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Der Ahne: Richard Girulatis
ОглавлениеAls Helmut Schön dann tatsächlich Trainer geworden war, ging er ganz unmittelbar durch Herbergers Schule, zunächst 1950 in einem Lehrgang, zwischen 1956 und 1964 als dessen Assistent. Er hat, wie noch gezeigt wird, Herbergers Einfluss nie geleugnet, sondern im Gegenteil die Kontinuitäten in der Trainerarbeit mehrfach hervorgehoben. Zuweilen hat er auch an Jimmy Hogan erinnert, einmal aber an einen noch älteren Lehrmeister. Das war 1975 auf einem Trainerkongress, der in List auf Sylt stattfand. Dort hielt Schön ein Referat, und ausgerechnet zum Thema »Die Zukunft im modernen Fußball« pries er die Lehren des »Vaters aller deutschen Fußballtrainer«.
So bezeichnete Sporthistoriker Erik Eggers in einem ausführlichen Porträt Richard Girulatis, der mit seinem 1919 erstmals erschienenen Lehrbuch »Fußball. Theorie, Technik, Taktik« die Grundlagen für das Trainerwesen in Deutschland schuf. Der Sohn eines Schmiedes, 1878 in Berlin geboren, gründete als 14-Jähriger mit anderen sportbegeisterten Jugendlichen den Berliner Thor- und Fußballclub Union 92, der 1905 Deutscher Meister wurde. Zu diesem Zeitpunkt weilte Girulatis in den USA, wo er auch das Sportsystem an den Universitäten studierte und sich Fachkenntnisse aneignete, die im Deutschen Reich damals kaum anzutreffen waren. Nach seiner Rückkehr war er bei den Vereinen daher ein begehrter Mann. Mit Tennis Borussia Berlin feierte er bald sportliche Erfolge. Auch der DFB sicherte sich seine Dienste; unter anderem sollte er die deutsche Elf auf die für 1916 in Berlin geplanten Olympischen Spiele vorbereiten. Einige Kurse fanden statt, dann verhinderte der Erste Weltkrieg weitere olympische Aktivitäten.
Nach dem Krieg war Girulatis vor allem als Dozent an der Deutschen Hochschule für Leibesübungen in Berlin tätig, wirkte aber zwischendurch immer auch praktisch als Trainer bei Spitzenvereinen wie Hertha BSC und Hamburger SV. In der NS-Zeit zog sich der überzeugte Sozialdemokrat aus dem Fußball zurück, weil er bei der Politisierung und Arisierung des Sports durch die Nazis nicht mitmachen wollte. Für ihn hatte, wie Erik Eggers zitiert, der Sport »frei von jeder nationalen Überhebung« zu sein. Die Nachkriegspraxis, ehemalige NSDAP-Mitglieder wieder in Amt und Würden zu heben und »solche Leute sofort nach ihrer Entnazifizierung wieder auf die deutsche Jugend loszulassen, wie z.B. Herberger«, mochte er nicht verstehen. Er selbst wirkte in der Bundesrepublik eher im Hintergrund am Wiederaufbau einer seriösen Fußballlehrerausbildung mit.
In seinem mehrfach aufgelegten und überarbeiteten Lehrbuch empfahl Girulatis ein wissenschaftlich fundiertes Training, Übungen für Technik und Kombinationsspiel sowie seriöse Spielvorbereitung. Helmut Schön, der sich schon als Spieler für Trainings- und Taktiklehren interessiert haben muss, dürfte Girulatis’ Bestseller wohl gelesen haben. Manches davon hat er jedenfalls verinnerlicht – so sehr, dass er sich noch 1975 daran erinnerte.
Das, was er in seinem Vortrag zum »modernen Fußball« besonders hervorhob, war ein Credo, das er selbst als Trainer schon oft formuliert hatte – ansonsten allerdings, ohne den alten Lehrmeister dabei zu erwähnen. Jetzt tat er es: »Ich denke in diesem Zusammenhang immer an einen unserer ersten Kollegen, nämlich Girulatis, der 1921 in seinem Lehrbuch einige Sätze niedergeschrieben hat, die auch heute noch Gültigkeit haben und das erstrebenswerte taktische Ziel einer Mannschaft sein sollten. Girulatis versteht unter Taktik im Fußball die Fähigkeit und die Absicht, das eigene Spiel durchzusetzen und das Spiel des Gegners im Keime zu ersticken. Damit ist eigentlich alles über Angriff, Abwehr und taktische Auffassung des Spiels gesagt. Wir sprechen so oft davon, dass wir unser Spiel den Gegebenheiten und dem Gegner anpassen sollten. Viel besser ist es, wenn wir vorweg gehen und mit unseren Mannschaften unser Spiel dem Gegner aufzwingen. Soll er sehen, wie er mit uns fertig wird.«
In gewisser Weise hätte das auch Joachim Löw sagen können. Oder Sepp Herberger. Es gibt taktische Überlegungen, die zeitlos sind. Wie auch der wichtigste Lehrsatz des Richard Girulatis, den fast alle Fußballer kennen, ohne zu wissen, von wem er stammt: »Elf Freunde müsst ihr sein, um Siege zu erringen.«