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Spielfeld Struvestraße
ОглавлениеRichard Hofmanns Auftritt gegen Ungarn war nicht das erste Länderspiel, das der junge Helmut miterlebte. Schon als Fünfjähriger wurde er – offenbar ohne elterlichen Segen – von seinem sieben Jahre älteren Bruder Walter ins Fußballring-Stadion der Dresdner Neustadt geschleppt, wo im Mai 1921 die Nationalelf gegen Österreich antrat. 25.000 Zuschauer quetschten sich in die kleine Spielstätte, auf den Rängen herrschte ein gefährliches Gedränge. Der kleine Helmut wurde vom großen Bruder hochgestemmt, damit er überhaupt etwas vom Spiel sehen konnte; er bestaunte vor allem die Paraden des berühmten Torhüters Heiner Stuhlfauth vom Nürnberger »Club«. Nach dem Spiel, so berichtete Schön in seinen 1970 erschienenen Erinnerungen, wurde er »als kleiner Steppke in einer schiebenden und drängenden Masse eingekeilt und war nahe daran, zerdrückt und überwalzt zu werden«. Erst als neben ihnen eine Bretterwand zusammenbrach, konnten Helmut und Walter sich aus dem Chaos retten.
Nun hatte Helmut die Begeisterung für den Fußball gepackt. Sein Spielfeld wurden Fahrbahn und Gehweg der Struvestraße, an der die elterliche Wohnung lag. Noch fuhren nur wenige Autos auf der Straße, und so konnte sich eine Horde Jungs aus der Nachbarschaft treffen, um Mannschaften auszuhandeln, Passanten zu umdribbeln und Doppelpässe zu schlagen, die von vollgepackten Einkaufsnetzen zurücksprangen. Als Tor diente der Raum zwischen einer Haustür und der Laterne davor. An guten Tagen brachte einer der Jungs einen Lederball mit, ansonsten wurde aus Stofflumpen eine Kugel gebastelt. Solche Begleitumstände schulten Technik, Reflexe und Spurtkraft. Die Antrittsschnelligkeit war nicht nur zur Balleroberung gefragt, sondern auch dann, wenn die Kugel unabsichtlich gegen eines der vielen Schaufenster rauschte und man fliehen musste.
Die Struvestraße lag in einer gutbürgerlichen Wohngegend der Dresdner Seevorstadt. Entstanden war sie Mitte des 19. Jahrhunderts als Ausdehnung des Stadtkerns nach Süden; sie mündete damals in Dresdens vornehme Einkaufsmeile, die Prager Straße. Die meisten Häuser zählten vier oder fünf Stockwerke: ein Geschäft im Erdgeschoss, darunter eine Souterrainwohnung für weniger begüterte Mieter, darüber eine Büroetage. Nach oben gab es eine soziale Schichtung: In Stockwerk zwei und drei lebten meist gutbürgerliche Familien, im vierten Handwerker oder Witwen.
Die Schöns waren zwei Jahre nach Helmuts Geburt dorthin gezogen, in eine geräumige Wohnung im zweiten Stock des Hauses Nummer 38. Am 15. September 1915, als mitten im Ersten Weltkrieg sein jüngster Sohn geboren wurde, war Vater Anton Schön bereits 57 Jahre alt und hatte eine längere berufliche Laufbahn hinter sich. Er entstammte einer bäuerlichen Familie aus Altgersdorf in Schlesien. Dass er im überwiegend evangelisch orientierten Dresden Fuß fassen konnte, verdankte er ausgerechnet seiner katholischen Religionszugehörigkeit. Sein Enkelsohn, Dr. Stephan Schön, berichtet darüber, was er aus den familiären Überlieferungen erfuhr: »Das sächsische Königshaus hing dem katholischen Glauben an und damit auch viele der am Hof dienenden Menschen. Diese achteten darauf, ihrerseits katholisches Personal zu beschäftigen. Die Dresdner Bevölkerung war überwiegend evangelisch, so dass junge Menschen aus dem katholischen Schlesien gefragt waren. Eben auch mein Großvater, der etwa um 1885-89 in einem katholischen Haushalt eine Dienerposition erhielt. Dort war er lange beschäftigt.«
Helmut Schön selbst berichtete in seiner Autobiografie »Fußball«, sein Vater sei zum Kammerdiener – also eine Art Privatsekretär – von Adeligen aufgestiegen und habe als Butler eines englischen Aristokraten auch Englisch gelernt. Offensichtlich erwarb er dabei so viel Wissen und gesellschaftliche Kontakte, dass er sich schließlich als Antiquitätenhändler selbstständig machen konnte. In den politisch turbulenten und wirtschaftlich schwierigen Jahren nach dem Ersten Weltkrieg war das nicht einfach. Wie überall in Dresden sah man auch vor Schöns Geschäft in der Lüttichaustraße Kriegsinvalide und Arbeitssuchende vorbeigehen. Wer den Laden betrat, wollte meist aus Geldnot Antiquitäten verkaufen, nicht einkaufen; die zahlende Kundschaft bildeten Touristen oder Geschäftsleute aus England und Amerika. Anfang der zwanziger Jahre, so erzählte es Helmut Schön, musste manches Mal ein kleiner Perserteppich gegen Kartoffeln oder Butter eingetauscht werden, doch oft genug gab es nur Kohlrüben zum Mittagessen.
Langsam ging es aufwärts. Die Berufsbezeichnungen im Dresdner Adressbuch markieren den sozialen Aufstieg von Anton Schön: 1918 noch als »herrschaftlicher Diener« geführt, avancierte er 1920 zum »Partiewarenhändler«, 1927 zum »Altwarenhändler«, 1933 zum »Kunst- und Antiquitätenhändler« und 1938 zum »Kunsthändler«.
1902 hatte Anton Schön die damals 22-jährige Ida Güttler geheiratet, die als Hausmädchen arbeitete und aus der Lausitz stammte; ihr Vater war ein Tuchscherer, also Arbeiter in einer Textilmanufaktur. Anders als ihr Mann war sie evangelisch getauft. Ein Jahr nach der Hochzeit bekam Ida eine Tochter, Helene, der die beiden Brüder folgten: 1908 Walter und sieben Jahre später Helmut. Seine Mutter schilderte Helmut Schön als »schöne, gütige, liebe Frau«, von der er offenbar die Körperlänge geerbt habe. In der Struvestraße führte sie einen Haushalt, dessen Räume vollgepackt waren mit barocken Kommoden, Biedermeier-Schränken und Orientteppichen, dazu Porzellanschmuck, alte Stiche und Ölgemälde an der Wand. Anton Schön mochte sich von manchem Glanzstück seiner Warensammlung nicht trennen und brachte es lieber nach Hause mit. Ab und zu fiel dort allerdings ein Schmuckteller den Fußballversuchen seiner Söhne zum Opfer.
Es waren keine wohlhabenden, aber doch gut situierte Verhältnisse, in denen Helmut Schön und seine beiden Geschwister aufwuchsen. Darauf deutet auch die Nachbarschaft im Haus Struvestraße 38 hin. Im Jahr 1928 beispielsweise lebte in der Etage über den Schöns ein Professor Otto Schmid, der als »Musikschriftsteller« geführt wurde. In der gleichen Etage wie Familie Schön wohnte seit Jahren schon ein Max Wollf. Helmut Schön erinnerte sich, dass der damals 50-jährige Wollf »praktisch zur Familie« gehört habe, und bezeichnete ihn als »Untermieter«. Einen einfachen »möblierten Herrn« jedoch darf man sich unter ihm nicht vorstellen. Max Wollf war Verlagsdirektor der größten Dresdner Tageszeitung, der liberal-konservativen »Dresdner Neuesten Nachrichten«.
Sein Bruder, Prof. Julius Ferdinand Wollf, fungierte seit 1903 als Chefredakteur dieser Zeitung und hielt zudem einen kleinen Gesellschaftsanteil an deren Verlag. Julius Wollf galt als renommierter Theaterkritiker, der unter anderem einen intensiven Briefwechsel mit Gerhart Hauptmann führte. Er bewohnte eine Villa in der Palaisstraße, die später Franz-Liszt-Straße hieß. Die Brüder Wollf entstammten einer jüdischen Familie aus Koblenz. Mit Sorge dürften die beiden die politische Entwicklung in Dresden beobachtet haben. In der einstigen Hochburg der Sozialdemokratie – 1919 erreichte die SPD hier bei den Reichstagswahlen über 50 Prozent der Stimmen – grassierte zunehmend der Antisemitismus. 1928 mit 1,8 Prozent noch eine Splitterpartei, erzielte die NSDAP danach sprunghafte Wahlerfolge. Vier Jahre später hatte sie bereits die SPD überflügelt.
In der Familie Schön war Politik nur sehr selten ein Thema. Der Vater interessierte sich nicht sonderlich für das Politische; aus Überzeugung wählte er die bürgerlich-katholische Zentrumspartei, die im evangelischen Dresden allerdings keine Rolle spielte. Dass er seinen Sohn Helmut aufs Bischöfliche St.-Benno-Gymnasium schickte, hatte ebenfalls mit seiner katholischen Orientierung zu tun, auch wenn das Religiöse in der Familie offenbar keine allzu große Rolle spielte. Kein Verständnis besaß Anton Schön für politische Radikalität jeglicher Couleur. Kommunisten hielt er für Menschen, die »den anderen Leuten alles wegnehmen«, wie sein Sohn Helmut schrieb. Mit den Nazis aber wollte er erst recht nichts zu tun haben.