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3. Richtlinienkonforme Rechtsfortbildung

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Während man sich bei der Auslegung stets auf dem Boden des Wortlauts der Norm bewegt, entfernt man sich bei der Rechtsfortbildung davon und erweitert das geschriebene Recht durch Analogie oder schränkt es durch teleologische Reduktion (als umgekehrte Analogie) ein. Daran, dass richtlinienkonforme Rechtsfortbildung generell möglich ist, bestehen keine Zweifel.[77] Die Grenzen richtlinienkonformer Rechtsfortbildung sind jedoch eine zentrale Streitfrage des EU-Rechts.[78] Die Frage, ob eine Rechtsfortbildung im Sinne einer Richtlinie möglich ist, selbst wenn das nationale Privatrecht sie aus sich heraus nicht hergeben würde, wird gelegentlich anschaulich unter dem Schlagwort „richtlinienkonforme Auslegung contra legem“ diskutiert.[79]

Um die Diskussion gut nachvollziehen zu können, muss man beachten, dass innerhalb der Diskussion manche Begriffe sehr unterschiedlich verwendet werden. Der EuGH spricht, wie gezeigt (Rn. 115), immer von Auslegung, auch wenn es um Analogie geht. Der EuGH hat außerdem auch ausgesprochen, die richtlinienkonforme Auslegung dürfe nicht Grundlage für eine Auslegung des nationalen Rechts contra legem werden.[80] Damit meint der EuGH aber nicht die Wortlautgrenze, sondern er will nur betonen, dass nationale Methoden die Analogie noch tragen müssen.

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Will man zu einer brauchbaren Lösung gelangen, so eignet sich als Ausgangspunkt aller Überlegungen der Grundgedanke, dass die richtlinienkonforme Auslegung etwas anderes ist und bleiben muss als die unmittelbare Wirkung von Richtlinien, welche es ja im Privatrecht nicht gibt.[81] Der Vertrauensschutz, den das Verbot der unmittelbaren Anwendung der Richtlinien im Privatrecht anstrebt, darf nicht durch die übermäßige richtlinienkonforme Auslegung ausgehebelt werden. Daher muss die richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Rechts letztlich unbedingt aus dem nationalen Recht selbst ablesbar sein und darf nicht faktisch einer Direktwirkung der Richtlinien gleichkommen. Zutreffend ist daher die Auffassung, nach der eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung nationalen Rechts nur dann möglich ist, wenn sie sich mit den nationalen Normen vereinbaren lässt.[82] Das ist insbesondere dann nicht möglich, wenn der klare gesetzgeberische Wortlaut die Analogie ausschließt, etwa indem gerade der fragliche Sonderfall ausdrücklich erwähnt und einer eindeutigen Regelung zugeführt wird.[83] Möglich ist die korrigierende Rechtsfortbildung dagegen insbesondere dann, wenn eine Umsetzung versehentlich unvollständig geblieben ist.[84] Damit ist aber noch nicht alles geklärt.

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Streitig sind vor allem die Fälle, in denen eine Umsetzung bewusst fehlerhaft oder zumindest mit einem eigenständigen, der Richtlinie nicht entsprechenden Ziel erfolgte. Wollte man die oben angesprochene Ansicht, nach der ein gegen EU-Recht und Art. 23 Abs. 1 GG verstoßender Wille des Gesetzgebers letztlich unbeachtlich ist, ganz konsequent zu Ende führen, so müsste man sich selbst darüber hinwegsetzen und trotzdem das Gesetz richtlinienkonform „korrigieren“.[85] Doch darf man eine klare Entscheidung des demokratischen Gesetzgebers einfach übergehen? Wirkt das EU-Recht dermaßen stark? Genau an diesem Punkt liegt die Wurzel der Streitigkeiten darüber, wo ganz genau die Grenze für die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung liegt.

Im Einzelnen wird nun meist überzeugend gesagt, dass es jedenfalls dann nicht auf den Willen des Gesetzgebers ankommen könne, wenn dieser nur in den Materialien erkennbar werde. Vielmehr solle ein solcher Regelungswille nur beachtlich sein, wenn er im Gesetz auch deutlich zum Ausdruck komme.[86] Dann ist insbesondere auch der Vertrauensschutz desjenigen zu beachten, zu dessen Gunsten sich die fehlerhafte Umsetzung auswirkt.[87] In seinem eigentlichen Kern hat der Streit übrigens keine allzu große Relevanz. Denn die Vorstellung, dass der Gesetzgeber das Ziel haben könnte, eine Richtlinie falsch umzusetzen, ist ein für Deutschland eher theoretisches Szenario. Demgegenüber kann es aber doch vorkommen, dass der Gesetzgeber Einzelfragen im Ergebnis „falsch“ umsetzt. Denn gerade der deutsche Gesetzgeber will bei der Umsetzung von Richtlinien manche Inhalte noch etwas formen und präzisieren. Dabei kann im Ergebnis dann etwas geregelt worden sein, was der Richtlinie nicht mehr entspricht.

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Wichtig ist im Ergebnis deshalb die folgende Aussage: Wenn nicht der klare Wortlaut des Gesetzes zeigt, dass der Gesetzgeber (in der konkreten Frage) eine von der Richtlinie abweichende Regelung treffen wollte, dann ist die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung nach überzeugender Ansicht immer möglich und auch nötig.[88] Es kommt nicht auf Erläuterungen in den Gesetzgebungsmaterialien an.

Im einleitenden Beispiel 6a (Rn. 123) war die gesetzliche Ausgangslage folgendermaßen: § 439 Abs. 4 BGB besagte damals: „Liefert der Verkäufer zum Zwecke der Nacherfüllung eine mangelfreie Sache, so kann er vom Käufer Rückgewähr der mangelhaften Sache nach Maßgabe der §§ 346 bis 348 verlangen.“ Nach § 346 Abs. 1 BGB sind im Falle des Rücktritts die empfangenen Leistungen zurück zu gewähren und die gezogenen Nutzungen herauszugeben.

Bei unbefangener Lektüre ergab sich aus dem BGB also sehr deutlich der Anspruch des Verkäufers (hier Quelle) gegen den Verbraucher auf Nutzungsersatz. Der BGH hatte allerdings Zweifel, ob diese Regelung der Verbrauchsgüterkauf-RL entsprach. Er legte die Frage dem EuGH vor, der prompt bestätigte, dass die Richtlinie einen Nutzungsersatz für den Fall der Nachlieferung nicht vorsieht.[89]

Der BGH korrigierte daraufhin das Gesetz, indem er § 439 Abs. 4 BGB durch Rechtsfortbildung einschränkte: Er entschied, der Verweis in § 439 Abs. 4 BGB erfasse nicht den Anspruch des Verkäufers gegen den Verbraucher auf Wertersatz für die Nutzung der mangelhaften Sache.[90]

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Damit hat der BGH die Grenzen der Rechtsfortbildung zwar weit gedehnt, aber wohl nicht überschritten. Es ist möglich, eine Lücke im Gesetz anzunehmen, die im Sinne der Richtlinie ausgefüllt wird. Der BGH ist dabei so vorgegangen, dass er zugleich einen ungewollten Umsetzungsfehler angenommen hat. So brauchte er sich nicht mit der Frage des entgegenstehenden gesetzgeberischen Willens auseinanderzusetzen. Nach der hier vertretenen Auffassung hätte aber selbst ein erkennbar entgegenstehender Wille des Gesetzgebers die Rechtsfortbildung nicht gehindert. Erst wenn der Gesetzgeber diesen Willen im Gesetz selbst erkennbar gemacht hätte, indem er eine klare Regelung gerade für Verbraucher aufgenommen hätte („auch der Verbraucher hat Nutzungsersatz zu leisten“), wäre der Raum für die Rechtsfortbildung versperrt gewesen.[91] Inzwischen hat der Gesetzgeber gehandelt und in § 475 Abs. 3 BGB eine Ausnahme von § 439 Abs. 4 BGB eingefügt.

Im Beispiel 6b besteht ebenfalls eine Abweichung des BGB von einer Richtlinie. Nach Art. 8 Abs. 2 S. 4 Verbraucherrechte-RL soll der Verbraucher an eine Bestellung über eine Schaltfläche im Internet nicht gebunden sein, wenn diese Schaltfläche nicht eindeutig mit den Worten „zahlungspflichtig bestellen“ (oder einem gleichbedeutenden, klaren Ausdruck) gekennzeichnet war. § 312j Abs. 4 BGB bestimmt dagegen, dass der Vertrag in einem solchen Fall gar nicht zustande kommt. Zurzeit wird lebhaft diskutiert, ob diese Norm mithilfe richtlinienkonformer Auslegung so korrigiert werden muss und kann, dass der Verbraucher ein Wahlrecht hat, ob er den Vertrag gelten lassen will.[92] Die erste Frage ist zu bejahen, denn es liegt eine Abweichung von der Richtlinie vor. Da die Verbraucherrechte-RL eine Vollharmonisierung verfolgt, kommt es nicht darauf an, ob die Abweichung zum Nachteil oder zum Vorteil des Verbrauchers erfolgt. Wie das Beispiel zeigt, kann der Verbraucher jedenfalls ein erhebliches Interesse daran haben, dass der Vertrag wirksam ist. Daher ist zu überlegen, ob eine richtlinienkonforme Auslegung oder Rechtsfortbildung möglich ist. Eine Auslegung würde bedeuten, dass man sich noch innerhalb des vom Wortlaut der Norm gedeckten Inhalts bewegen würde. Das ist angesichts der klaren Worte „kommt nicht zustande“ kaum zu vertreten. Somit handelt es sich eher um eine Rechtsfortbildung und zwar, wie auch im Fall Quelle, im Wege einer teleologischen Reduktion. Man würde nämlich die Berufung auf die Nichtigkeit nur dem Verbraucher zugestehen. Die Voraussetzung der Lücke im Gesetz darf man bei der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung einfach daraus schließen, dass das Gesetz nicht mit der Richtlinie übereinstimmt. Der Zweck der Rechtsfortbildung besteht darin, eine Übereinstimmung von Gesetz und Richtlinie zu erreichen. Die teleologische Reduktion wäre nach dem Vorstehenden nur dann abzulehnen, wenn der klare Wortlaut des Gesetzes und der dahinterstehende Wille des Gesetzgebers gerade eine entgegenstehende, der Richtlinie eben nicht entsprechende Auslegung verlangen würde. Das ist hier nicht der Fall. Der Gesetzgeber hat § 312j BGB mit dem Willen geschaffen und formuliert, die Richtlinie korrekt umzusetzen. Die Norm kann und muss daher so ausgelegt werden, dass der Unternehmer sich gegen den Willen des Verbrauchers nicht darauf berufen kann. Meist wird vorgeschlagen, dies im deutschen Recht über § 242 BGB zu erreichen (näher Rn. 314).[93]

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