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PROLOG

An einem Tag in Brüssel

Am 18. Juni 1972 krönte sich die deutsche Nationalmannschaft mit dem Gewinn der Europameisterschaft. Es war der Abschluss einer Serie rauschhafter Spiele, die Ende April in London ihren Anfang genommen hatte. Dort im Wembley-Stadion hatten die Deutschen, dirigiert von Günter Netzer und Franz Beckenbauer, eine Partie abgeliefert, die nicht nur von »L’Équipe« zum »historischen Ereignis« erklärt wurde. Mit extrem offensiver Ausrichtung, spielerischer Raffinesse und raschen Positionswechseln hatten sie die Engländer schwindelig gespielt und 3:1 gewonnen. Es begann, was Helmut Schön später »Traummonate für mich als Trainer« nannte. In den folgenden Länderspielen konnten die überforderten Gegner den variantenreichen deutschen Angriffen wenig mehr entgegensetzen als Härte. Zwar endete das Rückspiel gegen das »Mutterland« des Fußballs nur 0:0, doch der Spielverlauf war so, dass der sonst zurückhaltende »Kicker« titelte: »Von Englands Ruhm blieb nur die Asche«.

Die Spiele gegen England bildeten nach damaligem Modus das Viertelfinale der Europameisterschaft; die Endrunde in Belgien umfasste lediglich Halbfinale und Endspiel. Zwischendurch überrannte die Nationalelf in einem Freundschaftsspiel zur Eröffnung des Münchner Olympiastadions das starke sowjetische Team mit 4:1. Alle vier Treffer erzielte Gerd Müller in der zweiten Halbzeit. Im EM-Halbfinale am 14. Juni war Gastgeber Belgien eine etwas härtere Aufgabe, aber der 2:1-Sieg dank zweier Müller-Tore hochverdient.

Vier Tage später das Endspiel im Brüsseler Heyselstadion, erneut gegen die Sowjetunion. Die »Sbornaja« war durch die vorangegangene Demütigung in München gewarnt, praktizierte eine Art Catenaccio und setzte drei Mann auf Müller an. Die konnten den »kleinen Dicken« tatsächlich in Schach halten – allerdings nur bis zur 28. Minute: Beckenbauer dribbelte aus der eigenen Hälfte, passte zu Netzer, der donnerte das Leder gegen die Latte. Heynckes schoss den Abpraller Torhüter Rudakow an die Fäuste, Müller staubte ab. Es folgte eine Demonstration all dessen, was Fußball so atemberaubend macht: Spielwitz, Tordrang, technische Kabinettstückchen. »Wenn eine Mannschaft so spielt«, gestand der russische Trainer Alexander Ponomarjow neidlos, »dann muss das jeden Trainer erfreuen, wenn’s auch wehtut«.

Auf der rechten Seite drängten mit Uli Hoeneß und Jupp Heynckes zwei ausgewiesene Torjäger, links gesellte sich zu den Offensivkräften Erwin Kremers und Herbert Wimmer – »Hacki« erzielte das 2:0 nach herrlichem Spielzug – noch Paul Breitner als stürmender Verteidiger. Das Prunkstück aber bildete die mittlere Achse mit Beckenbauer, Netzer und Müller. Der »Kaiser« irritierte mit seiner Lässigkeit zuweilen nicht nur den Gegner, sondern auch die eigenen Mitspieler, der »große Blonde« sorgte mit seinen angeschnittenen Pässen für Staunen, und Müller machte die Tore – auch das 3:0 in der 57. Minute, auf Zuarbeit seines Vereinskollegen »Katsche« Schwarzenbeck. Selbst diesen defensiven Haudegen hatte es nicht hinten gehalten, er war mit dem Ball übers gesamte Spielfeld marschiert und überließ nur den Abschluss dem Goalgetter.

Schlusspfiff und Eintrag in die Geschichtsbücher. »Ein neues Wunderteam« hatte die Brüsseler Tageszeitung »La Libre Belgique« beobachtet, der französische »France Soir« sah »ein großartiges Schauspiel totalen Fußballs« und »L’Équipe« eine »Rehabilitierung des Offensivfußballs, der Spielfreude und der Freude am Ball«. Der italienische »Corriere dello Sport« pries ein »Schauspiel der Kraft, Spurtschnelligkeit, Fantasie und Genialität« sowie den Beginn »eines neuen Zeitabschnitts im Fußball«. Und die konservative englische »Times« bekannte: »Es ist eine Freude, den Deutschen zuzuschauen.« 40 Jahre später resümierte der Fußballautor Uli Hesse im Magazin »11Freunde«: »Das Lob aus dem Ausland [bekam] 1972 auch deshalb so ekstatische Züge, weil das schöne Spiel von einer Mannschaft gezeigt wurde, von der man es nicht erwartet hatte. […] Ohne Zweifel war kein DFB-Team im Ausland je so beliebt wie die Europameister von 1972, bis die heutige Mannschaft vor die Weltöffentlichkeit trat.« Und sich in Brasilien aufmachte, unter ihrem Trainer Joachim Löw Weltmeister zu werden.

1972 wurde vieles von dem vorweggenommen, was später der Klinsmann’schen und Löw’schen Fußball-»Revolution« zugeschrieben wurde – insbesondere, dass über den Fußball rund um den Globus ein verändertes, »leichteres« Bild der Deutschen transportiert würde. 1954 war das nicht so gewesen. Das »Wunder von Bern« wirkte vor allem nach innen. Es trug damals, so der Zeithistoriker Arthur Heinrich, »erheblich dazu bei, dass die Demokratie von den Westdeutschen angenommen wurde«. Fußball funktionierte dabei auch als Verdrängungsmechanismus – »und mit der Weltmeisterschaft 1954 hat Sepp Herberger ihn allen Deutschen zum Geschenk gemacht. Sie nahmen es nur allzu gerne an« (Herberger-Biograf Jürgen Leinemann). Das Ausland schaute eher skeptisch darauf, ob der Titelgewinn großdeutsche Wiedergänger beflügelte, doch abgesehen von einigen Verbalausrutschern insbesondere des DFB-Präsidenten Peco Bauwens (»Repräsentanz besten Deutschtums«) passierte da nicht viel; die offizielle Bonner Politik hielt sich auffallend zurück.

Zugleich (re)produzierte Herbergers WM-Elf die ominöse Tradition der »deutschen Tugenden«, die irgendwo angesiedelt sind zwischen »Willenskraft«, »Härte«, »Gemeinschaftsgeist« und der Fähigkeit, sich auf ein Turnier zu fokussieren. Davon war 1972 keine Rede. Es gab keine echte Turniersituation, keinen mythischen »Geist von Spiez«, keinen unbeugsamen Kampfeswillen. Auf dem Rasen agierten mit spielerischer Eleganz elf Individuen, die sich auf ein 90-minütiges gemeinsames Zusammenwirken verständigt hatten. Das »Wunder«, das sie schufen, erwuchs nicht primär aus dem errungenen Sieg, sondern aus der Schönheit ihres Spiels. Bern 1954, so formulierte es Arthur Heinrich, hatte für einen »enormen Zugewinn an Selbstbewusstsein« gesorgt und somit die Voraussetzungen geschaffen, die Demokratie »sich zu eigen zu machen und schließlich deren Liberalisierung in Angriff zu nehmen«. Brüssel 1972 zeigte die Früchte dieser Liberalisierung, zeigte das Potenzial an Kreativität und (Spiel-)Freude, das daraus entstehen konnte. Es markierte damit eine Zäsur, die nicht kleiner ist als jene von 1954.

Nur wenige zeitgenössische Kommentatoren wie »Kicker«-Chefredakteur Karl-Heinz Heimann verwiesen 1972 auf Helmut Schöns großen Anteil am wundersamen Auftritt der Deutschen: »Für die junge Spielergeneration unserer Tage […] ist er genau der richtige Mann.« Mit der Europameisterschaft gewann Schön als Bundestrainer den ersten großen Titel, aber erfolgreich war er schon vorher. 1966, zwei Jahre nach dem Amtsantritt, wurde seine Elf in England Vizeweltmeister, besiegt nur durch das »Wembley-Tor«, das keines war. Vier Jahre später, bei der WM in Mexiko, gab sich seine Mannschaft allein Italien geschlagen – in einem Halbfinale, das als »Jahrhundertspiel« in die WM-Annalen einging. Dem EM-Sieg von Brüssel würde der Gewinn der Weltmeisterschaft 1974 im eigenen Land folgen, zwei Jahre später ein nur durch Elfmeterschießen verlorenes EM-Finale.

Gemessen an diesen Platzierungen, ist Helmut Schön bis heute der erfolgreichste Nationaltrainer der Welt. In die Annalen des deutschen Sports schrieb er sich zudem als meisterhafter Spieler ein sowie durch den bemerkenswerten Umstand, dass er als Nationaltrainer in allen drei Nachfolgestaaten des 1945 untergegangenen Deutschen Reiches amtierte: in der DDR, dem Saarland und der Bundesrepublik. Dennoch ist sein Name im deutschen Fußballgedächtnis merkwürdig blass geblieben, nicht vergleichbar mit dem Rang, den der »genialische« Sepp Herberger, der charismatische Franz Beckenbauer oder der akribische Tüftler Joachim Löw mit ihren Titelgewinnen einnehmen. Deren Anteil an den Erfolgen ihrer Mannschaften wird höher bewertet, vermutlich, weil sie, anders als Schön, keine selbstbewussten Starensembles zu dirigieren hatten. Ob das ihre Aufgabe wirklich schwieriger machte (und die Schöns leichter), sei dahingestellt.

Eine der Fragen, die dieses Buch zu beantworten versucht, ist somit die nach Schöns Beitrag zu den Erfolgen seiner Mannschaft. War er nur der Moderator, der seine Weltstars bei Laune halten musste? Oder war er der psychologisch geschickte Stratege, der seinen Anteil an den diversen Triumphen lediglich durch eigene Bescheidenheit in der Öffentlichkeit kleinhielt?

Als »zögerlich« und »entscheidungsschwach« beurteilte ihn mancher Kritiker in Westdeutschland, als »arrogant« und »selbstherrlich« charakterisierten ihn die Spitzel der ostdeutschen Stasi, bei denen er freilich als »Republikflüchtling« ohnehin mies beleumundet war. Als Reichstrainer in Nazizeiten strich Sepp Herberger den Nationalspieler Helmut Schön aus seiner Elf, weil er ihn für »zu weich« hielt, während Schöns Heimatverein, der Dresdner SC, den Stürmer als einen zuverlässigen Garanten für den zweimaligen Gewinn der Deutschen Meisterschaft ansah. Das Urteil über ihn war oft widersprüchlich. Er selbst trug dazu bei durch einen in Fußballerkreisen eher untypischen Hang zur leisen Redensart und zum Schöngeistigen. Die Nationalelf zwecks Zerstreuung ins klassische Theater zu schleppen, war jedenfalls auch in den siebziger Jahren ein kleiner Anachronismus.

Helmut Schön suchte nicht den Konflikt, doch blieb er sich auf zurückhaltende Art auch in schwierigen Zeiten selber treu. Diese Eigenschaft durchzog sein ganzes Leben und all die gesellschaftlichen oder politischen Umbrüche, die er dabei durchschritten hat. Zum Fußball zog es ihn wider alle Skepsis des Vaters, und auf dem Platz setzte er sich als eleganter Techniker durch, obwohl er verletzungsanfällig war und die Zuschauer sächselten: »E dierekter Lewe is es ja nich.« Den Nazis verweigerte er das klare Bekenntnis, das von einem Sportidol wie ihm erwartet wurde. Aus der DDR floh er, weil er sich mit einer zentral verordneten Sportpolitik nicht arrangieren mochte. Einer neuen Spielergeneration, die für Herbergers »Elf Freunde«-Philosophie nur ein müdes Lächeln übrighatte, begegnete er mit mildem Liberalismus, auch wenn der plakative Hedonismus der Generation Netzer seinen konservativen Idealen eines sportlichen Altruismus gründlich zuwiderlief. Als während der WM 1974 seine Mannschaft um Siegesprämien feilschte, hätte er beinahe den Büttel hingeworfen. Nicht, weil er den Spielern das Geld missgönnte, sondern weil er solche Art Schacherei verabscheute.

In einer Branche, in der zunehmend Lautsprecher den Ton angaben, blieb er nachdenklich und zurückhaltend. Siegerposen lagen ihm nicht, die Gebote eines Fairplay sah er dagegen als selbstverständliche Verpflichtung. Nach dem EM-Triumph von Brüssel fiel ihm vor allem ein: »Mein besonderer Dank gilt auch der russischen Mannschaft, die sich als fairer und anständiger Verlierer erwiesen hat.«

Helmut Schön

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