Читать книгу Liebenau - Anna Laelia Seewald - Страница 9

Alev: Bistro „Schmittkes“, am Bahnhof Friedrichstraße, Berlin, November 2019, Donnerstag, ca. 20 Uhr

Оглавление

„In Tegel haben sie Sprengstoff gefunden. Außerdem haben sie alle Landungen gestoppt und auf Flughäfen in der Umgebung umgeleitet. Na ja, das wird jetzt mal wieder Stress für die Leute, die gerade im Flieger sitzen. Und wenn die Bombe doch nicht an Bord der British Airways Maschine ist, sondern irgendwo anders, dann explodiert sie halt in Leipzig oder Hannover statt hier ...“ Karin Wolter sah nachdenklich aus. Die Professorin, die Mitte 50 war und kurze graue Haare hatte, betrachtete den Bildschirm ihres Smartphones. Dann blickte sie auf. „Ich bin froh, dass es deinem Mann gut geht, Alev“ sagte sie. Alev lächelte. Schon wieder lächelte sie. Allerdings war Karin ja kein Mann, der sie klein machen wollte, nur weil sie zu nett wirkte. „Danke, Karin.“ sagte Alev. „Ismail sorgt sich ein bisschen darum, dass es islamophobe Stimmungen anheizen könnte.“

Auf dem Weg zum Schmittkes hatte sie sich kurz in eine Seitengasse verzogen, um zu gucken, ob Ismail schon auf die SMS, die sie ihm von ihrem Büro aus geschrieben hatte, geantwortet hatte. Er hatte, natürlich: „Ich bin noch in der Bank, Alev. Pass auf dem Heimweg auf dich auf, nicht jeder wird verstehen, dass du als Muslima nichts mit den Bombendrohungen zu tun hast.“ Es war so lächerlich! Ismail achtete darauf, seine täglichen fünf Gebete zu verrichten, weil es ihm, wie er sagte, spirituelle Kraft gab. Er fastete auch an Ramadan. Für ihn war es eine persönliche Prüfung, der er sich jedes Jahr wieder stellen wollte, wie der Kampf, den er Tag für Tag gegen sich selbst führte – gegen Egoismus, Faulheit und Gier und allerlei andere bösartige Eigenschaften und Regungen, die er in sich zu spüren glaubte. Alev und die Jungen beließen es dabei, während des Ramadans auf ein paar liebgewonnene Angewohnheiten wie Fernsehen und Süßigkeiten zu verzichten. Das Zuckerfest feierten sie dann alle zusammen in ihrem Cottage in Großbritannien. Wie konnte man auf die Idee kommen, ihre Familie und sie mit den bärtigen Fanatikern des Islamischen Staates in einen Topf zu werfen?

Alev presste die Arme an ihren Brustkorb. Wie sie befürchtet hatte, hatten sich auf ihrer weißen, Bluse mit den beigen Streifen Schweißflecken gebildet. Auch im Schmittkes, einem der Bistros unter der S-Bahntrasse am Bahnhof Friedrichstraße, das häufig von Mitarbeitern der Humboldt-Universität frequentiert wurden, war es ziemlich warm, sodass sie ihren Mohairpulli ausgezogen hatte.

Alev hatte Hähnchenbrust und Salat bestellt, obwohl sie gar keinen Hunger hatte, Karin, die Veganerin war, Ratatouille mit Quinoa. Für Studenten war das Schmittkes schon seit Jahren viel zu teuer, aber die hatten tagsüber diverse Fach- und AStA-Cafés an der Uni, wo es Kaffee für 50 Cents gab.

Ein junger Kellner, der bestimmt auch an der Humboldt-Uni studierte, brachte das Essen. Karin beugte sich zu Alev vor. „Was ich eigentlich mit dir besprechen wollte, Alev ...“ Die Professorin hatte einen vertraulichen Tonfall angeschlagen. „... Ich weiß nicht, ob du schon von der Ausstellung 'Die Freiheit nehm' ich mir! Berliner Künstlerinnen der Weimarer Republik' in der Berliner Galerie der Moderne gehört hast ...“ Hatte sie. Allerdings nur als Randnotiz in den „Berliner Abendnachrichten“. Alev spielte Klavier seit sie zehn war. Für bildende Kunst hatte sie sich nie sonderlich interessiert.

„... eine bislang wenig beachtete Künstlerin. Nur in der DDR hat man ihr eine Monographie gewidmet.“ Karin schaute sie erwartungsvoll an. „Entschuldige Karin, ich war in Gedanken noch ganz bei dieser Bombendrohung. Es tut mir wirklich leid, aber ich habe nicht richtig zugehört.“ Alev stocherte verlegen in ihrer Hühnerbrust herum. Karin lächelte gütig. „Na ja, das verstehe ich doch, dass du dir Sorgen machst. Vielleicht hilft es dir, auf andere Gedanken zu kommen. Also, in der Ausstellung hängt ein Bild von einer Künstlerin, die bislang noch wenig erforscht ist – Meta Wiethold. Linda meinte, vom kunsthistorischen Standpunkt her wäre es nicht so interessant – neue Sachlichkeit mit expressionistischen und kubistischen Anleihen, für die Zeit damals allerdings ein bisschen sehr gefällig.“

Linda Hagenau war Juniorprofessorin für Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität, eine Spezialistin für die klassische Moderne, die sich außerdem mit Genderforschung und Postcolonial Studies befasste. „Mich interessiert die Künstlerin“ fuhr Karin fort. „Sie ist 1931 in die UdSSR gegangen, zunächst mit dem Architekten Erich Seidel und seiner Frau Klara in den Kaukasus, dann allein nach Moskau, wo sie später im Zuge der stalinistischen Säuberungen umgekommen ist. Davor hat sie eine Weile in einer Lebensreformkolonie in Liebenau, hier ganz in der Nähe, gelebt, wo sie vermutlich auch die Seidels kennen gelernt hat. Das Bild, das in der Ausstellung hängt, ist aber wohl in Metas Heimat, in Masuren, entstanden. Es ist von 1927 und zeigt ihre Schwester Elisabeth. 1928 hing es in einer Ausstellung in der Galerie Kettelheim. Wo es dann hin verschwunden ist, wissen wir nicht. Es gab offenbar einen Überfall von SA-Schlägern auf die Galerie. Friedhelm Kettelheim ist 1933 in die USA emigriert und dort 1956 gestorben.“

Karin zog ein kleines Büchlein aus einem Jutebeutel, das aussah, als hätte es lange in irgendeinem Bibliotheksmagazin vor sich hingemodert. „Das hier ist die DDR-Monographie über Meta Wiethold. Sie ist von Annegret Böhm. Natürlich hat Böhm, die zeitweise die Kunsthalle Magdeburg geleitet hat, wo auch ein Bild von Meta Wiethold hängt, als DDR-Kunsthistorikerin vor allem Metas kommunistische Einstellung hervorgehoben, Du weißt ja wie das damals bei denen im Osten war. Manchmal nervt das beim Lesen etwas. Also, ich hatte das Gefühl, das darüber andere Aspekte aus Meta Wietholds Leben zu kurz kommen. Aber die Böhm war in der SED, so eine ganz 150% Linientreue, und so klingt das, was sie schreibt, leider auch ...“

Karin nahm einen Löffel von ihrem Quinoa-Ratatouille und blies drüber, um sich nicht den Mund zu verbrennen. „Das Buch ist von 1986. Annegret Böhm war bei der Wende Professorin für Kunstgeschichte in Leipzig, wurde zum Sommersemester 1991 allerdings vorzeitig in den Ruhestand versetzt. Vor vier Jahren ist sie gestorben. Linda hat einen kurzen Text über Meta Wiethold für den Ausstellungskatalog zu der Ausstellung in der Berliner Galerie der Moderne geschrieben. Den Ausstellungskatalog habe ich dir natürlich auch mitgebracht.“

Karin zog ein weiteres Buch aus dem Jutebeutel, das größer und dicker aussah und brandneu war. Eine Collage aus Schwarzweißfotografien zierte das Cover. „Linda meinte, das Thema Meta Wiethold müsste eigentlich noch einmal von Grund auf neu erforscht werden. Sie arbeitet derzeit an einem Aufsatz, wobei sie sich allerdings auf die Bildsprache der Künstlerin konzentrieren will. Meta war als junge Frau in Paris, vor dem Ersten Weltkrieg, gehörte aber ansonsten keiner Künstlervereinigung an, sieht man mal von dem Kreis um Friedhelm Kettelheim ab.“ Karin schob sich noch einen Löffel Quinoa-Ratatouille in den Mund.

Dann fuhr sie fort: „Ich dachte mir, dass da wir ins Spiel kommen, genauer gesagt, du. Du könntest dich ein bisschen schlau machen über diese Kolonie in Liebenau und über den Künstler- und Literatenzirkel um Friedhelm Kettelheim. Wenn Linda und du die Monographie zusammen machen könntet, wäre das ideal. Ich schreibe dann das Vorwort. Linda hat angeboten, am Sonntag mit dir zusammen die Ausstellung zu besuchen. Du bist doch noch nicht anderweitig verplant? Eine bessere Führerin als Linda könntest du gar nicht haben!“

Alev sah an Karins Gesichtsausdruck, dass sie erwartete, dass Alev zusagte. Ihre Chefin war zwar ein freundlicher Mensch, manchmal geradezu mütterlich, obwohl Karin keine Kinder hatte - natürlich, sie war ja lesbisch -, aber die Professorin hatte nie einen Zweifel daran gelassen, dass sie die Leitwölfin war und von ihren Mitarbeiterinnen Unterordnung erwartete, was eben bedeutete, dass sie es war, die die Entscheidungen traf und zwar alle Entscheidungen. Ab und zu war Karin richtig autoritär. Einwände ließ sie nicht gelten und bei langatmigen Erklärungen, warum jemand dieses oder jenes nicht tun konnte oder jedenfalls nicht in der vorgegebenen Zeit, hörte sie gar nicht erst hin.

„Ich weiß, du kommst eigentlich von der Musikwissenschaft her, aber das Thema ist spannend. Über die zwanziger Jahre gibt es haufenweise Literatur und Linda ist wirklich sehr kompetent, was die klassische Moderne betrifft“ versuchte Karin Alev zu überzeugen. Alev nickte.

Sie war erst letztes Wochenende in Großbritannien gewesen, um Ismail und ihre Söhne Dilhan und Timur zu sehen, die ein englisches Internat besuchten – ein Glück, dass diese Bombenleger erst ein paar Tage später zugeschlagen hatten! Na ja, und dann noch der Turm Bücher, den sie für das Proseminar in Postcolonial Studies, das sie im nächsten Semester geben würde, abarbeiten musste. Morgen das taz-Podium, für das sie sich am Nachmittag nach ihrem Zahnarzttermin mit Leyla Can per Chat kurzschließen musste – wenn sie sie erreichte. Hoffentlich!

… Also hätte sie am Samstag Zeit, sich den Ausstellungskatalog anzuschauen, um auf den Besuch in der Berliner Galerie der Moderne vorbereitet zu sein. „Natürlich, Karin, ich würde das sehr gerne übernehmen.“ Die Professorin lächelte. „Na siehst du! Das wusste ich!“ sagte sie mehr zu sich selbst.

Liebenau

Подняться наверх