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»Liebling aller Zuschauer«
ОглавлениеNach dem Spiel gegen Karlsbad kam Helmut Schön erst einmal nicht zu weiteren Einsätzen in der ersten Mannschaft. Es waren Wochen, in denen der DSC vor allem in hochkarätigen Freundschaftsspielen seinen Anspruch demonstrierte, zur deutschen Elite zu zählen. Wiens Austria mit dem berühmten Matthias Sindelar unterlag man noch mit 4:7, den amtierenden Deutschen Meister, Fortuna Düsseldorf, besiegte der DSC glatt mit 4:1, und gegen Bayern München, Meister von 1932, gab es ein 0:0. Alle Spiele fanden vor großem Publikum im Ostragehege statt, und der junge Schön wird am Rand gesessen und geschaut haben, was es von den großen Stars zu lernen gab.
Irgendjemand musste jedoch dem DFB-Trainerstab in Berlin davon berichtet haben, welch ein Talent dort in Dresden heranreifte. Später vermutete ein »Kicker«-Bericht (von 1964) als mögliche Zuträger den Konditionstrainer Woldemar Gerschler sowie Nationalspieler Georg Köhler. Jedenfalls flatterte Helmut Schön im Herbst 1933 die Einladung für einen zehntägigen Olympia-Nachwuchskurs ins Haus. Zur Vorbereitung auf die Spiele, die drei Jahre später in Berlin stattfinden sollten, suchte die NS-Sportführung nach jungen, förderungswürdigen Talenten. 500 Sportler aller Disziplinen kamen Ende September im Deutschen Stadion von Berlin zusammen, darunter etwa 40 Fußballer. Zum ersten Mal begegnete Schön dort Sepp Herberger, es war der Beginn einer jahrzehntelangen, wechselhaften Beziehung. Noch war der damals 36-jährige Herberger Assistent von Reichstrainer Otto Nerz, der für den Lehrgang ein strapaziöses Programm ausgearbeitet hatte. Morgens um halb sieben begannen Training und körperliche Übungen, die sich über den ganzen Tag erstreckten; abends gab es Vorträge etwa zum Thema »Die deutsche Sportpresse vor und nach dem Umschwung«.
Anschließend verfasste Schön über seine Erlebnisse einen kreuzbraven Zeitungsartikel: »Wohl wurden unsre Kräfte stark in Anspruch genommen, wohl meinten anfangs manche, das sei zuviel. Aber alles wurde überstanden, keiner ist gestorben, sondern jeder lernte verstehen, warum er eigentlich nach Berlin gerufen war, und ertrug freudig auch die größten Strapazen. Unsre Führer waren uns leuchtende Vorbilder, und willig und gern machten wir unter ihnen mit. […] Der stämmige Fußballer, der sehnige Leichtathlet, der breite Schwimmer, alle lernten sich unterordnen und gehorchen. […] Unvergessen werden uns die Minuten bleiben, in denen der Reichskanzler bei uns weilte und uns bei der Arbeit zuschaute.«
Wer weiß, ob der 18-jährige Schüler dies selbst so formuliert hat. Möglich ist es. Als gestandener Erwachsener urteilte Schön später über seine Eindrücke vom »Führer«: »Eigentlich war ich nur neugierig. Ich stammte eben aus einem typischen ›unpolitischen‹, bürgerlichen Elternhaus der Weimarer Republik. Richtig ernst genommen hatte man diesen Hitler nie.« In der Fußballwelt des jungen Schön war so jemand nicht vorgesehen, weder wurde er gebraucht, noch störte er sonderlich.
Den nachhaltigeren Eindruck hinterließ bei Schön offensichtlich die äußerst positive Kommentierung seiner Spielkünste in einigen Sportzeitungen. Am Ende des Olympia-Lehrgangs, am 7. Oktober 1933, hatten die talentiertesten Fußballer in zwei Mannschaften gegeneinander gespielt. Auf dem legendären Platz der Berliner Hertha, der »Plumpe«, gewann Schöns Truppe mit 4:3; drei der vier Siegtore hatte der Dresdner beigesteuert. Der süddeutsche »Fußball« vergab an sechs der 22 Akteure die Note »gut«, auch an Schön, dem die Zeitung »ausgezeichnete Ballverteilung« attestierte.
Geradezu euphorisch berichtete der Reporter der Berliner »Fußballwoche«: »Liebling aller Zuschauer war gleich der lang aufgeschossene, blonde Mittelstürmer Schön (Dresdner Sportklub), ein Spieler, welcher in seiner ganzen Art unserem Franke stark ähnelt, nur ist Schön offenbar noch mitten im Wachstum und das bedeutet natürlich – abwarten! Aber Schön macht herrliche Sachen. Er stand nicht nur immer weit vorne, um dann vielleicht allein mit dem Ball loszuziehen, nein, seine Hauptstärke war seine fast vorbildliche Ballverteilung. Ein großes Talent!«
Es gab in den folgenden Jahren noch viele Lobeshymnen auf den Stürmer Schön. Aber auf diese erste war er so stolz, dass er sie nicht nur ausschnippelte und in seine Kladde klebte, sondern viel später in all seinen publizierten Erinnerungen, denen von 1964, von 1970 und von 1978, abdrucken ließ. In voller Länge.
In den dreißiger Jahren waren die Fußballberichte der Zeitungen noch nicht so umfangreich und personenbezogen wie heute. Daher ist es bemerkenswert, dass Helmut Schön bereits bei seinen ersten Auftritten so hervorgehoben wurde. Den Beobachtern mag er in verschiedener Hinsicht aufgefallen sein. Zunächst einmal war es seine jugendliche Gestalt: Mit einer Körpergröße von knapp 1,90 Metern überragte er meist alle Mitspieler, doch im Grunde schien er noch viel zu dünn und schlaksig für einen Leistungssportler. Beeindruckend war offenbar seine Spielweise, die für ein so junges Talent erstaunliche Übersicht und Spielintelligenz erkennen ließ. Schließlich wurde oft die Empathie hervorgehoben, mit der er zu Werke ging und die auch aus den Fotos spricht, die aus jener Zeit existieren: Da spielte einer mit purer Freude; einer, der sich nicht nur über ein Tor oder einen Sieg freute, sondern auch über einen gelungenen Spielzug oder das technische Kabinettstückchen eines Mitspielers. Es gibt beispielsweise ein unscharfes Foto, auf dem man Richard Hofmann gekonnt einen hohen Ball annehmen sieht, und hinten schaut der junge Schön zu und lacht aus vollem Herzen.
All diese Elemente finden sich auch in den Berichten über seinen ersten Pflichtspieleinsatz in der ersten Mannschaft, der am 15. Oktober 1933 stattfand. Die Dresdner waren zu Gast beim wichtigsten Konkurrenten in der neu geschaffenen Gauliga Sachsen, dem Polizeisportverein Chemnitz. Der Zufall wollte es, dass an diesem Wochenende die NSDAP des Kreises Chemnitz eine Tagung abhielt, weshalb diverse Nazigrößen im Stadion saßen, darunter Reichsstatthalter Mutschmann. Was wiederum dazu führte, dass dieses Spiel in der Presse zusätzliche Aufmerksamkeit erfuhr.
Beim DSC hatte der langjährige Mittelläufer, Georg Köhler, seinen Abschied angekündigt, und auf der Suche nach einem Nachfolger war der Verein noch nicht fündig geworden, weshalb experimentiert wurde. In Chemnitz übernahm Richard Hofmann die Rolle des Lenkers im Mittelfeld, daher wurde sein Platz im Sturm frei, und Helmut Schön erhielt seine Chance. Vor Ort weilte auch ein Berichterstatter der überregionalen Fachzeitung »Fußball«, der von Hofmanns Mittelläufer-Qualitäten nicht so recht überzeugt war, seinen Text aber fortsetzte: »Andererseits darf sich der D.S.C. nach dem Chemnitzer Großtreffen unbedingt zu seinem vor einigen Wochen für die Repräsentation seiner Farben bestimmten Junior Schön beglückwünschen, der als Sturmführer seine Vorzüge einmal mehr in helles Licht zu setzen verstand, so daß er auch auf seine Nebenleute mitreißend wirkte« (die, muss man hinzufügen, allesamt gestandene DSC-Größen waren wie die Nationalspieler Sackenheim und Schlösser).
Der Neue war der Mann des Tages, erzielte das erste Tor und gab die Vorlagen für beide weiteren Treffer des DSC, der das Spiel 3:2 gewann. Unter den 20.000 Zuschauern befanden sich 700 Dresdner, die mit dem Sonderzug angereist waren. Nach dem Schlusspfiff riefen sie den Zeitungsreportern zu: »Nu fahr’n m’r vergniegt heeme.«
Während der »Fußball«-Korrespondent den Debütanten Schön uneingeschränkt lobte, blieb der Berichterstatter des »Dresdner Anzeigers« zurückhaltender: »DSC. nahm für dieses so bedeutende Treffen den Junior Schön auf den so bedeutenden Posten des Mittelstürmers, vielleicht etwas früh für den schmalen, hochaufgeschossenen Jungen. Aber seine feinen, schulgerechten Vorlagen, verbunden mit Hofmanns Energie als Mittelläufer, retteten in den dramatisch bewegten, drangvollen Viertelstunden Vorsprung, Sieg und Punkte. […] Schade, daß der sympathische 17-jährige [sic] Schön so früh in die ›Knochenmühle‹ des Punktkampfes hineingenommen wurde. Für so anstrengende Aufgaben fehlt ihm doch wohl noch etwas Puste.«
Die Sorge, das junge Talent könne zu früh »verheizt« werden, trieb einige Wochen später auch den »Fußball« um. Sein Berichterstatter schrieb vom »befähigten Junior Schön, dem hoffentlich nicht zu viel von der DSC.-Leitung zugemutet wird«. Allerdings wurde Schön nicht bei jedem Spiel eingesetzt und zwischendurch immer mal wieder geschont. In der Vereinszeitung beeilte man sich zu versichern: »Wir werden Schön immer wieder in geeigneten Spielen einsetzen, wobei wir uns selbstverständlich bewußt sind, daß zwischen solchen Spielen entsprechende Ruhepausen liegen müssen.«