Читать книгу In jeder Beziehung - Birgit Schmid - Страница 16
ОглавлениеDER KUSS
Viermal am Tag ist das Minimum. Darunter sollten zwei Menschen nicht gehen, die schon lange zusammen sind und deren Zusammensein es einst besiegelt hat: das Küssen. Da wäre der erste Kuss, um sich einen guten Morgen zu wünschen nach der Trennung durch den Schlaf. Der zweite Kuss zum Abschied, wenn beide zur Arbeit gehen oder der eine zu Hause zurückbleibt. Der dritte Kuss abends beim Wiedersehen. Der vierte Kuss vor dem Lichterlöschen.
Alles weitere Küssen dazwischen ist natürlich erwünscht. Umso besser, wenn es nicht mehr in einzelnen Küssen messbar ist, sondern in ein andauerndes Verschmelzen der Münder übergeht. Zumal man weiß, dass nicht die Kusshäufigkeit etwas über die Beziehungsqualität aussagt – ein spröde hingetupfter Kuss aus einem Spitzmund verflüchtigt sich wirkungslos. Sondern erst, wenn man das Küssen leidenschaftlich und mit Hingabe betreibt, wirkt sich das Gute aus, das in dieser Tätigkeit liegt: Küssen erzeugt eine Nähe zwischen zwei Menschen, Vertrauen wird gebildet. Man teilt einen intimen Moment, Bindung entsteht.
Obwohl das alles wissenschaftlich belegt ist, könnte das Küssen und die Beschäftigung damit auch als unerwachsen angesehen werden. Gerade weil es so zweckfrei ist, Teil des erotischen Spiels, wird es unterschätzt. Küssen ist kindlich, wenn man in ihm bloß einen Rückfall in die orale Phase sieht, als man an der Brust der Mutter lag. Dann diese Selbstvergessenheit eines küssenden Paars, das sich so offensichtlich nicht kümmert um die Welt und sich gegenseitig den Mund verschließt für Worte, mit denen man sonst den eigenen Verstand bezeugt.
Dass Küssen alles andere als banal ist, beweist einer, der im Kleinen schon immer das Große gesucht hat, und dies mit achtzig Jahren: In seinem Buch »Sieben Küsse« nennt Peter von Matt das Küssen zwar »ein Allerweltsgeschäft« – und zeigt dann anhand von Kussszenen in der Literatur, wie Küsse über Glück und Unglück bestimmten.
Im wirklichen Leben kann das erste Küssen immerhin darüber entscheiden, ob die Küssenden zum Paar werden. Wenn die Münder sich nicht ineinander einpassen, ist alles hoffnungslos. Es gibt die gekniffenen Lippen oder die schlaffen, die tote Zunge oder die Walze. Auch hier werden manche denken: Augen zu und Luft anhalten, das Küssen ist ja bloß ein Vorspiel und das Bedürfnis danach nimmt später sowieso ab. Wer jedoch wählerischer ist bei der Partnerwahl, auch das haben Untersuchungen gezeigt, legt von Anfang an mehr Wert aufs Küssen. Es ist, als erführe er oder sie dadurch schon einmal Wesentliches über einen Menschen. Gefällt einem die Information, die die Küsse übermitteln, wächst die Anziehung.
Und so verzehrt man sich, um es mit einem altmodischen Wort zu sagen, vielleicht am meisten nach dem Mund eines Geliebten, wenn man ihn vermisst. Vieles kann man mit sich selber machen, sogar Sex. Küssen geht nicht. In einer erotischen Beziehung hält Küssen zudem das unerfüllte Begehren aufrecht: Küssen nährt nur den Hunger, satt wird man davon nicht.
Hat man sich dann einmal an jemandem sattgeküsst, wird Küssen leider oft vernachlässigt und vergessen. Die Münder schlafen ein, Ende der Oral History. Dabei sind Paare, die schon lange zusammen sind und sich häufig küssen, zufriedener mit ihrer Beziehung. Küssen ist für die Zufriedenheit sogar wichtiger als häufiger Sex. Es macht einander zugeneigter als vieles sonst. Und Küssen kann sogar ein Unfallschutz sein: Männer, die ihre Frau zum Abschied küssen, bevor sie das Haus verlassen, geraten auf dem Weg zur Arbeit weniger oft in Unfälle und leben länger.
Legen Sie jetzt also das Buch weg.