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2.4Nationale Schuldenbremse und europäischer Fiskalpakt

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In Deutschland ist es in den 1990er Jahren im Zuge der Finanzierung der Deutschen Einheit zu einem sprunghaften Anstieg der öffentlichen Verschuldung gekommen. Danach setzte eine Konsolidierungsphase ein mit (nahezu) ausgeglichenen Staatshaushalten in den Jahren 2007 und 2008. Die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise der Jahre 2008/2009 führte auch in Deutschland zu einem drastischen Wachstumseinbruch (Rückgang des realen BIP um 5,7 % im Jahr 2009), dem die Bundesregierung mit hochdimensionierten Konjunkturprogrammen (Abwrackprämie, Konjunkturprogramme I und II, …) entgegensteuerte. Konjunkturbedingte Steuermindereinnahmen und Mehrausgaben sowie eine stark expansiv ausgerichtete Fiskalpolitik ließen die Neuverschuldung des Staates in bis dahin ungekannte Größenordnungen ansteigen. Allein im Jahre 2009 belief sich das öffentliche Finanzierungsdefizit auf ca. 90 Mrd. €, 2010 waren es noch einmal knapp 80 Mrd. €. Um das Vertrauen der Märkte nicht zu verlieren und um keine psychologisch bedingte Crowding-Out-Effekte auszulösen, wurde gleichzeitig mit den Konjunkturprogrammen eine sogenannte Schuldenbremse beschlossen. Nach den zum 1.1.2011 in Kraft getretenen neuen Schuldenregeln der Art. 109 Abs. 3 und Art. 115 Abs. 2 GG dürfen die Länder ab 2020 grundsätzlich keine neuen Kredite mehr aufnehmen, beim Bund liegt die jährliche Neuverschuldungsgrenze (strukturelles Defizit) bei 0,35 % des BIP. Um eine aktive Konjunkturpolitik nicht zu behindern, lässt das Grundgesetz im Falle von Konjunktureinbrüchen Ausnahmen von der Verschuldungsgrenze zu, verlangt aber, dass über den Konjunkturverlauf hinweg ein Ausgleich erfolgt.

Abweichungen von der Schuldenregel sind nicht nur bei klassischen Konjunkturstörungen zulässig, sondern auch im Falle von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen (Art. 115 (2) GG) Die erhebliche Überschreitung der Kreditgrenze durch die Nachtragshaushalte 2020 (Überschreitung: 118,7 Mrd. €) und den Bundeshaushalt 2021 (164,2 Mrd. €) wurden von der Bundesregierung mit einer solchen außergewöhnlichen Notsituation (Coronapandemie) begründet. Für beide Haushalte waren gem. Art. 115 (2) GG Tilgungspläne vorzulegen.

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Auch in anderen europäischen Ländern hat die Finanz- und Wirtschaftskrise der Jahre 2008/09 und die damit verbundene Rettung „systemrelevanter“ Banken zu einer ausufernden Staatsverschuldung geführt, die das gesamte Währungssystem, also den Bestand des Euro als gemeinsames Zahlungsmittel gefährdete. Eine gemeinsame Währung, in der es naturgemäß keine Auf- und Abwertungen der nationalen Währungen mehr gibt, kann nur funktionieren, wenn die beteiligten Mitgliedstaaten eine weitgehend abgestimmte Finanz- und Wirtschaftspolitik betreiben. Im Maastricht-Vertrag von 1992 wurden daher sogenannten Konvergenzkriterien für den Beitritt eines Landes zur Währungsunion (Euro-Raum) festgelegt:

1 Stabiles Preisniveau,

2 Stabile langfristige Zinssätze,

3 Stabile Wechselkurse,

4 Obergrenze für das jährliche staatliche Defizit,

5 Obergrenze für den öffentlichen Schuldenstand.

Die beiden zuletzt genannten fiskalpolitischen Kriterien wurden dann wie folgt konkretisiert:

 Defizitquote: das gesamtstaatliche Finanzierungsdefizit eines Mitgliedstaates darf 3 % des BIP nicht überschreiten;

 Schuldenstandsquote: der Schuldenstand eines Mitgliedstaates darf 60 % des BIP nicht überschreiten.

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Damit die Haushaltsdisziplin auch nach Beitritt in die Währungsunion gewährleistet bleibt, haben die Staats- und Regierungschefs der EU 1997 den europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP) beschlossen, durch den alle Mitgliedsstaaten dazu verpflichtet werden, mittelfristig einen strukturell ausgeglichenen oder überschüssigen Staatshaushalt zu erreichen. Als Obergrenze für das jährliche Haushaltsdefizit und den Schuldenstand wurden die Maastrichtkriterien (Defizitquote maximal 3 % des BIP, Schuldenstandsquote maximal 60 % des BIP) festgeschrieben. Höhere Defizite werden nur zeitlich begrenzt und in begründeten Ausnahmefällen, z.B. im Falle schwerer Rezessionen oder Naturkatastrophen, zugelassen. Zudem wurden Sanktionsmaßnahmen für „Defizitsünder“ installiert, die jedoch durch eine entsprechende Mehrheit des Rates beschlossen werden muss.

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Die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 hatte in allen Staaten die jährlichen Defizite und damit auch die öffentlichen Schuldenstände erheblich nach oben gedrückt. Im EU-Raum insgesamt hat sich die Schuldenstandsquote in den Jahren 2008 bis 2012 um mehr als 10 %-Punkte auf 90,6 % des BIP erhöht, in Deutschland ergab sich in diesem kurzen Zeitraum ein Anstieg von 66,0 % auf 81,9 % des BIP. Damit die Mitgliedstaaten der Eurozone ihre Schuldenstandsquote wieder dauerhaft zurückführen, wurde 2011 der Stabilitäts- und Wachstumspakt verschärft und um einen Schuldenabbaupfad (1/20-Regelung) ergänzt. Danach kann das Defizitverfahren nicht nur ausgelöst werden, wenn das jährliche Defizit 3 % des BIP übersteigt, sondern auch dann, wenn

1. die Schuldenstandsquote eines Mitgliedstaates 60 % des BIP übersteigt und
2. a) die Referenzüberschreitung (Wert der aktuellen Schuldenstandsquote minus 60 % des BIP) in den drei vorangegangenen Jahren nicht um durchschnittlich mindestens 1/20 pro Jahr reduziert wurde oder
2. b) keine Reduktion in dieser Höhe für das letzte Jahr mit verfügbaren Angaben und die beiden Folgejahre von der Europäischen Kommission prognostiziert wird.[16]

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Mit der Verschärfung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes wurde auch an einem europäischen Fiskalpakt gearbeitet, mit dem die jährlichen Defizite auf europäischer Ebene nach dem Muster der deutschen Schuldenbremse des GG mittelfristig und dauerhaft begrenzt werden sollte. In dem am 2.3.2012 von allen EU-Staaten mit Ausnahme Großbritanniens und der Tschechischen Republik unterzeichneten „Fiskalvertrag“ (Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion) verpflichten sich die Vertragsstaaten zur Umsetzung innerstaatlicher und dauerhaft verbindlicher Fiskalregeln, möglichst auf Verfassungsebene. Der Fiskalvertrag, der zum 1.1.2013 in Kraft gesetzt wurde, bezieht sich auf das strukturelle, also um Konjunktureinflüsse bereinigte Defizit, das in der Regel 0,5 % des BIP nicht überschreiten darf. Lediglich für Mitgliedstaaten, deren Schuldenstandsquote 60 % des BIP erheblich unterschreitet, wird die Obergrenze des gesamtstaatlichen Defizits auf 1 % des BIP festgesetzt.

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Da auch auf europäischer Ebene die Fiskalregel auf das strukturelle Defizit abstellt, wird staatliche Konjunkturpolitik nicht behindert. Im Falle eines Konjunktureinbruchs darf neben das strukturelle auch ein konjunkturelles Defizit treten, was das Gesamtdefizit entsprechend erhöht. Allerdings wären solche konjunkturelle Defizite durch konjunkturbedingte Überschüsse in Phasen guter Konjunktur wieder zu tilgen, was dem Geist einer (symmetrisch angelegten) antizyklischen Konjunkturpolitik durchaus entspricht.

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