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Das Protrait des Wohltäters

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Die junge Witwe kehrte in ihr Haus zurück, aus dem man sie als Braut herausgeführt hatte. Seit Jahren verlassen, am Ende des Feldes, wo die Leute auf den kleinen Flecken Erde wegen des warmen Hochwassers des Flusses Flachs säten, wo sie am Ende des Sommers die ausgerupften Garben des faserigen Gewächses einweichten und wo die Stadt endete. Aus seinen Fenstern sah man nur die winters wie sommers schneebedeckten Berggipfel. Es war ein Haus, das mit der Spende eines Fremden erbaut worden war. Derselbe, dessen Portrait sie an dem Tag, an dem ihre Schwiegermutter sie aus dem Haus jagte, mit sich nahm. Dieser gottesfürchtige Mensch namens Pierce O’Mahony stammte aus einem alten irischen Geschlecht und hatte lange Zeit sein Volk im englischen Parlament vertreten. Zusammen mit William Gladstone hatte er die bulgarische Sache im Parlament verteidigt, er verfolgte die Zeitungsartikel von James Bourchier über die Gräuel während und nach der brutalen Niederschlagung des Ilinden-Aufstands mit. Diese Namen waren den Ungebildeten ziemlich unbekannt, aber für Vranica blieben sie ihrem Wohltäter nahestehende, wichtige Herren. Sie merkte sie sich, und von Kindesbeinen an erkannte sie klar und deutlich den Wert ihres Werks. Auf ihre Art und Weise hielt sie sie für Menschen, die ihr nahestanden.

Nach der Niederschlagung des Aufstands kam O’Mahony nach Bulgarien. Er gründete für die Waisenkinder aus Makedonien ein Waisenhaus in Sofia. Die Kinder, alles Buben, lebten in der Pension, die er in Sofia erbaut hatte, und gingen auf verschiedene Schulen. Nachdem er auf die Insel zurückgekehrt war, nahm der edle Herr sogar einige von denen, die Talent zeigten, bei sich auf, um ihre Ausbildung in berühmten dortigen Universitäten fortzusetzen. Immer in der Hoffnung, dass aus ihnen gebildete Männer würden, die morgen ihrer zukünftig befreiten und vereinten Heimat helfen würden, und dass sie selbst freie und gelehrte Menschen würden, Bürger des Staates.

Dieser Mann hatte die leidgeprüften bulgarischen Gebiete durchwandert, die nach dem Wunsch der Großmächte abgerissenen blutenden Stücke der Mutter Bulgarien, die auch nach dem Russisch-Türkischen Befreiungskrieg unter dem Joch der Sklaverei verblieben waren. Er hatte genug Leid und Not gesehen, und sein wohltätiges Herz öffnete sich großzügig gegenüber den unschuldigsten unter den Leidenden – den Kindern. Seine Frau war kinderlos gewesen und er hatte sich immer eigene Nachkommen gewünscht. Irgendwo auf diesen Wanderungen durch das leidgeprüfte Makedonien brachte ihn das Schicksal mit Vranica zusammen. Plötzlich trafen ihn in einem Schwarm zerlumpter, abgemagerter und verwahrloster Kinder zwei schwarze Augen voll des Leids. Über ihnen geschwungene dünne Brauen, von denen eine in einem Muttermal endete, so dass sie genau wie ein Fragezeichen aussah. Der britische Edelmann erblickte gleichsam in diesem Mädchen mit seit Ewigkeiten ungewaschenem Hemd, das vor seiner Brust ein rauchgeschwärztes Kruzifix hielt, plötzlich seine nie geborene Tochter.

»Hast Du Eltern?«, fragte der Fremde.

»Nein«, schüttelte das Kind den Kopf.

»Ein Zuhause?«

»Nein.«

»Willst du lernen?«

»Ja.«

Dieser kurze Dialog mit dem unbekannten Mann, groß, mit langem Bart und guten, hellen Augen, blieb Vranica in ihrem kindlichen Gedächtnis haften als ein Gespräch mit Gott selbst. Sie erzählte später selten davon, nur in Gegenwart von Menschen, die ihr sehr nahe standen, immer besorgt, man könnte sie der Hirngespinste und des getrübten Verstandes verdächtigen. Das Portrait, das sie aus dem Haus ihres inzwischen verstorbenen Mannes wieder mitgenommen hatte, zeigte diesen Mann. Groß, mit einem gutmütigen Gesicht und seltsam gekleidet. Medaillen am Revers und in Wellen herabfallende glänzende Schnüre, die in Quasten endeten. Dieser Mann trug einen Rock und vorn eine Gürteltasche aus Fuchspelz. Natürlich hatte sich Vranica gemerkt, dass man dieses für die heimischen Vorstellungen komische Kleidungsstück Kilt nennt. Und nicht Kleid, wie ihre Schwiegermutter, die mit dem Finger auf den Mann zeigte und ihn misstrauisch »der mit dem Kleid« nannte. Sie behielt diese Details aus Hochachtung im Gedächtnis und weil sie bemerkt hatte, wie sehr dieser Mann seine heimischen Traditionen achtete. Zwischen dem kurzen Ende des karierten Kilts und den Schäften seiner schwarzen Stiefel standen seine Knie hervor. Eine stark plissierte Pelerine über den Schultern, hielt er einen Spazierstock in der Hand. (Falls man den schulterhohen, glatten, glänzenden und am oberen Ende eingerollten Stab einen Spazierstock nennen konnte.) Sicherlich gab es ein englisches Wort für diesen wunderschönen Gegenstand, aber das kannte Vranica nicht. Seinen Kopf zierte ein samtenes Barett mit großer Krempe, das zu einer Seite geneigt war. Diese unnachahmliche Gestalt stellte einen Helden aus einem Zaubermärchen über das Land dar, aus dem O’Mahony gekommen war, und über das Volk, dem er angehörte. Sein Portrait war für Vranica eine Ikone, und sie trennte sich nie davon. Sie bekam es, als sie die Hauswirtschaftsschule für Mädchen abgeschlossen hatte, welche mit finanzieller Unterstützung des Edelmanns in der kleinen Stadt eröffnet worden war, dem Zentrum des Schönen Talkessels. Sie erhielt es gemeinsam mit dem Zeugnis und dem Koffer. Derselbe, den sie am Abend zuvor unter den Blicken ihrer Schwiegermutter hinausgetragen und den sie irgendwann einmal voller Gepäck im Namen des Iren bekommen hatte. Darin waren je zwei Sätze Oberbekleidung und Unterwäsche, Bettlaken und eine fertig gekaufte Decke. Zusammen mit den Zeugnissen bekamen alle Mädchen, die die Schule abgeschlossen hatten, so einen Koffer. Und ihr schenkte man für ihren hervorragenden Erfolg auch noch eine Nähmaschine der Marke Singer, verziert mit farbigem Perlmutt und ein echtes technisches und künstlerisches Meisterwerk. Mit diesem Geschenk würde sie sich in den einsamen Witwenjahren ihren Unterhalt verdienen. Diese teuren und wertvollen Gegenstände bildeten den ersten Hausrat des Mädchens, deren Mutter und kränkliche Schwester jenseits der Grenze des freien Bulgariens zurückgeblieben waren. Zusammen mit dem Wissen und den Fertigkeiten, die sie in der Hauswirtschaftsschule erlangt hatte, den dort anerzogenen sehr guten Angewohnheiten und dem Sinn für das Schöne, die nützlich für eine gute zukünftige Frau und Mutter waren. Damals legte sie in diesem so schönen Koffer, der dafür gemacht war, die Jahrhunderte zu überdauern und Meere und Ozeane zu überqueren – seine Kanten waren mit Eisen in Form von Löwenpfoten beschlagen –, auch die Muster beiseite, die ihr die Frau Lehrerin geschenkt hatte. Schnitte für Babyhemdchen und Mützchen, für Höschen und kleine Westen – die ersten Kleidungsstücke, die sie ihrem zukünftigen Kind nähen würde. Sie war eine fleißige Schülerin, sehr schnell von Begriff und geschickt, und ihre Arbeiten wurden immer hergezeigt, wenn wichtiger Besuch aus dem Bildungsministerium daherkam. Sie hatte eine genaue Hand und eine reiche Phantasie. Auf jugendliche Art frei wiederholte sie die Lektionen nie wortwörtlich. Sie dachte sich etwas aus, fügte etwas hinzu, phantasierte und verwandelte das Lernen in ein Spiel, das ihr Vergnügen bereitete. Der Mensch ist dazu verdammt, sein ganzes Leben lang zu arbeiten, sagte Frau Radulova zu ihnen, und wenn er seine Arbeit nicht in eine Freude verwandelt, dann weh ihm, mahnte die Lehrerin mit ihrer tiefen, fast männlichen Stimme das Wesen ihrer Einsicht an. Das merkte sich Vranica fürs ganze Leben, und tatsächlich machte sie später alles, was sie in Angriff nahm, zu einem Vergnügen. Selbst wenn es der unaufhörliche und kräftezehrende Kampf ums tägliche Brot war.

»Wenn du heiratest«, trug die Lehrerin ihrer fleißigen Schülerin auf, »dann lad mich zu dir ein. Ich will sehen, wie du dein Haus einrichten wirst«.

Die strenge und gute Frau streichelte Vranica über die Stirn, und diese Liebkosung, die einem Windhauch von Engelsflügeln glich, erfüllte ihr Herz mit Träumen von einem zukünftigen glücklichen Heim.

Eine schöne Einrichtung sah das Mädchen erstmals in der Villa von Pierce O’Mahony im Rilagebirge. Dort empfing der Edelmann die Waisenkinder während ihrer Sommerferien. Dünne, weiße Vorhänge mit reicher Spitze an den Enden schlugen im kühlen Wind an den offenen Fenstern des Hauses Wellen. Die Erzieherinnen der Schule, welche unter dem Schutz des irischen Lords stand, speisten auf in Waschblau getauchten Tischdecken mit Ajour-Stickerei, welche sie ihnen beibrachten und die Vranica so meisterhaft beherrschte, dass sie immer ein Lob von Frau Radulova bekam. Sie schenkten ihnen die Milch aus bauchigen Porzellankannen mit blassrosa Rosen und resedagrünen Blättchen ein. Schmucke, kleine gerundete Löffel blitzten mit ihren Bäuchlein neben dreizackigen Gabeln auf einer strahlend weißen Serviette. Und zum Frühstück – Erdbeermarmelade. Über den Köpfen Lampenschirme, aus denen göttliches elektrisches Licht strömte.

Die Erinnerung an die warme Fürsorge eines Fremden, der von einer ihr unbekannten, weit entfernten, ewig in Nebel gehüllten Insel gekommen war, hatte ihren Duft und ihre Farben bewahrt, und Vranica kehrte in Augenblicken schwersten Leidens zu ihr zurück. Sie stützte sich auf ihr Strahlen und holte Luft, um weitermachen zu können.

Vranicas direkte Verwandte waren alle gestorben. Sie hatte die eine oder andere Cousine, aber die waren die Fransen am neunten Glied. Es stimmte, dass die Flüchtlinge und ihre Verwandten aus Ägäis-Makedonien eine ganze Straße in der Stadt, die das Zentrum des Schönen Talkessels war, bewohnten. Sie unterstützen sich gegenseitig, hielten sich einer am anderen fest, um irgendwie ihr Flüchtlingsleben beiseite zu schieben. Aber aus Stolz wollte sie sich nicht an sie anlehnen. Sie ahnte, was für Geschichten darüber erzählt wurden, dass sie aus dem Haus ihres Mannes gejagt worden war, und sie richteten wohl kaum alle nur Vorwürfe gegen ihre Schwiegermutter, wenn sie überhaupt etwas Unrechtes an Miltanas Vorgehen fanden.

Sie musste das Haus selbst herrichten, damit man es wieder bewohnen konnte. Früher war es bescheiden, klein, aber schön gewesen. Ein Haus nur für Menschen, nicht für Vieh oder einen Betrieb. Nach einem typisierten Plan gebaut stand es ganz am Stadtrand und irgendwie provisorisch da. Die anderen Häuser waren eines an das andere geschmiegt, um einander im Winter zu wärmen, aber ihres stand allein. Der Wind nagte von allen vier Seiten an ihm. Mit einem Vordach, das nach Süden zeigte, mit seinen zwei Zimmern und dem Flur zwischen ihnen. In der Mitte war das Dach angehoben, damit ein Dachboden entstand, aus dem man auf einen Balkon hinaustrat. Und dieser Balkon, der sich über die Straße beugte und auf beiden Seiten von Trägern gestützt wurde, war von einem schönen Holzgitter umgeben. Seine Bretter mit ausgesägten Spitzen wie kleine Kirchenkuppeln bildeten einen herrlichen Kranz. Jetzt waren sie an ein paar Stellen schief. Auch der Hahn auf dem Dach, der die Himmelsrichtungen anzeigte und früher einmal geradezu lebendig und bereit zu krähen schien, ließ jetzt den Kamm hängen. Als Radul und sie heirateten, machte sie Andeutungen, sie sollten doch nur zu zweit in diesem vom irischen Edelmann gestifteten Haus wohnen, aber er wollte nichts davon hören. Es war undenkbar, das Haus seines Vaters zu verlassen und ein Schwiegersohn zu werden, wenngleich wessen Schwiegersohn? Das Haus stand leer. Eltern hatte Vranica nicht, und die beiden Frischvermählten würden ihr gemeinsames Leben selbst zu spinnen beginnen.

Wer wusste, wie viele Jahre vergangen waren, seit niemand mehr in diesem Haus lebte. Aber wird ein Ort nicht bewohnt, egal wie oft man vorbeischaut, sich darum kümmert – was Vranica auch tat – dann lässt sich in ihm unmerklich, aber sicher das Fehlen des Menschen nieder.

Jetzt musste sie alle Zeichen des Verfalls in der einzigen Immobilie, die sie besaß, beseitigen, um darin zu leben.

Die unfruchtbare Witwe

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