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»Imposante Neuformung«

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Inzwischen hatten die Nazis die Macht im Deutschen Reich übernommen. Am 30. Januar 1933 wurde Adolf Hitler zum neuen Reichskanzler ernannt, nachdem seine NSDAP eine Koalition mit der Deutsch-Nationalen Volkspartei gebildet hatte. Am gleichen Montag hieß eine Schlagzeile der örtlichen Presse: »DSC wieder Gaumeister«, aber die stand nur hinten im Sportteil, denn die Titelseiten wurden von der Politik beherrscht.

Zwei Tage später, am Mittwochabend, veranstaltete die SA gemeinsam mit dem »Stahlhelm«, der Kampftruppe der Deutschnationalen, einen großen Marsch durch Dresden. Mit tausenden Fackelträgern und mehreren Musikzügen wollte man demonstrieren, dass eine neue Zeit angebrochen war, eine Epoche, die tausend Jahre währen sollte. Eine Stunde lang dauerte der Vorbeizug der Kolonnen. Der Marsch endete am Rathausplatz, wo sich laut »Dresdner Anzeiger« eine »unübersehbare Menschenmenge« versammelt hatte.

Unter den Zuschauern, die teils fasziniert, teils angewidert die Szenerie beobachteten, befanden sich auch Ida und Helmut Schön. Der Junge hatte seine Mutter überredet, trotz des nasskalten Winterwetters mit zur Kundgebung am Rathaus zu gehen. Nun stand sie kopfschüttelnd neben ihm, zitterte vor Kälte und klagte: »Und zu so etwas muss ich mit.«

Als Ida Schön nach Hause kam, fühlte sie sich schwach und krank. Aus der Unterkühlung entwickelte sich eine Grippe, von der sie nicht mehr genesen sollte. Sie starb Ende März, im Alter von nur 52 Jahren.

Helmut Schön schilderte den »verhängnisvollen Spaziergang« eindringlich in seiner Autobiografie. Beim Lesen wird deutlich, welchen Einschnitt der Vorfall in seinem Leben bedeutete. »Noch heute«, bekannte er dort, »mache ich mir deswegen Vorwürfe«. Umso mehr muss es ihn als Jugendlichen bewegt haben. Wie er darüber hinwegkam, dazu schrieb er nichts. Aber es ist zu vermuten, dass der Fußball ihm dabei half.

Ein Reich der Freiheit, eine eigene Welt, losgelöst von der gesellschaftlichen Realität, wie sie sich der junge Schön am Schreibtisch erträumt hatte, bildete der Sport jedoch unter dem NS-Regiment weniger denn je. Schon in der Weimarer Zeit war er stark weltanschaulich geprägt gewesen. Die Kirchen hatten ihre eigenen Sportorganisationen, ebenso die sozialistische Bewegung. Deren Arbeitersportgruppen waren politisch so explizit gewesen, dass sie sich noch einmal aufgespalten hatten: in den SPD-nahen Arbeiter-Turn- und Sportbund sowie die Kampfgemeinschaft für Rote Sporteinheit, die der KPD nahestand. Beide Verbände wurden nun von den Nazis verboten.

Der DFB hatte sich demgegenüber als unpolitisch definiert, was insofern stimmte, als seine Mitglieder grundsätzlich allen politischen und religiösen Strömungen anhängen konnten. Doch auch dort wurde um ein grundlegendes Verständnis des Sports gestritten: Weltoffene Kosmopoliten, die Sport als Mittel der Völkerverständigung erachteten, standen auf der einen Seite; deutschnationale, teils völkische Ideologen, die den Sport als Mittel zur »Wehrhaftmachung« des Volkes sahen, auf der anderen. Letztere bildeten die Mehrheit der Führungskräfte um den DFB-Präsidenten Felix Linnemann, weshalb die Nazis kaum auf Widerstand stießen, als sie auch den Fußball der »Neuordnung des deutschen Sports« unterwarfen. Die Regionalverbände wurden bald aufgelöst, der DFB als »Fachamt Fußball« dem »Deutschen Reichsbund für Leibesübungen« eingegliedert und das Führerprinzip durchgesetzt.

Auch Dresdner Sportvereine beeilten sich, den neuen politischen Verhältnissen zu huldigen. Der traditionsreiche Dresdner Ruderverein schaffte sich ein neues Paradeboot an, das »Adolf-Hitler-Achter« getauft wurde »zu Ehren des Kanzlers«. »Turnen und Sport stehen im Dienst von Volk und Vaterland«, hieß es Anfang März balkendick im »Dresdner Anzeiger«, und nach den letzten halbwegs freien Reichstagswahlen sollte sich zeigen, was damit gemeint war. Am 5. März 1933 holte die NSDAP reichsweit 43,9 Prozent der Stimmen (Wahlkreis Dresden-Bautzen: 43,6 Prozent), was zur Fortführung der Hitler-Koalition ausreichte. Ab jetzt wurde durchgegriffen.

Mitte April verbreitete der (noch existierende) DFB eine Erklärung, nach der »Angehörige der jüdischen Rasse« fortan »in führenden Stellungen« von Vereinen und Verbänden nicht mehr tragbar seien. In Dresden ging der örtliche »Kommissar für Leibesübungen«, Sturmführer Arno Schiefner, noch einen Schritt weiter. Er proklamierte am 24. April im »Dresdner Anzeiger«: »Ich erwarte von allen dem Dresdner Hauptausschuß für Leibesübungen angeschlossenen Verbänden, daß sie ohne Rücksicht auf die zu erwartenden Beschlüsse ihrer übergeordneten Stellen den Arierparagraphen analog der Deutschen Turnerschaft annehmen und durchführen. Dieser Paragraph der Deutschen Turnerschaft verpflichtet alle Vereine, alle jüdischen Mitglieder aus ihren Reihen auszuschalten. Der Angriff der Juden wird nicht durch den Glauben, sondern durch das Blut bestimmt. Jude ist, wer von jüdischen Eltern stammt. Es genügt, daß ein Teil der Großeltern jüdischen Blutes ist. Eine Selbstverständlichkeit ist, daß Marxisten nicht in die deutschen Leibesübungen treibenden Verbände gehören.«

Diese Forderungen Schiefners gingen deutlich über das hinaus, was zu jener Zeit seitens der NS-Oberen oder des DFB verlangt wurde, und setzten die Dresdner Vereine erheblich unter Druck.

Nur eine Woche später saß Sturmführer Schiefner als Ehrengast im Großen Saal des Gewerbehauses, wo der Dresdner SC einen großen Festakt beging. Gefeiert wurden das 35-jährige Bestehen des Vereins und die Erfolge sowohl in der mitteldeutschen Meisterschaft wie im mitteldeutschen Pokal. Als Ehrengast waren auch der ehemalige DFB-Vorsitzende Prof. Ferdinand Hueppe anwesend sowie diverse Verbandsvertreter. Vor den versammelten Honoratioren und Vereinsmitgliedern legte der DSC-Vorsitzende Hermann Püschel ein deutliches Bekenntnis zum Hitler-Regime ab: »Mit Liebe und Begeisterung«, so zitierte ihn der »Dresdner Anzeiger«, »stelle sich der DSC. rückhaltlos hinter die Bewegung der nationalen Erneuerung und erachte die Mitarbeit als hohe Pflicht.« Im Saal hingen neben DSC-Fahnen auch Hakenkreuzflaggen.

Als die Vereinszeitung im Januar 1934 auf das zurückliegende Jahr blickte, war aus dem »Vorsitzenden« Püschel bereits der »Vereinsführer« Püschel geworden, der zum Jahreswechsel »ein ersehntes, deutsches Erwachen« pries: »Da schätzen wir deutsche Sportler uns besonders glücklich, daß wir mithelfen dürfen an dieser machtvollen, imposanten Neuformung, die als Grundlage eine durch sportliche Uebung gestählte, in Kameradschafts- und Gemeinschaftssinn herangewachsene deutsche Jugend benötigt.« Im Inneren des Heftes, das auch eine Anzeige des örtlichen Nazi-Hetzblattes »Der Freiheitskampf« samt Hitler-Porträt aufwies, wurde stolz verkündet: »Es verschafft mir eine besondere Genugtuung, sagen zu können, daß alle die programmatischen Neuerungen, die durch die Gliederungen des Sportes in das nationalsozialistische Programm bekanntgemacht wurden, fast ausschließlich in unserem Klub schon bisher zur Anwendung kamen. Es gab somit Hemmungen zur Durchführung dieser Maßnahmen überhaupt nicht.« Ob damit auch ein Ausschluss von Juden aus dem Vereinsleben gemeint war, geht daraus nicht hervor.

Bedauerlicherweise ist die politische Geschichte des DSC während der NS-Zeit noch nicht erforscht. Die Quellenlage ist dürftig, fast alle Dokumente wurden im Krieg zerstört, das Vereinsarchiv ebenso wie die meisten Unterlagen in den amtlichen Archiven. Nach Angaben des Sächsischen Hauptstaatsarchivs sind lediglich die formal gehaltenen und wenig aussagekräftigen Eintragungen im Vereinsregister erhalten. Ihnen ist zu entnehmen, dass der Dresdner SC am 18. April 1935 eine neue Vereinssatzung beschlossen habe. Über deren Inhalt wird nichts ausgeführt, doch es ist anzunehmen, dass sie einen Arisierungsparagrafen enthielt.

Es gibt einige (recht vage) Hinweise, dass der Verein vor 1933 Juden gegenüber zumindest keine ablehnende Haltung einnahm. So kam 1926 Trainer Lori Polster (selbst kein Jude) vom jüdischen Verein Bar Kochba Dresden, um die DSC-Fußballmannschaft zu betreuen. Vom DSC wechselte er später zu Tennis Borussia Berlin, das für seine relativ hohe Zahl jüdischer Mitglieder bekannt war und wo er noch dem gebürtigen Dresdner Simon Leiserowitsch begegnet sein dürfte.

Am Zaun des Ostrageheges sowie in den Programmheften des DSC sah man zudem viele Jahre den Davidstern. Es handelte sich dabei um das (allerdings farbenfroh gestaltete) Firmenlogo der Dresdner Tabakfabrik Bulgaria, die vom jüdischen Geschäftsmann Salomon Krentner gegründet worden war und einige Zeit als Sponsor des Vereins wirkte. 1933 befand sich die Firma allerdings bereits im Besitz des Reemtsma-Konzerns – übrigens genauso wie die neben dem Ostragehege gelegene Tabakfabrik Yenidze, deren Gebäude kurioserweise einer riesigen islamischen Moschee nachgestaltet war.

Mäzen Bulgaria war auch an einem Skandal beteiligt, der Richard Hofmann um eine weitere Karriere in der Nationalmannschaft brachte. Im Herbst 1932 hatte »König Richard« sich im DFB-Trikot für ein Werbefoto mit einer »Bulgaria Sport«-Zigarette in der Hand ablichten lassen und dafür Geld kassiert – ein klarer Verstoß gegen die sehr engstirnigen Amateurrichtlinien des DFB, für den er später noch bestraft wurde. Die Anzeige erschien auch im gedruckten »Winter-Trainingsplan« 1932/33 des DSC. Über einem lächelnden Hofmann, der selig auf seinen Glimmstängel blickt, prangte das Bulgaria-Firmenlogo mit dem Davidstern. Die Werbeaktion dürfte den DSC-Verantwortlichen im Zuge der »imposanten Neuformung« doppelt peinlich gewesen sein.

Nach der Machtübernahme der Hitler-Regierung wurde zumindest die offizielle Haltung des Dresdner SC eindeutig, wie die Äußerungen von »Vereinsführer« Püschel bewiesen. Auch Veranstaltungen wie das »Opferspiel«, das im August 1933 zugunsten der »Hitler-Spende Opfer der Arbeit« durchgeführt wurde, zeugen von baldiger Anpassung an die neuen politischen Verhältnisse. Die TV-Journalisten Dirk Bitzer und Bernd Wilting berichten zudem, Ministerialrat Erich Kunz, der erste Leiter des Gaues 5 des Deutschen Reichsbundes für Leibesübungen, sei »ein altes DSC-Mitglied« gewesen. Gemeinsam mit dem sächsischen »Reichsstatthalter« Mutschmann habe er bei DSC-Spielen oft auf der Tribüne des Ostrageheges gesessen.

Martin Mutschmann war eine der schlimmsten Figuren der oberen NSDAP-Hierarchie. Nachdem er seinen einstigen Förderer Gregor Strasser verraten hatte, stieg er zum Leiter des NSDAP-Gaues Sachsen, zum Reichsstatthalter (eine Art oberster Verwaltungschef) sowie 1935 auch zum Ministerpräsidenten Sachsens auf. Mehr regionale Machtfülle ging kaum. Außerdem fungierte Mutschmann als Verleger der Dresdner Morgenzeitung »Freiheitskampf«, die schon vor Hitlers Machtübernahme gegen »Juda-Verräter« und »Rote Mordpest« hetzte. Mit einer Auflage von über 100.000 Exemplaren war sie zeitweilig die größte Tageszeitung Dresdens. Der für seinen Jähzorn gefürchtete Mutschmann plädierte früh für »judenreine« Wohnbezirke in Dresden und für brutale Maßnahmen gegen politisch unliebsame Personen; zuweilen ging er persönlich mit der Pistole auf Menschenjagd. Bei Kriegsende befahl er Durchhalten »bis zum Letzten«; wer weiße Tücher aus dem Fenster hängte, riskierte sein Leben. Nach seiner Festnahme 1945 wurde Mutschmann durch ein sowjetisches Militärgericht zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Bis dahin aber waltete er als Sachsens Diktator: ein Fußballfreund, der – auch des eigenen Ruhmes wegen – einen nach ihm benannten regionalen Pokal auslobte und von einem gigantischen Stadion am Ostragehege fabulierte, in das 100.000 Zuschauer passen sollten. Es blieb beim ebenso vagen wie größenwahnsinnigen Plan.

Helmut Schön

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