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II. Wirkungsweise des Vorrangs
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Allerdings handelt es sich um einen Anwendungsvorrang, nicht um einen Geltungsvorrang.[49] Daraus folgt, dass nationales Recht durch das Inkrafttreten einer entgegenstehenden unionsrechtlichen Norm oder eines sonstigen Rechtsakts nicht insgesamt unwirksam, sondern nur unanwendbar wird. Unanwendbar wird die Norm dabei jeweils nur, soweit in dem konkreten Anwendungsfall überhaupt die Vorgabe des EU-Rechts verletzt wird. Wann das der Fall ist, ist nicht immer leicht festzustellen. So ist für die im primären EU-Recht enthaltenen Grundfreiheiten sehr umstritten, wann nationale Normen – insbesondere des Privatrechts – gegen diese verstoßen (dazu näher unten Rn. 52 ff.).
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Weicht das nationale Recht von einer unionsrechtlichen Vorgabe ab, die in einer privatrechtlichen Richtlinie enthalten ist, wird dies zumeist nicht zur Unanwendbarkeit der nationalen Regelung führen. Anderenfalls würde nämlich die Regelungsform der Richtlinie – die gerade keine unmittelbare Wirkung für sich beansprucht – unterlaufen (näher zur Wirkung der Richtlinie unten Rn. 85 ff.).[50]
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In dem einleitenden Beispiel 2 (Rn. 31) entschied der EuGH aber, dass das EU-Recht § 622 Abs. 2 S. 2 BGB a.F. entgegenstehe und dass diese Norm daher vom deutschen Gericht nicht angewendet werde dürfe. Somit gilt für die Kündigung eine Viermonatsfrist, weil A bereits seit zehn Jahren bei F arbeitet. Mit Wirkung zum 1.1.2019 wurde § 622 Abs. 2 S. 2 BGB aufgehoben.
Bei näherer Analyse bringt die Entscheidung erheblichen Diskussionsstoff mit. Denn der EuGH verwendet hier eine Kombinationsargumentation, die nicht ganz leicht nachzuvollziehen ist. Er stützt die Nichtigkeit der Norm weder darauf, dass § 622 Abs. 2 S. 2 BGB a.F. unmittelbar gegen die Richtlinie verstoße.[51] Noch meint er, dass die Norm unwirksam sei, weil sie den allgemeinen europäischen Rechtsgrundsatz des Verbots der Altersdiskriminierung verletze.[52] Vielmehr verlangt er hier und in einigen weiteren Entscheidungen gleichsam beides zugleich: Für eine Verdrängung des nationalen Rechts durch eine Richtlinie muss hinter der Richtlinie ein allgemeiner Rechtsgrundsatz stehen (hier Altersdiskriminierung). Umgekehrt sagt der EuGH: Ein allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts kann nur Vorrang vor nationalem Recht entfalten, wenn er durch eine Richtlinie (hier Richtlinie 2000/78/EG) konkretisiert wird.[53] Darauf, in welchen weiteren Fällen diese Kombinationslösung greift, wird noch einzugehen sein (Rn. 42, 83).
§ 3 Europarechtliche Grundlagen für die Privatrechtssetzung › B. Vorrang des EU-Rechts › III. Vorrang des EU-Rechts und Grundrechte