hätte sagen oder tun können, um Antons Schmerz zu lindern. Zumal er selbst in gewisser Weise auch in die Angelegenheit verwickelt war. Vor ein paar Monaten, bevor er Meta kennengelernt hatte, hatte er eine kurze Affaire mit Henny Krüger gehabt, nichts Ernstes, Henny hatte die Trennung so leicht genommen, wie sie bereit gewesen war, mit ihm ins Bett zu gehen. Es hatte ihnen beiden gut getan und er war sich sicher, dass sie ihm die Geschichte mit Meta nicht übel nahm. Sie selbst hatte sich ja auch schnell wieder neu orientiert.

Der Tod war für ihn bislang immer etwas gewesen, das dafür gesorgt hatte, dass Menschen, die ihm wichtig gewesen waren, von einem Tag auf den anderen aus seinem Leben verschwunden waren. Er hatte irgendwann hingenommen, dass es eben so war und er daran nichts ändern konnte. Insofern war das Einzige, was Konrad jetzt fühlen konnte, eine große innere Leere. Er hatte Jette Krüger nicht gut gekannt, aber er hatte sie gemocht. Dass auch sie jetzt zu denen gehörte, die er nie mehr wiedersehen würde, hatte wieder ein kleines Stück seiner inneren seelischen Landschaft veröden lassen. Er glaubte nicht, dass Henny das verstehen würde.

Zu allem Überfluss war auch noch Meta irgendwie komisch gewesen. Sie hatte schuldbewusst gewirkt, wie Konrad mit einiger Irritation festgestellt hatte. Er hatte mehrfach nachbohren müssen, bis sie stotternd damit herausgerückt war, dass sie Jette kurz vor ihrem Tod auf der Friedrichstraße gesehen hatte, mit einem Unbekannten - ein junger Mann, dunkelhaarig und eher einfach gekleidet. Ob er der Mörder war? In ihrer Phantasie musste Meta es sich so zurechtgelegt haben.

„Ein Bewunderer wird er gewesen sein, der sie bei irgendeiner Gelegenheit singen gehört hat!“ hatte er ihre Bedenken zu zerstreuen versucht.

Leider gab es unzählige Männer, die entweder von Natur aus abartig waren oder aber so verroht aus dem Krieg zurückgekehrt waren, dass sie kaum noch etwas Menschliches an sich hatten. Erst im Juli war in Falkenhagen ein junger Schlosser festgenommen worden, der im dortigen Forst fast wahllos gemordet hatte, am liebsten Liebespaare, die Frauen hatte er außerdem vergewaltigt. Konrad fragte sich, was in den Köpfen solcher Menschen vor sich ging. Friedrich Schumann war im Krieg sogar mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet worden. Wahrscheinlich würden sie sich früher oder später der bitteren Wahrheit stellen müssen, dass auch Jette einer solchen Bestie zum Opfer gefallen war.

Konrad und Meta hatten schweigend auf den großen Sitzkissen auf dem Boden gesessen und Tee getrunken. Er hatte sich schließlich dazu durchgerungen, Meta zu erzählen, dass er es gewesen war, der die Krüger-Zwillinge mit den Leuten aus der Kunsthandlung Kettelheim bekannt gemacht hatte. Es hatte sich fast wie eine Beichte angefühlt. Aber warum zur Hölle eigentlich? Weil Sibylla eine gewisse Rolle dabei gespielt hatte?

„Sibylla ist das einziges Kind ihrer Eltern. Marie-Charlotte hat sie über die Maßen verwöhnt. Vielleicht ist sie deshalb so ...“ So ein Miststück, aber das hatte er vor Meta nicht laut ausgesprochen. „... so eigenartig. Jedenfalls hat Sibyllas Mutter nebenher Klavierunterricht und Gesangsstunden gegeben.

Auch Henny und Jette haben Unterricht bei ihr genommen. Als Töchter eines Bauern aus dem Umland hatten sie ihre Liebe zur Musik im Kirchenchor entdeckt. Doch ihr strenger Vater bestand darauf, dass sie nach der Schule eine Schneiderlehre absolvierten. Da sie sich dabei recht geschickt anstellten, ergatterten sie eine Anstellung in der Kostümbildnerei des Weimarer Hoftheaters. Während dieser Zeit lebten sie als Kostgängerinnen im Haus von Sibyllas Eltern. Natürlich wollten sie auch ihre musikalischen Fähigkeiten vervollkommnen, denn ihr großer Traum war es, ihr Leben eines Tages ganz der Musik widmen zu können.

Vielleicht hat Marie-Charlotte auch ein wenig gehofft, die beiden Mädchen aus einfachen, aber grundanständigen Verhältnissen würden einen mäßigenden Einfluss auf ihre eigene Tochter haben, die sich schon bald in beängstigender Weise zum Schlechten hin entwickelte.

Ich kannte Sibylla damals nur von ihren Besuchen auf dem Jagdschlösschen meines Onkels. Natürlich war ich als Heranwachsender geblendet von ihr, glaubte, in ihrer unkonventionellen Art und in ihrer Freizügigkeit eine besondere Reife zu erkennen, ein Maß an Lebenserfahrung, für das sie eigentlich noch zu jung war. Dass es gerade das war, was ihren Eltern aus gutem Grund Anlass zur Sorge bot, konnte ich damals noch nicht verstehen.

Henny und Jette habe ich erst sehr viel später in Berlin kennengelernt. Sibylla jedenfalls machte sich einen Spaß daraus, neben unerfahrenen Knaben wie mir sehr viel ältere Männer zu verführen und trieb auch sonst allerlei Schabernack. Wäre nicht ihr überragendes schauspielerisches Talent gewesen, das sich ebenso wie ihr schwieriger Charakter schon früh abzeichnete, so hätte es wohl ein böses Ende mit ihr genommen.

Henny verliebte sich in einen jungen Schauspieler. Er meldete sich, wie so viele damals, freiwillig an die Front und als er Heimaturlaub hatte, verlobten Henny und er sich. Was dann geschah, erscheint im Nachhinein betrachtet fast wie ein makabrer Scherz, wenn es nicht so traurig wäre.

Durch irgendein Missverständnis erhielt Henny die Nachricht, dass ihr Liebster gefallen sei. Jette, die schon damals nach Berlin wollte und wohl auch ein wenig gefürchtet hatte, ihre Schwester würde das Singen vielleicht aufgeben, wenn sie erst einmal verheiratet wäre, überredete sie, mit ihr in die Hauptstadt zu ziehen, auch, um auf neue Gedanken zu kommen und so die ärgste Trauer zu bewältigen.

Währenddessen kehrte Hennys Verlobter, der zu dem Zeitpunkt noch höchst lebendig war, nach Weimar zurück. Man muss ihm mitgeteilt haben, Henny habe die Verlobung gelöst und sich anderen Männern zugewendet oder aber er hat sich selbst etwas Derartiges zusammengereimt. Jedenfalls machte er sich erst gar nicht mehr die Mühe, nachzuforschen, wohin es Henny verschlagen hatte, sondern erschoss sich noch am Abend seiner Heimkehr.

Natürlich war Henny schockiert, als sie Wochen später davon hörte. Jette, die wohl selbst gewisse Zugeständnisse gemacht hatte, um Engagements für ihre Schwester und sich an Land zu ziehen, war höchst betrübt. Sie machte sich Vorwürfe, ihre Schwester in etwas hineingezogen zu haben, das ihr selbst mehr und mehr über den Kopf wuchs.

Just in dem Moment erwies sich, was ich der Fairness halber hinzufügen muss: Manchmal schafft es sogar Sibylla, über ihren Schatten zu springen und sich von einer ungeahnt liebenswürdigen Seite zu zeigen. Sie hatte von der prekären Lage der Krüger-Schwestern gehört und ließ, da sie mittlerweile selbst in Berlin lebte, ihre Kontakte spielen, um Henny und Jette den Einstieg in der fremden Stadt zu erleichtern. So lernte auch ich die beiden kennen. Ich bemühte mich, sie aus Sibyllas Dunstkreis wegzulotsen, da ich wusste, dass das auf Dauer nicht gut gehen konnte. Ich glaube, es ist mir auch ganz gut gelungen. Jedenfalls standen Henny und Jette bald auf eigenen Füßen.“

Meta hatte Konrad die ganze Zeit aufmerksam zugehört. Er hatte ihr auch gesagt, dass er eine Weile mit Henny Krüger zusammen gewesen war bevor er sie kennengelernt hatte. Sie hatte nur genickt, als hätte sie sich das schon gedacht. An dem Abend hatten sie nicht miteinander geschlafen. Konrad hatte sich wie ausgelaugt gefühlt und Meta hatte nicht gewollt. Seither hatte er sie nicht wieder gesehen.

Dafür war Sibylla gekommen. Dabei war sie erst neulich da gewesen. So oft beehrte sie ihn sonst nicht. Und jetzt lag sie auf seinem Sofa, ohne sich etwas dabei zu denken, und tat unschuldig wie ein Kind. Spielerisch stieß sie eines der großen Kissen zu ihm hinunter. Es landete mit einem dumpfen, schweren Klatschen vor Konrad auf dem Boden. Sibylla ließ ihren nackten Fuß in der Luft kreisen. Er war etwas mollig und hatte einen schönen, hochgewölbten Spann.

„Komm ins Bett, Konni! Mir ist kalt!“ zwitscherte sie. 'Dann nimm dir doch die Wolldecke! Zieh dich wieder an!' wollte Konrad sagen, aber er tat es nicht. Er brachte nicht mehr als ein tonloses „Nein“ heraus. Sie waren übereinander hergefallen und hatten einander hungrig geküsst, doch dann hatte Konrad unvermittelt von ihr abgelassen. „Ich kann jetzt nicht, Sibylla“ hatte er gesagt. „Mir ist nicht danach. Jette Krüger ist ermordet worden ...“

Sibylla hatte betroffen ausgesehen. „Wie furchtbar!“ Er hatte sich davor gescheut, Sibylla seine intimeren Gefühle mitzuteilen, weil er wusste, wie sie war. Sie würde es ausnutzen und einen Weg finden, ihn damit enger an sich zu ketten, allein um Macht über ihn zu gewinnen und das wollte er nicht.

So gesehen war Konrad fast erleichtert, als Sibylla unvermutet das Thema wechselte. „Die kleine Künstlerin, mit der du seit ein paar Wochen schläfst, die mit den fuchsroten Haaren ...“ fing sie an. „Sie hat keine roten Haare!“ fiel Konrad ihr ins Wort. „Im Licht der Sonne haben sie aber rötlich geleuchtet. Ich habe es genau gesehen. Sie hatte sie unter einer einer großen Ballonmütze versteckt. Wie ein Junge hat sie ausgesehen, deine kleine Künstlerin …“ „Sibylla!“ Konrad war jetzt ernstlich genervt, doch Sibylla ließ sich nicht abbringen.

„Ich sag's dir ja nur, Konni, weil ich dir einen guten Rat geben will. Sie hat so verhuscht ausgesehen. Sie hatte die Schultern hochgezogen, als hätte sie etwas zu verbergen, aber ein paar Haarsträhnen sind unter ihrer Mütze hervorgerutscht. Die Wintersonne war so intensiv an dem Tag! Das Licht, Konni, bringt die Wahrheit hervor! Sei lieber vorsichtig mit ihr! Sie zieht das Unglück an! In deinen verliebten Augen mag sie unschuldig und rein aussehen, aber auf Außenstehende wirkt sie manchmal, als sei sie nicht ganz von dieser Welt. Sie hat eine gewisse Vergangenheit. Sie wurde unter keinem guten Stern geboren. Das spürt man. Ich will dich ja nur warnen ...“

„Metas Haare sind hellbraun. Du hast dir das bloß eingebildet oder aber es war eine andere. Außerdem haben wir alle eine gewisse Vergangenheit“ sagte Konrad matt. Ihm widerstrebte es, vor Sibylla zuzugeben, dass er, was Meta betraf, zunächst selbst einer gewissen Verwirrung anheim gefallen war. Nachdem er sie auf einer Soirée in der Kunsthandlung Kettelheim gesehen hatte, war er zu einer Wahrsagerin gegangen und hatte sich aus der Hand lesen lassen. Er erinnerte sich noch an den Nachmittag. Der Zigeunerjunge, der neben dem Zelt der Wahrsagerin herumgelungert hatte, hatte ihm diese kitschige bunte Glasperlenkette aufgeschwatzt. Ihm war nichts Besseres eingefallen, als sie Meta zu schenken. Hatte sie sie eigentlich noch? Dass sie sie nie trug, wunderte ihn keineswegs. Es war ja wirklich billiger Tand.

„Deine Lebenslinie ist stark!“ hatte die alte Wahrsagerin gesagt. „Auch wenn deine Hände ansonsten so glatt sind wie die eines Kindes!“ Natürlich, er hatte ja bislang in seinem Leben nie härtere Arbeit geleistet, als einen Füllfederhalter oder ein Buch in der Hand zu halten. „Nur dass sie in der Mitte plötzlich abbricht. Das heißt, nein, sie ist noch zu sehen, nur sehr dünn!“

Die Alte hatte ein zahnloses Lächeln gelächelt. Ihre trüben Augen hatten ihn unverwandt angesehen. „Dich verlässt der Mut, sobald das Leben dich auf die Probe stellt. Dabei bist du stark genug, um es mit den Herausforderungen, denen du begegnen wirst, aufzunehmen!“ Sie hatte seine Hände getätschelt. „Satan wird dich in Versuchung führen! Der Nebel der Täuschung wird dich in die Irre leiten, doch wenn du meinen Rat befolgst, dass nicht alles Gold ist, was glänzt, dann wirst du auf den rechten Weg zurückfinden! Beschau dir nur genau, mit wem du es zu tun hast! Im Guten ist ein Stück weit auch das Böse enthalten, doch Satan versteht es, sich als Engel unter die Menschen zu mischen. So ist das Leben! Mache es dir also nicht allzu leicht, mein Sohn! Weiche Schwierigkeiten nicht aus, sondern gehe ihnen ganz im Gegenteil geradewegs entgegen!“

Konrad hatte nicht so recht gewusst, was er mit Rat der alten Zigeunerin anfangen sollte. Natürlich hatte sie ihm keine weibliche Begleitung für den Abend prophezeit. Er hatte eigentlich gar nicht geplant gehabt, mit Meta auszugehen und war sich auch danach nicht sicher gewesen, ob er sie wiedersehen wollte oder nicht. Er hatte mit ihr gespielt, wie mit so vielen Frauen und er wusste nicht, ob er sich mehr in das Spiel, in dem sie ihm eine so wunderbare Gefährtin war, verliebt hatte oder in die Frau.

Aber jetzt versuchte Sibylla Meta als eine Art Hexe darzustellen, vor der er sich in Acht nehmen sollte. Es war offensichtlich, dass sie eifersüchtig war und in Erfahrung bringen wollte, wie ernst es ihm mit Meta war. Wenn jemand eine diabolische Seite an sich hatte, dann Sibylla. Allerdings verbarg sie sie nicht. Sie war die Sündhaftigkeit in Person.

Ihre Anschuldigungen Meta gegenüber waren jedoch vollkommen haltlos. Da war er sich sicher. Es stimmte zwar, dass die Künstlerin etwas naiv und versponnen wirkte, wenn man sie nicht näher kannte, doch ihm war schnell klar geworden, dass sie durchaus sehr eigenwillig sein konnte. Ansonsten hätte er wohl auch schnell das Interesse an ihr verloren.

Die unterwürfigen jungen Mädchen, die man in den Kreisen seines Onkels zum Tanztee lud, hatten ihn nie gereizt. Er hatte es zu der Zeit vorgezogen, sich von Sibylla in die Freuden der körperlichen Liebe einführen zu lassen und Sibylla war es auch gewesen, die damals die Idee mit dem Gläserrücken gehabt hatte.

Er war fünfzehn gewesen, sie zwei Jahre älter. Es war das Jahr gewesen, in dem Albert Einstein mit der speziellen Relativitätstheorie Furore gemacht hatte, das Superjahr der Wissenschaft. Der Kaiser war damals noch in Amt und Würden gewesen, der Krieg hatte noch in weiter Ferne gelegen. Deutschland war die führende Nation in Europa gewesen. Zumindest hatten sie sich in ihrem Chauvinismus und in ihrer jugendlichen Naivität eingeredet, dass sie das Land der Erfinder und Entdecker waren, vor dem die europäischen Nachbarn sich wohl oder übel beugen mussten.

Er war ein gelangweilter, pubertierender Bengel gewesen, der den Schmerz darüber, dass seine Eltern so jäh aus dem Leben gerissen worden waren, tief in sich vergraben hatte. „Lass uns Kontakt mit ihnen aufnehmen!“ hatte Sibylla ihn gelockt. „Na, mit ihren Seelen! Du glaubst doch wohl nicht, dass man nach dem Tod zu Staub zerfällt und damit dann alles vorbei ist!“ hatte sie hinzugefügt und für ihn hatte es damals so ausgesehen, als würde sie ihn in ein weiteres Geheimnis der Erwachsenenwelt einweihen, das man ihm, dem braven Jungen, der so früh zum Waisen geworden war, bislang vorenthalten hatte. Und hatte die Wissenschaft nicht gerade aufgezeigt, wie viel sie sowieso alle noch gar nicht wussten?

Sibylla, die damals ja selbst noch ein Mädchen in der Adoleszenz gewesen war, hatte den Eindruck erweckt, genau zu wissen, was zu tun war, um die Geister der Toten zu beschwören. Aber natürlich war trotzdem nicht viel dabei herausgekommen.

Er hatte später gelesen, dass es unwillkürliche Muskelkontraktionen waren, die beim Gläserrücken das Glas bewegten. Und natürlich wusste er, dass Wahrsagerinnen ihre Kunden mit allerlei Hokuspokus und faulem Zauber umgarnten.

Trotzdem beunruhigte es ihn ein wenig, dass Sibylla sich in letzter Zeit immer mehr in krude theosophische Ideen verstieg. Sie redete ständig davon, dass es Wurzelrassen gab und die Menschheit dem Licht entgegen strebte. Sie befasste sich mit Wiedergeburt und den Bürden eines vorherigen Lebens, die es aufzuarbeiten galt. Sie selbst sei unter anderem eine vorderasiatische Tempel-Prostituierte gewesen und später eine französische Adlige, die noch vor der Hochzeit an Schwindsucht gestorben war, während ihr Verlobter bei den Schlachtzügen Wilhelm des Eroberers den Tod gefunden hatte. „Stell dir vor, Konni! Nicht einmal die Hochzeitsnacht war mir vergönnt!“ hatte sie gesagt. Vermutlich lag es daran, dass sie die körperliche Liebe in ihrem jetzigen Leben in vollen Zügen genoss. Sicherlich galt es außerdem, die Sünden der vorderasiatischen Prostituierten aufzuarbeiten.

Konrad lachte in sich hinein und hoffte, dass Sibylla es nicht bemerkte. Doch die war viel zu sehr damit beschäftigt, sich auf seinem Sofa in verschiedene Posen zu werfen, die Rokoko-Darstellungen Madame de Pompadours entlehnt zu sein schienen.

Sibylla hatte sich immer schon darauf verstanden, alles Mögliche, was sich in ihrem Leben ereignete, phantasievoll auszuschmücken. Sie hatte ihm erzählt, dass sie in die Rollen, die sie auf der Bühne spielte, immer einen Teil ihres Ichs aus einem vorangegangenen Leben legte. Konrad nahm an, dass ihr Interesse an der Theosophie daher rührte und im Grunde sehr oberflächlich war.

Er selbst hegte gewisse Vorbehalte der Theosophie gegenüber. Er glaubte nicht daran, dass Menschenrassen sich höher entwickelten, wie Charles Darwin es für Lebewesen im Allgemeinen beschrieben hatte. Darwin hatte darüber hinaus von einer Anpassung an die Umwelt gesprochen. Die Lichtmystik, von der Sibylla redete, musste in diesem Zusammenhang verworfen werden, so wichtig die Sonne gewiss auch für alles Leben auf der Erde war.

Er hatte Sibylla noch nie vor einer ihrer zahlreichen Dummheiten bewahren können und wenn er ehrlich war, war er sich auch nicht sicher, ob er es wirklich wollte. Es war eine Sisyphosarbeit – fruchtlos und frustrierend. Vergeudete Energie, darüber war er sich im Klaren.

Konrad seufzte. Es ärgerte ihn, dass es kaum etwas zu geben schien, das Sibylla wirklich berührte. Über Vorbehalte seinerseits und vorsichtige Versuche, sie auf Distanz zu halten, ging sie einfach so hinweg. Seine Gefühle ignorierte sie. Sie war sich zu sicher, dass sie bekommen würde, was sie wollte, wenn sie nur hartnäckig genug blieb und Missstimmungen zwischen ihnen konnten sie kaum erschüttern. Doch Konrad hatte keine Lust, ständig nach ihrer Pfeife zu tanzen. Irgendwann war immer der Punkt erreicht, wo sie ihm schlicht unerträglich wurde.

Sie hatte sich auf den Bauch gedreht und lag schräg über dem Sofa, die Beine abgewinkelt und den Kopf in die Hände gestützt. Sie musste ihn schon eine ganze Weile aus ihren sorgfältig geschminkten großen Augen angeschaut haben. Jetzt, wo sie seine Aufmerksamkeit, auf die sie so geduldig gewartet hatte, wieder hatte, verzog sie ihren Mund zu einer Flunsch und flötete: „Lass es uns noch einmal versuchen, ja, Konni? Du bist einsam, das sehe ich doch!“

Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Konrad wollte allein sein. Er wollte die Rezension eines Theaterstückes, an der er gerade arbeitete, zu Ende schreiben und sich dann bei einem Glas Rotwein einigen Textentwürfen für eine neue Avantgarde-Kunstzeitschrift widmen.

„Steh auf, Sibylla!“ sagte er barsch. „Zieh dich an und geh!“ Er starrte sie kalt an, um ihr zu verdeutlichen, dass er es wirklich ernst meinte. Sie hatte sich wieder auf ihr Gesäß gedreht und saß nun mit übereinandergeschlagenen Beinen auf dem Sofa. „Bitte!“ setzte Konrad hinzu. Er registrierte ein kurzes Flackern in ihren Augen. Dann erhob sie sich und zog sich wortlos ihre Straßenkleidung über.

„Deine kleine Künstlerin hat dir den Kopf verdreht, Konni! Das weiß ich und deshalb bin ich dir nicht böse! Aber du wirst noch an mich denken, das verspreche ich dir!“ ließ sie ihn wissen, als sie die Haustür öffnete. Er nickte stumm. „Natürlich, Sibylla. Dich vergesse ich nie!“ murmelte er dann matt. Da war sie allerdings schon weit genug die Straße hinabgegangen, als dass sie ihn noch hätte hören können. Trotzdem musste sie bemerkt haben, dass er ihr nachgesehen hatte, denn sie drehte sich noch einmal um und winkte ihm kurz zu. Ihr Lächeln war so herzlich, dass zufällig vorbeikommende Passanten denken mussten, sie hätten einen wunderbaren Nachmittag miteinander verbracht.

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