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Rabiye und ihre Religionen

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Im Elternhaus Mušas oder Rabiyes, wie die meisten sie nannten, hatten sie längst den Altar vernachlässigt. Sie hörten auf, Öl ins ewige Licht zu schütten. Sie hörten auf, Kerzen für Gesundheit und für ein helles Andenken an die verstorbenen Verwandten anzuzünden. Sie tauschten diese ganze Ordnung gegen einen Vortrag am Samstag und das Singen im Chor mit dem Prediger von Gračen. Er kam aus dem Nachbarstädtchen, wo sie zuerst die protestantische Religion angenommen hatten, die vor Jahrhunderten den Ärmelkanal von England zum Kontinent hin überquert hatte, dann über den Atlantik geflogen war, um in Amerika Wurzeln zu schlagen. Das war noch bevor den Leuten die Geschichte von Miss Elena Stone zu Ohren kam. Als sie sich auf den Weg machte, das leidgeprüfte Makedonien zu bereisen, um in dem noch von den Türken unterdrückten Land den Glauben ihrer Kirche zu predigen, geriet sie in einen Hinterhalt. Beim Podprenfels am Gradevskafluß, genau dort, wo der Weg nach Gorna Džumaja von Predel herunterkommt in Richtung des Weilers Baba Cveta, erwarteten die Woiwoden Jane Sandanski und Christo Černopeev mit ihren Gesellen die Missionarin und ihre Mitreisenden. Goldstücke brauchten sie, die Rebellen. Sie brauchten sie, um Waffen für ihre Sache zu kaufen. Als er in der Klemme wegen des Geldes war, beschloss der König von Pirin, vom amerikanische Konsulat in Konstantinopel Lösegeld für die Freiheit von Miss Elena Stone zu fordern.

Aber bei den Račovs, im Elternhaus von Rabiyes Mutter, hatten sie auch schon vor besagter Geschichte mit Miss Stone der hiesigen Kirche den Rücken gekehrt. Warum die Vorfahren diesen Entschluss gefasst hatten, darüber wurde in der Familie nicht gesprochen. Alle zählten sich schon längst zu den Protestanten und folgten den Regeln dieser übernommenen Religion. Das hinderte Rabiye aber nicht daran, am Samstag dem Clavecin von Frau Jordana im Hause Tulilov zu lauschen, dessen Erdgeschoß den evangelischen Pilgern Obdach gewährte, und sonntags im Kirchenchor der Kirche »Mariä Verkündigung« zu singen. Rabiye hielt es nicht für eine Sünde, dass sie auf verschiedene Art und Weise ein und denselben Gott verehrte. Für den eifrigen Gottesdienst mit den Protestanten und aus gutem Herzen gab ihr Frau Jordana Samen, Blumenzwiebeln und Setzlinge, und mit den Frauen vom Chor der Kirche »Mariä Verkündigung« fuhr sie zu anderen Kirchenfesten in der Umgebung, zum Rilakloster und noch weiter weg. Sie probten zwei Mal wöchentlich kurze Kirchenlieder und Lobpreisungen. Jeden Sonntag beim Frühgottesdienst und an Feiertagen sang Rabiye mit dem Chor »Gegrüßet seiest du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir. Du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus.«

Das ist ein Lobgesang auf die Heilige Gottesmutter. Sie sangen es besonders inspiriert an Mariä Verkündigung, denn das war der Namensgeber der neuen Kirche. Erbaut mit einer Schenkung des reichsten Mannes in der Stadt, und aus diesem Grund trug das Gotteshaus auch den Namen, den er dafür ausgewählt hatte. Unter den Leuten erzählte man sich, dass er viel Geld gegeben habe, nicht nur weil er es besaß, sondern auch weil er in seinen Jugendjahren ziemlich viel Schade angerichtet hatte. Nicht nur, dass er nicht rechtschaffen gelebt hatte, der Halbmond habe auch ziemlich viele Seelen ins Unheil gestürzt, die ihm von seiner sonst wohltätigen Hand gewiesen wurden. Und später glaubte er dann, dass er sich von seinen alten und schweren Sünden mit Geld freikaufen könnte.

Bevor sie an diesem großen christlichen Feiertag in die Kirche ging, putzte Rabiye das ganze Haus von Grund auf. Am Ende nahm sie ein großes Kupferblech, ging durch den Hof und schlug mit der ganzen Hand darauf, wobei sie siebenmal rief: »Flieht, Schlangen und Eidechsen, flieht Flöhe, Mariä Verkündigung vertreibt euch!« Und jeder Ruf endete mit einem durchdringenden, zischenden »Iiiij!«.

Sie erklärte auch noch, dass an Mariä Verkündigung der Herr die Erde erwärmt und die Schlangen deshalb nicht beißen, weil sie Gott für die Wärme dankbar sind.

Zum Festtag für die Brüder aus Thessaloniki wiederum wurde gesungen: »Ihr Weisen, Kyrill und Method, gleich nach dem Geiste mit den Aposteln und Lehrer der slawischen Länder, bittet den Bischof aller slawischen Völker, dass er die Orthodoxie und die Einhelligkeit stärkt, dass er die Welt versöhnt und unsere Seelen rettet.«

Ob Werktag oder Feiertag, ob morgens, während sie Hausarbeit verrichtet, oder abends, wenn sie die Kinder schlafen legt, oder auf dem Feld, Rabiye liebte es, vor sich hin zu singen. Eine schöne Stimme hatte sie. Aber nicht aus der Stimme entsprang das Lied bei ihr. Aus ihrem Inneren holte sie es.

»Mein Herz ist frei«, sagte sie über sich selbst. »Weder ist es voller Neid, noch ist es ein Eiswürfel.«

Sie begann gern mit einem kurzen Kirchenlied für den Montag und endete mit:

Der heilige Georg beschlägt das Pferd

beschlägt das Pferd, sattelt das Pferd,

um aufs Feld zu reiten,

um die gesäten zu besuchen.

Die vom Frühling haben Schosse getrieben,

die vom Herbst haben Ähren angesetzt …

Mitten im Sommer war der Feiertag des Klosters von Obidim. Genauer gesagt einer der Feiertage. Weil das Kloster zwei Namen hatte. Daher auch die zwei Volksfeste, die in ihm stattfanden. Den einen, den des Heiligen Pantelejmon, feierte das größte Dorf. Am siebenundzwanzigsten Juni. »Heiliger Dulder und Arzt Pantelejmon, bitte den barmherzigen Gott, dass er uns Vergebung schenkt für die Sünden unserer Seelen.« Dieses kurze Kirchenlied schwebte durch die kleine Kirche im Hof des Klosters. Dann stiegen dort besonders Lahme, Kranke und Kinderlose hinauf – alle mit der Hoffnung auf Heilung.

Zu Mariä Geburt kamen die Laien aus den kleineren Dörfern und diese aus dem Nachbarkreis. Dann wurde ein Tier geschlachtet. Es kam zu einem großen Menschenauflauf. Das noch warme Wetter erlaubte es, auch außerhalb des Klostergebäudes zu schlafen, das für die Übernachtung von Laien vorgesehen war. Die Leute brachten sich irgendeine kleine Matte mit und legten sich in den Hof – wenn man den Platz, der sich in Spannen ausmessen ließ, überhaupt Hof nennen konnte. Sie verbrachten die Nacht eng aneinander gepresst, denn wenn jemand beschloss es sich bequem zu machen, dann konnte es passieren, dass er den Hang hinunterrollte und im Fluss durchweichte.

Das Kloster selbst war auf einem kleinen Berg erbaut. Direkt auf dem Gipfel. Darunter windet sich der Fluss Bezbožka, und obwohl er klein ist, kann man ihn nur schwer durchwaten. Im Frühling, wenn der Schnee schmilzt, ist er besonders reißend. Sein Bett ist eng, tief, und die Felsen haben das Wasser von beiden Seiten steil umarmt und beherrschen seine Leidenschaft, so gut sie können.

Die kleine Kirche ist bescheiden. Daneben sind die Gräber der Nonnen, die ihr Leben hier verbracht haben, und das Grab von Georgi Cvetinčev. Einem Einsiedler aus Kumanovo, den alle im Landkreis kannten. Ein Wanderer, ein armer Teufel, immer zerlumpt. Aber nicht dumm. Er war durch die Dörfer gezogen und hatte Gelder gesammelt für den Bau des Klosters. Er hatte davon geträumt, dass es an diesem Ort eine vergrabene Ikone gab. Er hatte gegraben und sie entdeckt. Wahrscheinlich Überreste einer alten Kirche. Und er baute das Gotteshaus wieder auf. Später errichteten sie daneben auch ein Wirtschaftsgebäude.

Glockenturm gab es keinen. Die Glocken waren an den alten Nussbaum gebunden. Aufgefädelt auf einen beschnittenen Ast, genau vier. Wie ein verkrüppelter Arm mit abgeschnittenem Handgelenk. Wenn die Kirchendienerin die kleine Kirche durchgefegt hatte, rannte sie hinaus, um die Glocken zu läuten. Wenn sie mit dem Läuten fertig war, rannte sie in die Klosterküche, um beim Opfermahl zu helfen.

Rabiye störte es nicht, alle beide Feiertage des Klosters zu feiern. Was macht es schon, wenn es zu einer fremden Gemeinde gehörte. Es war sogar noch besser, denn weil sie das Kreiszentrum war, gab ihr ihre Heimatstadt die Möglichkeit, beide Kirchenfeste zu begehen.

Soeben war das Fest des Heiligen Pantelejmon im Gange.

Im Gedränge erblickte Rabiye Vranica. »Na da schau einer an«, war sie überrascht. Sie hatte die Witwe nie in einem der Klöster getroffen, und ihre Anwesenheit gerade an diesem Tag verblüffte sie.

Außer für die Kranken und die Heiler war der Heilige Pantelejmon auch der Schutzpatron der Kinderlosen. Hierher kamen Frauen, die schon längst verheiratet waren, aber noch nicht geboren hatten. Um Kerzen anzuzünden und heiße Bitten an den Heiligen zu richten, damit er ihnen hoffentlich den Unterleib löste. Manchmal hörte man, wie der Priester ein Gebet über dem Kopf einer düster dreinblickenden jungen Frau las: »Enthalte ihnen das Kind nicht vor, Herr! Segne sie, gib ihnen einen Ähren ansetzenden Samen, damit sie die Kinder ihrer Kinder sehen, wie Ölzweige um ihre Tafel …«

Vranica war von ihrer Schwiegermutter in erster Linie fortgejagt worden, weil sie unfruchtbar war. Jetzt lebte sie allein. Aber die Frau war noch jung, und da war es sicher nicht ausgeblieben, dass sie den einen oder anderen Mann in ihr Bett gelockt hatte. Doch auf Vranicas Gesicht bemerkte Rabiye ein Streben. Diese Frau hatte eine Entscheidung getroffen. Wenn es mit ihrer Unfruchtbarkeit zusammenhing, dann musste sie zuerst einen Mann gefunden haben. Und das nicht nur für ein oder zwei Nächte, sondern um mit ihm ein Paar zu bilden nach der Ordnung, nach der es alle taten. Wie denn sonst? Eine Witwe, die gebiert! Gott behüte, bekreuzigte sich Rabiye, wer weiß, wie sie auf die Schnelle entschieden hatte, warum Vranica gerade am Tag des Heiligen Pantelejmon Kerzen anzündete. »Da ist was im Busch«, schöpfte Rabiye Verdacht. Von hier an würde sie die Verbindung zwischen ihrem Auftauchen im Kloster, dessen Patron der Schutzpatron der Kinderlosen war, und dem künftigen Verhalten der Witwe suchen. Etwas fehlte. Offenbar hatte sie einen wichtigen Vorfall verpasst. Aber konnte man denn alles wissen, rechtfertigte sie sich vor sich selbst, als verlangte jemand von ihr Rechenschaft wegen ihrer mangelnden Informiertheit. Rabiye führte nichts Böses im Schilde. Sie fühlte sich von dieser Frau auf seltsame Weise angezogen und wollte ihr helfen, auch wenn sie nicht wusste, wie. Aber sie musste es versuchen.

Trotz ihrer Beständigkeit hatte Rabiye oder Großmutter Nevenas Muša noch kein Recht auf den Beinamen Kirchweib, mit dem Tante Katerinka belohnt worden war. Tante des Krapata-Viertels und der halben Stadt. Sie riefen sie ins Haus, wenn es einen Toten gab. Sie wusch den Leichnam, zog ihm die fürs Jenseits vorbereiteten Kleider an, überkreuzte seine Arme vor der Brust und schloss seinen Mund auf immer. War es heiß, nahm sie mit der Feuerzange ein wenig Asche aus dem Herd und streute dem Toten davon in den weit aufgesperrten Rachen, bevor sie ihm die Kiefer zuklappte. Sie träufelte Wein auf den Boden, bekreuzigte sich und sprach: »Asche auf deinen Mund«. Denn bei Hitze, erinnerte Tante Katerinka, beginnt die Seele des Menschen allzu schnell zu stinken. Mit Asche bestreut jedoch wird der Gestank unterdrückt, bis der Tote unter die Erde kommt.

Der Körper des Toten wird in die Mitte des Zimmers gestellt, damit die Trauernden von beiden Seiten Zugang haben. Neben seinen Kopf stellt man eine Schüssel mit Mehl und Kerzen. Um sich von ihm zu verabschieden, zünden die Trauergäste eine Kerze an und stecken sie ins Mehl. Sie lassen eine Blume da, Kleingeld oder Äpfel, mit dem nicht ausgesprochenen Auftrag, dass er sie ihren Verwandten im Jenseits bringen möge. Sie glauben, dass diese von den Früchten essen und für die Verwandten unten auf der Erde ein gutes Wort einlegen werden. Nach alter Sitte muss der Körper des Verstorbenen im Haus übernachten und darf nicht einmal für eine Minute allein gelassen werden. Am meisten achtete man darauf, dass keine Katze über ihn hinwegsprang, damit er nicht zum Vampir würde.

Später einmal würde Rabiye Tante Katerinka, ihr helles Vorbild für soziales Verhalten, überholen, aber bis dahin mussten noch viele Hochzeiten und Beerdigungen stattfinden.

Die unfruchtbare Witwe

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