Читать книгу In jeder Beziehung - Birgit Schmid - Страница 19

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DER UMARMER WILL

JA NUR LIEB SEIN


Dauernd wird man umarmt, ob man will oder nicht. Die Umarmung drängt sich als Begrüßungsritual auf, sogar unter Fremden kommt sie vor. Sie wird heute auch sonst bei jeder Gelegenheit durchgeführt, um nicht vorhandene Nähe zu erzeugen. Zwischen Jugendlichen und zwischen Vater und Sohn, zwischen Geschäftspartnern, Therapeut und Patient, Coiffeur und Kundin. Mal liegt Brustkorb hart an Brustkorb, mal berühren sich nur die Schultern, während man sich auf den Rücken klopft, gelegentlich kommt es schon zum Ganzkörperkontakt, als sei der Eingangsflur eine Tanzfläche.

Die Umarmung als Grußformel: Sie hatte einst den Zweck, den andern nach Waffen abzutasten. Heute macht die Geste wehrlos. Weit öffnen sich die Arme, der andere tritt zu nahe, greift um den Körper. Widerstand zu leisten oder die Geste zurückzuweisen wäre eine Demütigung und darum gesellschaftlich undenkbar. Doch ein Satz wie »Lass dich umarmen!« klingt schnell drohend, vergleichbar mit den Worten des Hundehalters, dessen Tier an einem hochspringt: »Er will ja nur spielen.« Der Umarmer will ja nur lieb sein.

Es mag sein, dass wir Überempfindlichen vieles übergriffig finden. Jemand tritt einem zu nahe, und das nicht einmal körperlich: Schon fühlt man sich belästigt. Bei der ungewollten Umarmung handelt es sich aber tatsächlich um einen Übergriff. Für Schüchterne wird diese aufgedrängte Zuneigung zur Qual. »Bear hug« nennen das die Amerikaner, bärenhafte Umarmung, tapsig, unsensibel, erdrückend.

Woher nun aber diese plötzliche Körperlichkeit, die so tut, als hätte man sie bei den Italienern und Franzosen abgeschaut? Der aber gerade das Leichte der lateinischen Kultur fehlt? Vor vierzig Jahren hat der Soziologe Richard Sennett den Begriff der »Tyrannei der Intimität« geprägt. Inzwischen hat sich diese Intimität zu einer Demokratie verbreitet, sie meint jetzt das Gegenteil von steif und förmlich. Man will sich ungezwungen geben, locker, gefühlvoll, möglichst aufrichtig und echt – gerade auch im öffentlichen Leben. Mit der Folge, dass sich durch diese »extended communication« auch die beruflichen Kontakte erwärmen, bei denen in E-Mails zum Abschied nicht nur »alles Liebe« gewünscht, sondern auch geküsst und geherzt wird, egal, wie gut man sich kennt: »xoxoxo«, »kisses & hugs«. Das Beste an dieser virtuellen Umarmerei ist, dass man sich die Leute vom Leib halten kann.

Dabei ist es eigentlich schön, umarmt zu werden. Im richtigen Moment mit den richtigen Armen von den richtigen Menschen. Dann umfängt die Umarmung wie ein Mantel. Einsame Menschen vermissen diese zärtliche Geste am meisten, noch vor dem Kuss. Denn wenn sie einvernehmlich ist, vermittelt eine Umarmung Geborgenheit, gibt Trost, nimmt den andern freundlich auf. Auch dann bleiben zwei Menschen einzigartig, sie gehen nicht ineinander auf: Um zu wissen, wie ich mich fühle, müsstest du mich sein. Aber wie David Grossman in seiner Parabel »Die Umarmung« schreibt: Eine Umarmung kann den Abstand zum andern verkleinern. Man spürt zumindest für den Moment, dass man nicht alleine ist.

Was übrigens noch schlimmer ist als die unfreiwillige körperliche Umarmung ist die geistige. Auch hier gehen die Amerikaner wieder voran und reden von »embrace«. Embrace change! Embrace your flaws! Embrace yourself! Umarme den Wandel, deine Fehler, umarme dich selbst – und dränge alle Widersprüche und Zweifel weg, die es in deinem Leben gibt. Die Umarmung als metaphorische Selbstvergewisserung, im Befehlston verordnet: Was soll daran gut sein?

Keine Umarmung ohne Nähe.

Lass mich bitte los.

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