Читать книгу Zwischen Puff und Barcelona - Ben Redelings - Страница 6
ОглавлениеWie Maier die Luft aus dem Schwachsinn ließ |
Bald wird er wieder zelebriert, der „Deadline Day“. Zeit, diesem aufgeblasenen Massenbelustigungs-Schwachsinn am Ende der Transferfrist etwas entgegenzusetzen. Zum Beispiel Sepp Maier und einen echt wahnsinnigen Anti-Transferrekord.
Der „Deadline Day“. Am 31.08. ist es so weit. Unglaubliche Spannung, riesige Summen – aufgeblasener Schwachsinn. Es wird Zeit, diesem grotesken Massenbelustigungs-Spektakel etwas entgegenzusetzen. Zum Beispiel einen echten, wahnsinnigen Rekord.
Vor 49 Jahren, am 20. August 1966, startete ein gewisser Josef Dieter, besser bekannt unter seinem Rufnamen „Sepp“, Maier eine unglaubliche Serie. 442 Bundesliga-Partien stand der Torwart des FC Bayern München ununterbrochen im Kasten des Rekordmeisters. Das sind 13 komplette Spielzeiten am Stück für ein und denselben Verein. Kein „Deadline Day“ dieser Welt kann eine spektakulärere Geschichte schreiben als diese.
Und es hätte ewig so weitergehen können, denn Sepp Maier hatte einen festen Plan: „Erst wenn ich Moos auf den Knien habe und die Kameraden mich beim Einlaufen stützen müssen, dann höre ich auf.“ Doch der 14. Juli 1979 veränderte alles. An diesem Tage geriet das Auto des Bayern-Torhüters ins Schleudern und krachte auf regennasser Straße in ein entgegenkommendes Fahrzeug. Es waren die Sekunden, in denen eine große Karriere zu Ende ging. Knapp 24 Stunden nach seinem verheerenden Autounfall fragte die Presse bereits, ob die „Bayern nun einen neuen Torwart holen“ müssten. So ist das Geschäft. Ohne Sentimentalität und ohne ein Gedächtnis. Das musste auch der Weltmeister Maier in diesen Tagen schmerzhaft erfahren. 13 lange Jahre hatte er kein einziges Spiel verpasst und nun das. Katsche Schwarzenbeck gab die einzig richtige Antwort in diesem Moment: „Mich interessiert jetzt wirklich nicht, wer nun bei uns im Tor steht oder ob wir einen anderen Keeper kaufen müssen. Am wichtigsten ist, dass der Sepp schnell wieder gesund wird!“
Und diese Gesundheit hing tatsächlich am seidenen Faden. Am Ende war es Uli Hoeneß, der Sepp Maier das Leben rettete. Als er den Torwart im Krankenhaus besuchte, war Maier nicht der Maier, den der Bayern-Manager kannte. Hoeneß war betroffen. „Sepp, da stimmt doch was nicht. Du brauchst sofort einen Spezialisten“, rief der Ex-Mannschaftskamerad und rannte augenblicklich aus dem Zimmer. Auf Hoeneß’ Drängen wurde Maier in ein anderes Krankenhaus verlegt. Das beherzte Einschreiten seines Freundes rettete dem Torhüter damals das Leben.
Die heute undenkbare Folge von 442 Partien am Stück konnte Maier nur erreichen, weil er auch mit kleineren Blessuren weiterspielte. Nach einem Tritt mit der Stiefelspitze eines gegnerischen Stürmers in die Rippen erzählte der Bayern-Tormann statt zu klagen lieber etwas Humorvolles: „Kennt ihr den Witz vom Neger [dieses Wort galt damals noch nicht als anstößig, Anm. d. Autors], der beim Krieg zweier Stämme einen Speer in die Brust bekommt? Ein anderer fragt den Verletzten: ,Tut’s weh?‘ Er antwortet: ,Nur beim Lachen.‘ Und so ähnlich geht’s mir auch.“
Maier sagte einmal: „Verletzen kann man mich schon, aber ich habe ein gutes Ersatzteillager.“ Er begründete seine Robustheit damit, dass er einer vom Lande sei, der von klein auf mit „Körnern gefüttert“ wurde. Die körperliche Unempfindlichkeit habe jedenfalls nicht an einem speziellen Fitnesstraining gelegen – denn das gab es erst gar nicht: „Bei uns früher sind die Eisen im Keller verrostet.“ Und verletzte er sich doch einmal, so konnte er auch auf seine Fans zählen. Der Rentner Kurt Preisenberger, der damals die Fanpost des FC Bayern betreute, erinnert sich: „Als einmal bei einem Spiel dem Sepp Maier drei Zähne eingeschlagen wurden, kam am nächsten Tag ein Eilpäckchen mit drei Ersatzzähnen.“ Maiers ultimativer Trick: Er stand auch im Winter barfuß in seinen Schuhen. „So habe ich mehr Gefühl für den Boden“, schmunzelte der Bayern-Keeper.
Am Ende fiel Maier der Abschied schwer. Denn als er wieder fit war, durfte er nicht spielen. Er war sauer und rief stark angetrunken mitten in der Nacht bei seinem Trainer an, um sich Luft zu machen. Er fühlte sich schlecht behandelt von seinem Coach: „Als Csernai noch Lorants Assistent war, kroch er mir in den Hintern. Ich habe ihm zum Cheftrainerposten mitverholfen, dafür lässt er mich jetzt hängen.“ Csernai reagierte besonnen: „Ich habe doch nicht diesen Unfall gebaut, sondern Sepp! Die lange Zeit, die er wegen seines Unfalls von der Mannschaft getrennt war, hat ihn verändert. Er lebte nur noch in seiner eigenen Welt. Als er zurückkam, machte er nur noch Stunk, das hat ihm die Mannschaft nicht verziehen. Sepp hatte nicht bemerkt, dass mit den anderen in seiner Abwesenheit etwas vor sich gegangen war. Es war plötzlich eine fremde Mannschaft, die er noch dazu durch seinen Unfall in eine schlimme Lage gebracht hatte. Jeder von uns wusste doch, wie der Sepp immer mit dem Auto rast. Der Sepp soll zufrieden sein, dass er noch lebt. Dafür sollte er dankbar sein.“
Diese Erkenntnis setzte sich langsam, aber stetig bei Maier durch. Zum Saisonende war endgültig Schluss: „Fußball, das war meine Welt, meine große Welt! Zuletzt, als ich nur noch auf der Tribüne gesessen bin, als das Flutlicht angegangen ist, habe ich erst gespürt, was mir der Fußball wirklich bedeutet. Jedes Mal lief mir eine Gänsehaut den Rücken runter. Früher, als ich voll dabei war im Spiel, hab ich doch nie mitbekommen, was das für eine Atmosphäre ist!“ Nach 473 Spielen sagte Sepp Maier der Bundesliga vorerst Adieu. Sein Rekord wird als sein Vermächtnis ewig bestehen bleiben. Die diesjährige Rekordablösesumme dürfte hingegen beim nächsten „Deadline Day“ bereits wieder Geschichte sein.