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Die Reichstrainer: Otto Nerz und Sepp Herberger

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Zum Olympia-Lehrgang 1933 wurde Schön noch von Reichstrainer Otto Nerz eingeladen; als er vier Jahre später sein erstes Länderspiel absolvierte, war Nerz faktisch von Sepp Herberger abgelöst worden. Nerz’ Verhängnis hieß Magnar Isaksen und war jener norwegische Stürmer, der mit seinen beiden Toren die deutsche Nationalmannschaft aus dem olympischen Turnier 1936 kickte. Als ein Grund für die Niederlage wird das überharte Training vermutet, das Nerz vor dem Spiel angeordnet hatte. Nach seiner Blamage unter den Augen des »Führers« schwand die Autorität des Reichstrainers beträchtlich.

1926 hatte Nerz als erster hauptamtlicher DFB-Cheftrainer sein Amt angetreten, um die erschreckenden Organisationsdefizite rund um die Nationalelf zu beheben. Das »vom Fußball besessene Arbeiterkind«, so der Autor Hardy Grüne, »führte in Deutschland nicht nur viele taktische Neuheiten ein, sondern setzte zudem auf moderne Trainingsmethoden, achtete auf die körperliche Fitness seiner Spieler und legte Wert auf die bis dato völlig vernachlässigte medizinische Betreuung der Aktiven«.

Nerz sah sein Vorbild im englischen Fußball und dort vor allem im Modernisierer Herbert Chapman. Der erfolgreiche Arsenal-Coach professionalisierte die Arbeit englischer Vereinsmanager erheblich. Vor allem aber gilt er als Vater des W-M-Systems. Nach einer Lockerung der Abseitsregel (zwischen Angreifer und Torhüter musste nur noch ein Gegenspieler stehen statt zuvor zwei) sowie der dadurch ausgelösten Torflut tüftelte Chapman ab 1925 an einer besseren Defensivstrategie. Er fand sie, indem er den bisher offensiv ausgerichteten Mittelläufer zurückbeorderte, um mit ihm als »Stopper« die bislang nur zweiköpfige Verteidigung zu verstärken. Dafür wurde der bisher aus fünf Stürmern bestehende Angriff umgruppiert; beide Halbstürmer ließen sich fortan zurückhängen. Es entstand eine 3-2-2-3-Anordnung, oder besser gesagt: Die Formation entsprach in der Offensive einem »W«, das vor einem »M« aus Abwehr und Mittelfeld stand – das W-M-System.

Die gute alte »Schottische Furche«, das offensive 2-3-5, war damit passé, was von Fußballästheten wie dem Österreicher Willy Meisl heftig bedauert wurde. Taktikexperte Jonathan Wilson kommentierte den Konflikt: »Es ist nun mal eine traurige Wahrheit, dass diejenigen, die gewinnen wollen, sich auch unattraktiver Methoden bedienen. […] Die Österreicher hätten es trotz ihres ästhetischen Bewusstseins wohl ebenso getan, wäre ihnen der Faschismus nicht zuvorgekommen. Goldene Zeitalter sind nun mal nicht für die Ewigkeit bestimmt.«

Auch in Deutschland war das von Nerz importierte W-M-System nicht unumstritten; vor allem einige süddeutsche Vereine, die sich am »Donaufußball« orientierten, zögerten mit der Umstellung. Doch da Nerz in dieser Frage die volle Rückendeckung der DFB-Spitze besaß, setzte sich die neue Philosophie allmählich durch. In Dresden nahm Georg Köhler, ein Mittelläufer des alten, offensiven Schlages, laut Schön zu jenem Zeitpunkt seinen Abschied, »als sich der DSC gleichfalls zur Einführung des Stopper-Systems entschloß«; das war vermutlich im Jahr 1934.

Etwa zu dieser Zeit hatte Helmut Schön eine zweite direkte Begegnung mit Otto Nerz. Er profitierte von dessen System der Nachwuchsförderung und war zu einem Kurs der Nationalelf geladen worden, zu dem sich neben den etablierten Größen wie Paul Janes, Hans Jakob oder Fritz Szepan auch junge Talente ohne Länderspielerfahrung einfanden. Als es zu einem Übungsspiel zwischen A-Team und Youngstern kam, saß Schön zunächst auf der Bank. Plötzlich hörte er den Ruf: »Bärschl! Mach dich fertig und geh aufs Feld!« Am autoritären Tonfall und dem Ausdruck »Bärschl« – was wohl »Bürschchen« heißen sollte – war unschwer Otto Nerz zu erkennen. Schön sollte für den verletzten Mittelstürmer der Nachwuchs-Elf einspringen. Unglücklicherweise hatte er vergessen, die abgelaufenen Stollen seiner Fußballschuhe zu ersetzen, und da es in Strömen regnete, rutschte er nun mehr über den Platz, als dass er lief. Nerz belehrte ihn daraufhin, »daß ein Fußballspiel nicht mit dem Anpfiff beginnt, sondern daß auch eine entsprechende Vorbereitung dazu gehört«.

In dieser kurzen Episode, bei der auch Sepp Herberger zugegen war, sah dessen Biograf Jürgen Leinemann eine symbolträchtige Situation, »die an diesem Vormittag 1934 drei Generationen von Nationaltrainern zusammenführte – die Betreuer der deutschen Elf von 1926 bis 1978, mehr als ein halbes Jahrhundert deutscher Fußballgeschichte verdichtete sich in diesen drei Personen.«

Allerdings dürften die unmittelbaren Einflüsse des Fußballlehrers Nerz auf den Spieler und späteren Trainer Schön eher gering gewesen sein. In gewisser Weise vermittelten sie sich über Sepp Herberger, denn der übernahm und verfeinerte noch den Nerz’schen Perfektionismus, Länderspiele und Turniere vorzubereiten. In dieser Tradition standen bis heute nahezu alle DFB-Cheftrainer. Allerdings schaffte Herberger den Kasernenhofton seines Vorgängers ab und gewährte den Spielern auf dem Platz mehr Freiräume. Tobias Escher vom Taktik-Blog »spielverlagerung.de«: »Er verbannte das kämpferische Element nicht, forderte aber im Angriff mehr Kreativität. Herberger baute seine Mannschaft stets um einen genialen Kopf. Einen Spielmacher, um den sich das Spielgeschehen gruppierte. Dieser Spielmacher war die rechte Hand Herbergers auf dem Platz. Eine Autorität neben der Trainerautorität – genau das wollte Nerz immer vermeiden.«

Auch der Bundestrainer Schön installierte, wann immer es ging, einen Spielmacher als verlängerten Arm auf dem Platz und berief sich dabei ausdrücklich auf die Tradition seines Vorgängers. Wie noch ausgeführt wird, favorisierte er dabei allerdings einen deutlich kooperativeren Modus als Herberger. Dessen Führungsstil war zwar weniger militärisch geprägt als der Nerz’sche, blieb aber patriarchalautoritär. Herberger verstand sich nun einmal so, wie seine Spieler ihn auch nannten: als »Chef«. So sah ihn damals auch der Nationalspieler Schön. Herbergers Anweisungen hatten für ihn Gesetzeskraft, und nicht im Traum wäre es ihm eingefallen, dem Trainer mit taktischen Vorschlägen zu kommen.

In seiner verhältnismäßig kurzen Länderspielkarriere zwischen 1937 und 1941 dürfte Helmut Schön von Herbergers taktischer Neuerung profitiert haben, den Angriff variabler zu gestalten. Alle fünf Angreifer sollten dazu in der Lage sein, die Positionen zu tauschen, alle mussten sich am Kombinationsspiel beteiligen, der Mittelstürmer sich nicht allein als Vollstrecker sehen, sondern auch als Vorbereiter. Tobias Escher: »Herberger taufte seine Spielidee ›Wirbel‹: flexible Positionswechsel, die den Gegner überraschen und verwirren sollten.« Das entsprach dem Spielverständnis von Schön, der gerne mal als nomineller Mittelstürmer, mal als Halbstürmer auflief und während des Spiels vor allem mit Richard Hofmann die Rollen tauschte.

Als Helmut Schön damit im Verein die großen Erfolge einfuhr, hatte er sich längst vom gehorsamen Befehlsempfänger zum eigenständigen Kopf auf dem Platz entwickelt. Vielleicht half ihm dabei sogar die frühzeitige Ausmusterung durch den Reichstrainer Herberger nach nur 16 Länderspielen. Da er mit dessen Allgewalt nicht mehr konfrontiert war und im eigenen Verein ein autoritär gepolter Trainer nicht existierte, besaß Helmut Schön mehr Freiräume und stärkeren Einfluss auf die Spielweise seiner Mannschaft. »Führereigenschaften« erkannte bei ihm Otto Nerz, als er 1943 im »Kicker« das Halbfinale um die Deutsche Meisterschaft kommentierte. Etwas weniger im Stil der Zeit war dieser Beitrag übertitelt: »Schön wieder Drehpunkt der Dresdner Elf«. Gemeint war dasselbe: Schön bestimmte die Taktik und den Rhythmus des Dresdner Spiels. Von einem Trainer am Seitenrand war in dem ganzen seitenlangen Artikel nicht die Rede. In gewisser Weise hatte ihn offenbar Schön bereits ersetzt.

Helmut Schön

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