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Liebenau bei Berlin, September 1923, eine Szene aus der Nähe betrachtet

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Es stand da, mitten im Raum. Es trug ein Trikot wie Tänzer auf der Bühne und dazu passte auch der geschmeidige, muskulöse Körper. Doch es hatte den Kopf eines Monsters: Grobschlächtige, tierhafte Züge. Gefletschte Zähne, richtige Hauer, an denen geronnenes Blut zu kleben schien. Verfilzte, wirr durcheinander hängende Haarbüschel. Es war zweifelsohne ein Gast aus der Sphäre der Geister und Dämonen. Man kannte es als wasserspeiende Figur an gotischen Kathedralen. Da war es in Stein gehauen und dazu verdammt, regungslos auf dem Dach des Gotteshauses zu verharren. Hier handelte es sich jedoch um eine Schnitzarbeit aus dem südlichen Afrika. Dunkles, durchaus edles Holz. Es war ein Liebhaberstück, das den exquisiten Geschmack seines Besitzers zum Ausdruck brachte.

„Der einstige Sonnenstaat“ brach es als düsteres Grollen aus dem geschnitzten Maul der Tierfratze hervor. „Von den Strahlen des ewigen Lichts geküsst, der das goldene Geschlecht der Menschheit hervorgebracht hat …“ Die Worte ergriffen ganz Besitz von dem karg eingerichteten Studierzimmer, in dessen Mitte der junge Mann im Tänzertrikot stand.

In einem hellbraunen Lederohrensessel, dem einzigen Möbelstück, das etwas luxuriöser war, saß Sibylla, die Schauspielerin. An diesem Abend trug sie ein Kleid aus dunkelrotem Samt. Es hatte Puffärmel und reichte ihr bis zu den Waden. Ihre Füße waren nackt. Ihr braunes Haar hatte Sibylla nachlässig aufgesteckt. Einzelne Strähnen fielen ihr dabei als kunstvoll gedrehte Korkenzieherlocken bis auf die Schultern. Ihre Miene verriet keinerlei Emotion. Sie war so starr wie die hölzerne Maske des Tänzers.

„Atlantis, die versunkene Stadt, war zum Untergang verdammt, eingefroren im arktischen Eis ...“ deklamierte dieser. „Das steinerne Tal, das die Menschheit nach dem Sündenfall durchschreiten musste … Die Steppe des südlichen Afrika, die das Zeitalter der Jäger und Sammler hervorbrachte … Dann das semitische Zeitalter, das uns Pharisäer und Pfaffen bescherte ...“

Hinter Sibylla auf dem Schreibtisch lag ein kalkweißer Totenschädel. Es sah aus, als ob er die Szenerie aus seinen leeren Augenhöhlen aufmerksam beobachten würde. Sein blankes, noch im Jenseits vollständig erhaltenes Gebiss schien dabei höhnisch zu grinsen.

„Doch anders als Pharisäer und Pfaffen es uns glauben machen wollen, bestand die Sünde nicht in der Sexualität, nicht in der Lust, im handfesten physischen Begehren, das schließlich jedem Tier innewohnt ...“ Der Mann im Tänzertrikot hob seine Arme mit einer einstudierten Geste über den Kopf, die vage an das Flügelspreizen eines Pfaus erinnerte.

„Nein, die wahre Sünde bestand in einer krankhaften Überbetonung des Intellekts, der in Wirklichkeit eine Gabe Satans ist. Er scheint den Menschen vom Tier auf den ersten Blick vorteilhaft abzusondern und doch ist er sein größtes Verderben. Man kann hunderte von Büchern gelesen haben, man kann ein stocksteifer, bebrillter Bücherwurm sein und doch dümmer als der dümmste Dackel, der seinem Herrchen schwanzwedelnd hinterhertrottet und jede hingehaltene Hand artig leckt.“

Neben der Tür saß noch ein Mann. Auch er war noch jung, trotz der leichten Schatten, die sich unter seinen Augen abzeichneten. Er trug sein dunkles Haar etwas länger. Seine markanten Gesichtszüge und die erhabene Adlernase erinnerten an die Profile der antik-römischen Kaiser. Allerdings stammte der Dunkelhaarige aus einer ganz anderen Ecke Europas.

„Die Mächte der Finsternis flüsterten den Menschen ein, sie sollten die ihnen angeborenen Instinkte zurückdrängen und sich ihres Verstandes gleich einer Maschine bedienen – blutleer und leblos! Im semitischen Zeitalter wurde die Menschheit zu einem Schatten ihrer selbst, ein abgenagter Haufen Hühnerknochen, der die Welt um sich herum in eine Wüste verwandelt hat und nun in der spottenden Sonne verrottet. Das Reich der Phantasie und alles Schöpferische und Sinnliche haben sich in weite Ferne verflüchtigt – Atlantis, die versunkene Stadt, der einstige Sonnenstaat!“

Der Mann im Tänzertrikot vollführte erst eine nachlässige Pirouette und riss sich dann mit theatralem Schwung die Maske vom Gesicht. Er wirkte jünger als er eigentlich war, denn er war schon Anfang dreißig. Etwas milchgesichtig sah er aus, was vielleicht an seinem sehr hellen Teint lag. Sein rotblondes, leicht gewelltes Haar reichte ihm bis zum Kinn. Sein starker, durchtrainierter Körper wies ihn in der Tat nicht als Büchermenschen aus. Allerdings befanden sie sich in der Studierstube seines Hauses, denn ihm, Adalbert von Zitzewitz, gehörte das Landgut in der Nähe von Berlin, wo sich Sibylla, der Dunkelhaarige mit der Adlernase und gelegentlich auch andere, seelenverwandte Menschen trafen, um ihrem gemeinsamen Interesse an mittelalterlicher Alchemie, der Philosophie des Orients und des fernen Ostens, zeitgenössischen esoterischen Strömungen und altem satanischen Geheimwissen nachzugehen. So vielseitig die Leute um den jungen Adalbert von Zitzewitz herum interessiert waren, waren sie allerdings doch geneigt, dem spirituelles Erbe Nordeuropas den Vorzug zu geben.

„Aus den Nebeln der eisigen Nordmeere steigt Walhall, die Heimstatt der Krieger empor“ sprach Adalbert von Zitzewitz nun mit einer Intonation, die Stolz und auch eine Spur Hochmut erkennen ließ. „In allen arischen Hochkulturen, von Sparta und dem antiken Rom bis hin zu den alten Ägyptern, den Perserkönigen und den indischen Großmogulen war die Kriegerkaste die herrschende Kaste. Bis das semitische Denken, das uns die Mächte der Finsternis gesandt haben, festlegte, dass über ihr eine armselige Gelehrten- und Priesterkaste zu stehen habe, die die Lebenskraft und den Kampfesmut in den Menschen unterdrückte. Aber die Mächte des Lichts werden über Finsternis und Verdammnis siegen! Altantis, das im arktischen Eis eingefrorene Reich der Phantasie, wird von der Sonne, unserer Lebensspenderin, geküsst werden und wiederauferstehen! Der Wille zur Rebellion ist da! Der Wille zur Macht ist unaufhaltsam und wird unerbittlich alle Pharisäer und Pfaffen und ihre erbärmlichen Diener hinwegfegen und sich für die erlittene Epoche der Unterdrückung rächen!“

Adalbert von Zitzewitz starrte verzückt zur Decke und faltete die Hände vor seiner Brust. Währenddessen betrachtete der Dunkelhaarige mit der Adlernase Sibylla gedankenverloren, als wolle er herausfinden, welche Wirkung die Worte von von Zitzewitz auf sie hatten. „Dafür locken die honigsüßen Gesänge holder Jungfrauen, deren Blondhaar wie Gold in der Sonne glänzt. Sie sind die Gespielinnen der Asen, jener nordischen Kriegerkaste, die Blüten der Götterdämmerung, die das neue, heroische Zeitalter einläuten wird!“ fuhr von Zitzewitz fort. Der Dunkelhaarige fixierte Sibylla.

Von Zitzewitz ließ sich vor Sibylla auf die Knie sinken. Die Schauspielerin sah ihn mit glasigen Augen an. „In den Wäldern erblicke ich zwischen den Bäumen weghuschend den bleichen Leib einer Frau. Ihr Blick streift mich leicht und flüchtig wie ein Windhauch“ flüsterte von Zitzewitz in jener gut vernehmlichen Art, wie Schauspieler sie sich für die Bühne antrainieren. Der Dunkelhaarige hatte Sibylla fest im Blick. „Doch ich schmecke die tiefe schwarze Erde in meinem Mund. Das Mondlicht gibt dem Haar meiner Angebeteten die Farbe der deutschen Eiche. Die Mondfrau habe ich gesehen, die Göttin der Fruchtbarkeit und der Nacht - Persephone und Bellona, die antike Göttin des Krieges, Gullveig, die nordische Seherin!“

Von Zitzewitz küsste Sibyllas nackten Fuß. „Sie läuft mit federleichten Schritten über das kühle, feuchte Moos und in mir erwacht der Jäger.“ Der Dunkelhaarige hatte sich unterdessen von seinem Stuhl erhoben und stand nun hinter Adalbert von Zitzewitz. „Sie lockt mich, sie sieht um sich und lacht. Ich krieche durch die schlammige Erde, denn in mir lodert das Feuer der Nacht. Dunkel und sinnlich zieht sie mich in ihren Bann.“

Von Zitzewitz umfasste Sibyllas rechte Wade, küsste sie und schmiegte seine Wange an das weiche, weiße Fleisch ihres Unterschenkels. „Der Tau rinnt als süßer Nektar durchs Eichenlaub herab und tropft mir wie glühend heiße Lava über die Haut. Die Sünde lockt, das Weib mit ihrer Macht, entführt den Jäger in die Tiefe der Wälder und Odin rauscht in einem höllischen Galopp auf seinem Ross an uns vorbei.“ Er glitt mit seinen Händen ein Stück höher. Sibylla ließ es mit sich geschehen.

„Der Eros, in sterilen Wortgebilden tausendfach verleugnet und mit der Zuchtpeitsche der verlogenen Moral der Pharisäer und Pfaffen erschlagen, revoltiert in mir als Urgewalt.“ Seine Stimme klang jetzt fast bedrohlich, wie das angriffslustige Zischen einer Schlange. Der Dunkelhaarige stand unbewegt hinter ihm und ließ Sibylla nicht aus den Augen. „Oh, Sibylla, lass uns heimkehren nach Atlantis!“ stöhnte von Zitzewitz. Er löste sich ein Stück weit von ihrer Wade und sah zu der Schauspielerin hoch: „Sibylla, spürst du Atlantis, die strahlende Sonne, die sich aus dem ewigen Eis erhebt, um unserer Phantasie und unserer Schöpferkraft wieder Leben einzuhauchen?“ Er strich mit seiner Hand an der Innenseite ihres Schenkels herauf, berührte sie dabei aber kaum noch. Dann ließ er unvermittelt von ihr ab.

Sibylla starrte ihn ausdruckslos an. Er betrachtete sie mit einer gewissen Verwunderung, stellte seinen linken Fuß auf und erhob sich langsam.

„Sibylla, spürst du Atlantis?“ frage er noch einmal leise, aber eindringlich. Sibylla zeigte keine Reaktion. Sie saß mit erstarrter Miene in ihrem Sessel, als wäre sie mumifiziert. Nach einer Weile hob sie schließlich die Schultern leicht. Wer nicht genau hinschaute, dem wäre es gar nicht aufgefallen. Dann ging plötzlich ein Ruck durch den Körper der Schauspielerin und sie verfiel in wilde Zuckungen. Ihre Arme und Beine zappelten hilflos umher. Ein paarmal schlug sie mit ihren nackten Füßen hart auf die Bodendielen auf.

„Spürst du Atlantis?“ flüsterte von Zitzewitz, der jetzt leicht gebückt vor ihr stand. „Spürst du Atlantis, Sibylla?“ Die Schauspielerin, die eben noch wild in ihrem Ohrensessel herumgezappelt hatte, sank in sich zusammen. Einen Moment lang sah es so aus, als würde sie ohnmächtig werden. Sie verdrehte die Augen und nur das Weiße war noch zu sehen. Dann ertönte aus ihrem Mund eine seltsam hohe und klare Stimme: „Die Strahlen der ewigen Sonne haben mich geküsst! Die Mächte des Lichts dulden keine Verräter! Gehe tief in die Erde, wo das rote Magma glüht! Gehe nach Westen, wo die Sonne untergeht, um das Zeitalter der Finsternis zu beenden!“

Schweißtropfen perlten von Sibyllas bleicher Stirn. Von Zitzewitz hörte ihr aufmerksam zu. Der Totenschädel grinste gleichmütig auf dem Schreibtisch vor sich hin. Der Dunkelhaarige mit der Adlernase schnippte mit den Fingern und Sibylla erwachte wie aus einem bösen Traum.

Nachdem eine dunkle Limousine die Schauspielerin abgeholt und zurück nach Berlin gebracht hatte, holte Adalbert von Zitzewitz eine Flasche Whiskey aus seiner Vorratskammer. Er hatte vor dem Krieg in Amerika gelebt und verwünschte den Tag, an dem er nach Deutschland hatte zurückkehren müssen. Das alte Landgut in der brandenburgischen Provinz, das einst seinen Großeltern gehört hatte, eignete sich jedoch ganz hervorragend für seine Zwecke: Berlin war nicht allzu weit entfernt und dennoch lag es einsam genug, als dass sich jemand näher für das interessiert hätte, was hier vor sich ging. Die Dorfbewohner versoffen ihr Geld lieber im Dorfkrug und so lange ihnen keine Kuh von der Weide abhaute und sich auf sein Grundstück verirrte, musste er auch nicht befürchten, von ihnen behelligt zu werden.

Von Zitzewitz schenkte dem Dunkelhaarigen mit der Adlernase ein. „Mein Lieber, wollen wir uns nun der hellenischen Sünde widmen? Der Kulmination der Verbindung von Eros und reinster Spiritualität? Die wahrhaft maskuline, soldatische Liebe? Ich denke doch, dass du den Auftrag selbst ausführen willst. Oder irre ich mich?“ Der Dunkelhaarige schwenkte sein Glas leicht und betrachtete die bernsteinfarbene Flüssigkeit darin eingehend. Dann nippte er vorsichtig daran. „Ganz hervorragend, Bertel!“ flüsterte er mit heiserer Stimme, bevor er das ganze Glas in einem Zug austrank. „Und nein, du irrst in keinster Weise!“ Von Zitzewitz nahm das Gesicht des Dunkelhaarigen in seine Hände und küsste ihn erst auf die Stirn, dann auf den Mund, während der andere seine Hände langsam über seinen Rücken gleiten ließ ...

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