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Großvater Peka

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Großvater Peka trug eine kleine, runde Brille. Er steckte sich ihre feinen, elastischen Federbügel hinter die Ohren. Auf dem Rücken trug er immer Bündel von Holzabfällen aus dem Sägewerk, dessen Maschinen zu warten er angestellt war. Er kam nie mit leeren Händen zurück, weil der Winter hier lang und kalt war und sie viel Holz zum Heizen brauchten. Er wickelte den um das Bündel gewundenen Draht ab und schüttelte die Latten unter dem Vordach aus. Den wieder aufgewickelten Draht steckte er sich in die Tasche bis zum nächsten Tag. Aus diesem Grund waren seine Taschen, so oft sie seine Tochter auch flickte, immer durchgescheuert.

Im Winter band er sich vorne an die Schuhe einen Stofflumpen, um nicht auf den vereisten Wegen auszurutschen. So wurde sein Schritt sicherer und unverhältnismäßig groß im Verhältnis zum Körper. Sein Äußeres bekam ein wenig das Aussehen einer Karikatur.

Pjotr Jermolajev, oder Papaša, wie sich seine Tochter an ihn wandte, war in eine Familie mit vielen Kindern hineingeboren worden, eher arm als vermögend. Weil sein Vater ihn nicht mit den Söhnen der Reichen studieren lassen konnte, schrieb er ihn in der Ingenieursschule des Militärs seiner Hohheit Zar Nikolaus II. ein. Später, wenn er sich mit seinem Beruf vorstellte, sollte Pjotr Michajlovič sich immer mit dem ganzen Namen der Schule vorstellen, was seinen nicht enden wollenden Stolz verriet, dass er sie abgeschlossen hatte. Er machte einen Abschluss als Verkehrsingenieur und baute Eisenbahnen in Sibirien, wo seine Kinder geboren wurden.

Sein Sohn Pavel, Julias älterer Bruder, schloss das klassische Gymnasium ab. Während des Bürgerkriegs wurde er in die Armee des Barons Wrangel eingezogen. Er stürmte auf dem Pferd und mit dem Säbel in der Hand durch die Steppen Russlands. Die Weißen Garden hielten dem Druck der Roten Armee nicht stand, und als sie auf der Krim zurückweichen mussten, rannte der Rest von ihnen Hals über Kopf zu den am Ufer des Schwarzen Meeres liegenden Schiffen. Viele begingen Selbstmord. In Feodosiya, sich nur mit größter Mühe auf seinen abgefrorenen Beinen haltend, versuchte Paša, ins letzte Boot zu springen, welches vom Ufer in Richtung des nächsten rettenden Schiffs ablegte. Es gelang ihm nicht. Er plumpste ins Wasser. Er begann mit den Armen zu rudern, rief nach Hilfe. Seine von der Kälte steifen Beine versagten ihm den Dienst, und er konnte sich nicht an der Oberfläche halten. Das erzählte ein Augenzeuge von seinem Truppenteil, mit dem sich Großvater Peka bei den Flüchtlingslagern in Konstantinopel getroffen hatte. Ob es wirklich so gewesen war? Der Beschreibung nach hatte der junge Mann nicht seinem Sohn geähnelt. Vielleicht war er es auch nicht. Der Zweifel und die Hoffnung, dass der Augenzeuge sich täuschte, blieben. Sie hörten nicht auf, auf ihn zu warten, aber von nirgendwoher kam eine Nachricht von Pavel Petrovič Jermolajev. So begruben sie ihn nicht, noch vergaßen sie ihn, noch hörten sie auf, um ihn zu trauern. Die Mutter, an Typhus erkrankt, war gestorben, bevor diese bedrückenden und wirren Neuigkeiten die Familie erreichten. Aber Großvater Peka erfuhr sie und musste sein Leben mit ihnen weiterleben. Seine jüngere Tochter ebenfalls. Die vier blieben nur auf dem Foto zusammen.

»Das sind Mama, Papa, Paša und ich«, zeigte Julia Vranica die Fotografie, die in einem herrlichen Holzrahmen steckte.

Die Wohnung von Emigranten. Bescheiden, ärmlich, und trotzdem gab es in ihr Gegenstände, die eine besondere Gemütlichkeit schufen und die man anderswo nicht sehen konnte. Der Teekessel auf dem Samowar füllte das Zimmer mit Dampf, leicht gewürzt von den zarten Rauchseufzern der glühenden Kohlen. Der Raum wurde von einer ungewöhnlichen Ruhe erfüllt und schuf eine Atmosphäre, in der man sich auf sein Innerstes konzentrieren konnte.

Von der Fotografie, unterlegt mit dunklem Karton, damit die Gestalten darauf noch besser hervorstachen, schaute einem eine junge Familie entgegen. Und eine glückliche. Das dunkle Haar der Ehefrau – hochgesteckt zu einem Dutt. Eine kleine Brosche, die über den Brüsten gelandet war, vollendete die Feinheit des Kleidungsstücks. Zwischen ihr und dem Ehemann in einem strengen Anzug und mit solider, zu einem Seitenscheitel gekämmter Stirnlocke, erstrahlte hell ein kleiner blonder Junge im Matrosenanzug. So als würden von hinten Sonnenstrahlen heimlich durch seine Locken dringen, ähnelte er einer Pusteblume, bereit sich in die Lüfte zu erheben. Das war Paša, der zukünftige Offizier. Und Julia trug ein weißes Kleidchen, unter dessen ausgebreiteten Rüschen kleine Lackschühchen hervorschauten. Luftig wie eine Schneeflocke, die auf Mamas Schoß gelandet ist.

Vranica konnte sich an dem Foto im geschnitzten Rahmen nicht sattsehen. Sie verspürte eine unstillbare Sehnsucht nach den beiden Kindern und einen leisen Neid auf die ihr unbekannte Frau.

Die Mutter dieser zwei Engelchen, Praskovja Aleksandrovna, entstammte einer Adelsfamilie, aber als sie einen einfachen Ingenieur heiratete, einen ohne Abstammung, da verlor sie ihren Adelstitel. Sie bedauerte es nie, behauptete Großvater Peka und erzählte, wie glücklich sie zusammen gelebt hätten.

Seiner Abstammung nach Tatare, er russifizierte sich später, war Praskovjas Vater, das heißt Großvater Pekas Schwiegervater, Marineminister bei seiner Hoheit Zar Nikolaus II. Immer, wenn er diesen Teil der Biographie seiner Frau vortrug, stellte er sich aufrecht hin, schlug die Hacken zusammen und erwies so dem Brüderchen Zar seine Ehrerbietung. Nicht aber seinen Ministern, weil er im nächsten Augenblick mit unverhohlener Schadenfreude kicherte und hinzufügte, dass dieser Verwandte, der Vater seiner Frau, mit anderen Worten sein Schwiegervater, der Minister der Regierung seiner kaiserlichen Hoheit Zar Nikolaus II., unter die Feder eines großen russischen Schriftstellers geriet. Die von der literarischen Berühmtheit beschriebene Figur stellte einen Helden mit einer breiten Palette an Eigenschaften dar, die meisten davon waren es aber nicht wert, nachgeahmt zu werden. Ein Spieler, Trinker und Weiberheld. Großvater Peka unterstrich diesen Moment als kleinen, aber ständigen Anlass, sich für den adeligen Hochmut zu rächen, welchen er in jungen Jahren wegen seiner großen Liebe zu Praskovja Aleksandrovna über sich ergehen lassen musste. Er nannte sie auch nach ihrem Tod Praša. Nach Art seines Volkes und aus liebendem Herzen. In diesem Moment, und das wiederholte sich immer, begann Pjotr Michajlovič zu singen:

»Hab Mitleid mit mir, Liebste, und erleuchte mein dunkles Leben …«

Wonach er obligatorisch in Tränen ausbrach und Julia ihn trösten musste. Jedes Mal übersetze sie aus Höflichkeit Vranica, wovon im Lied ihres Vaters gesungen wurde. Der Gast verstand es auch ohne Übersetzung, so gefühlvoll sang der russische Emigrant. Seine Tröstung endete mit dem Leeren der nächsten Halbliterflasche Schnaps.

Es geschah ein Wunder. Pjotr Jermolajev traf seine Tochter in Gallipoli.

Er selbst konnte auch heute noch nicht erklären, was ihn in den Hafen von Konstantinopel verschlagen hatte, so wie auch kein Wunder mit einfacher Logik erklärt werden könnte. Das Entsetzen am russischen Ufer war so unbeschreiblich gewesen, das Streben nach dem rettenden Boot so unaufhaltsam, wie es geschehen war, er konnte es bis heute nicht rekonstruieren. Das Glück über das Treffen mit seiner Tochter strahlte so hell, dass es auf seltsame, aber unumkehrbare Weise die Details seiner eigenen Flucht aus der Heimat auslöschte. Das Geschehene versengte ihn so, dass es die Winter in Sibirien aus seinem Gedächtnis hinausblies, den Bau der Eisenbahn durch die Taiga, den ständigen Wechsel zwischen unterschiedlichen weißen und roten Dörfern auf dem Schlachtfeld, wo er die unterbrochenen Schienen reparieren musste. Und was noch? Wohl alles. Es blieb das Glück, dass er sein Kind getroffen hatte, das inzwischen einzige teure Wesen aus seiner Familie.

»Oh, nein!«, hob er mahnend den Zeigefinger. »Vorläufig«, sagte er in Augenblicken des Alkoholrausches. »Und Paša? Wer hat ihn denn tot gesehen? Still! Es ist möglich, dass er zurückkehrt.«

»Ach Väterchen!«, winkte Julia ab und überließ ihn dem Bann seines elterlichen Traums, den er reichlich mit Alkohol begossen hatte.

Ein zweites solches Wunder in seinem Leben erlebte Pjotr Jermolajev nicht mehr. Wenn man davon absieht, dass seine Schwester, von eben demselben Sturzbach hinfortgerissen, nach Indien geriet. Als die Trauer über ihre über die Welt verstreuten Verwandten und Freunde zu groß wurde, schrieb sie einen Brief an eine französische Zeitung, dass sie nach ihrem Bruder suche. Auf Französisch, weil sie gut in dieser Sprache schreiben konnte. Und sie schickte ein Bild mit, auf dem die beiden als Kinder zur Erinnerung fotografiert worden waren. Und in diesem Brief beschrieb sie ausführlich, wer sie war und woher sie stammte. Sie erzählte alles über ihren Bruder, was sie bis zu ihrer Trennung über ihn wusste. Eine bulgarische Zeitung druckte das Geschriebene nach, zusammen mit dem Bild. Großvater Peka fuhr nach Plovdiv, um allerlei Dinge für seine künstlerischen Beschäftigungen zu besorgen, und im Zug schlug die Mitreisende, die neben ihm saß, die Zeitung auf und da sah er das Bild. Er traute seinen Augen nicht. Er bat die Frau, ihm die Zeitung abzutreten, um zu lesen, was da stand und was das Foto aus seiner Kindheit in dieser Zeitung zu suchen hatte.

Und eben dieselbe Schwester Pjotr Michajlovič Jermolajevs fand sich nach Erlebnissen in Indien, Paris und Polen am Ende im Schönen Talkessel bei ihrem Bruder ein.

Solche Geschichten eben.

Die ganze Armada von Booten – englische, französische, türkische – die die Überbleibsel der zerschlagenen Armee General Wrangels und die von der Revolution und dem brudermordenden Bürgerkrieg weggefegten Flüchtlinge zu den Ufern der Türkei abtransportierte, blieb zurück wie aus einem anderen, nicht aus ihrem Leben. Konstantinopel, dieser Zufluchtsort von Unglücklichen aus allen vier Himmelsrichtungen, mit gespreizten Beinen auf zwei Kontinenten stehend und in seinem riesigen Bauch die Russen, die aus den ankernden Schiffen quollen, verschluckend, suchte schließlich ihren Traum auf. Sie trieben sich zwischen den Silhouetten der vielen Minarette herum. Die heulenden Stimmen der Muezzins störten ihre Nächte, und der Geruch von Brot mit Sesam aus den Bäckereien nagte an ihren ausgetrockneten Mägen. Nachdem sie sich verkrüppelt, abgerissen und so schnell zu Vieh geworden ans fremde Ufer gerettet hatten, streiften sie irgendwo zwischen der Wahrheit und dem Trugbild in den Häfen, auf den Märkten und schmalen Gassen umher. Russland war von einem uferlosen Begriff zu einem kleinen, dem Herz Stiche versetzenden Pünktchen im Rachen des Hungers und der Angst um das eigene Leben zusammengeschrumpft.

Konstantinopel. Erster Anlaufpunkt nach dem heimischen Ufer. Von dort, von diesem multinationalen Ungeheuer aus, brachen die einen nach Amerika auf, andere nach Indien, Europa erwartete sie mit seinen Kneipen, um ihre sumpfigen Lieder zu hören.

Warum er Istanbul verließ und nach Gallipoli segelte, ach Gott, Pjotr Michajlovič schwor, dass er es nicht wusste.

»Das war das Schicksal, Burschen«, erzählte er seinen Landsleuten oft leidenschaftlich. »Es, mein glückliches kleines Schicksal, packte mich am Kragen meines Uniformmantels und ließ mich erst am Hafen von Gallipoli wieder ziehen. Geh, sagte es zu mir, dreh dich nicht um, mein Lieber! Geh! Damit ich meine Julia treffe, Burschen. Sonst hatte ich schon Kurs quer übers Mittelmeer genommen, und an welchem Hafen ich von Bord gegangen wäre, glaubt mir, ich weiß es nicht.«

Die Burschen kratzten sich hinter den Ohren und glaubten ihm wohl.

Niemals jedoch, egal wie betrunken er war, verplapperte er sich und erzählte, wie er seine Orden und Medaillen verkauft hatte. Er hatte es auch vor Julia nicht zugegeben, für die er ehrliche Begeisterung empfand, weil sie den Brillantring ihrer Mutter behalten hatte, ein Geschenk von deren Mutter – ein sicherer Beweis für die Zugehörigkeit zum Adel. Ingenieur Pjotr Michajlovič Jermolajev war zu einem Grad ausgehungert, der einen Mensch zum Tier werden lässt. Die Kälte, die die Gassen beherrschte, der Hafen, die Eingänge, die Verstecke unter den Brücken des alten Konstantinopel, hielten ihn noch fester in seiner eisernen Faust und erlaubten ihm nicht, seinen Uniformmantel zu verkaufen, den er direkt über die Hosen angezogen hatte, deren ursprüngliche Farbe längst vergessen war. Übrigens, als endlich dieses Unglück, diese für die aus dem großen russischen Reich Verbannten schreckliche Geißel vorüberging, konnte der Russe nie mit Bestimmtheit sagen, was von beidem schlimmer war – der Hunger oder die Kälte.

Jeder zweite Laden auf den Märkten der Millionenstadt bot Gebrauchtwaren an und suchte dementsprechend auch nach solchen. In ihnen konnte man alles finden und mit etwas Geschick wirklich günstig ein- und verkaufen. Uhrenzahnräder oder ein leeres Uhrengehäuse, nur ein linker oder ein rechter Schuh, oder aber ein Paar, aber in verschiedenen Größen, große verrostete Schlüssel und glanzlose kleine Schlüsselchen, Teile von Werkzeugen, deren Bestimmung unbekannt war, Wägestücke, die Seele einer Geige, ein Grabmedallion mit dem Bild des Verstorbenen. Nichts schuf eine überzeugendere Vorstellung für das unermessliche Ausmaß der kaufmännischen Phantasie, die sogar in der Misere einen Gewinn suchte, als die reiche Nomenklatura der Altwarenläden im alten Konstantinopel.

»Wir kaufen und verkaufen alles«, lautete die Aufschrift auf dem nächstbesten Geschäft, die die Aufmerksamkeit des verbannten Russen auf sich gezogen hatte. Nach dem Punkt war ein wichtiges Detail hinzugefügt: »Günstig.« Er zog aus der heilen Tasche des Uniformmantels eine Handvoll Auszeichnungen hervor. Bevor er fragen konnte, sagte die Frau hinter dem Tresen: »Orden kaufen wir nicht, mein Herr.« Diese Antwort hörte er einige Male unter den gleichen, einen ehrlichen Tausch versprechenden Schildern.

Im möglicherweise letzten Geschäft dieser Art, in dem seine Verzweiflung eine letzte Grenze erreicht hatte, als die kaltblütige Händlerin nicht einmal einen Blick in die hohle Hand des zerlumpten Kunden werfen wollte, bat ein Mann darum, sie sich ansehen zu dürfen. Er tat es nur mit einer Geste. Er streckte seine rechte Handfläche aus in Erwartung, dass die Ware auf sie gelegt würde. Erleuchtet von Hoffnung unterstrich der Besitzer der wertlosen und von niemandem nachgefragten Zeichen des soldatischen Ruhmes mit schlecht versteckter Ungeduld, aus Angst, er könnte den Moment des Geschäfts verpassen, ihren Wert. Der Mann betrachtete sie. Er sah, dass am Ende eines jeden ein Name geschrieben stand.

»Das bin ich, mein Herr. Pjotr Michajlovič Jermolajev. Geboren bin ich in Kaluga. Absolvent der Ingenieurschule des Militärs seiner Hohheit Zar Nikolaus II.«

Der Unbekannte schien ihn gar nicht zu hören. Er betrachtete die Orden weiterhin, wobei nicht zu erkennen war, was ihn an ihnen interessierte. Ob der eingravierte Name, derselbe auf allen, für ihn irgendeine Bedeutung hatte? Störte das oder nicht?

»Sie gehören mir. Es sind keine Trophäen«, fuhr Pjotr Jermolajev fort, das Eigentum an den Wertgegenständen, die er zum Verkauf anbot, zu beweisen. Über den Preis wagte er gar nicht erst nachzudenken. Er schauderte, er könnte den Käufer mit seinen Vorstellungen vergraulen. Es war offensichtlich, dass er sich nicht legitimieren konnte. Der Uniformmantel mit den Spuren von Schulterklappen, der schon so alt war, dass er auseinanderfiel, bewies ausreichend klar seine nationale Herkunft.

Der Mann, der ein sehr anständiges Äußeres hatte, weshalb es auch Verwunderung hervorrief, was er an einem Ort wie diesem zu suchen hatte, nahm seinen Geldbeutel hervor und zog aus seinen Falten eine unbestimmte Zahl an Banknoten heraus. In den Augen des Russen lagen soviel Hunger und Hoffnung, dass sie für ganz Konstantinopel gereicht hätten, welches in seinem Bauch die Unglücklichen der Welt versammelt hatte. Der Unbekannte gab dem Soldaten, der Träger des Georgievkreuzes für Tapferkeit war, das Geld. Er ließ die gekaufte Ware in die Tasche gleiten und ging hinaus.

»In dieser Stadt kann alles passieren«, sagte die Frau hinter dem Stand mit den wertlosen Altwaren zu sich selbst.

In diesem Moment war Pjotr Michajlovič Jermolajev glücklich und dachte weder an die Vergangenheit noch an die Zukunft und schon gar nicht an seine verkaufte Soldatenehre.

Großvater Peka besaß goldene Hände. Ingenieur, Mathematiker, Astronom, Künstler, zu allem Überfluss auch noch Schriftsteller und Dichter. Das Können gepaart mit Wissen und einer verrückten Vorstellungskraft brachte bei ihm allerlei Erzeugnisse des Geistes und der Geschicklichkeit hervor, leider nicht immer nur nützliche. Nicht vom Brot allein, verteidigte er sich mit einem Zitat aus der Bibel gegen die, für die das Nützliche nur essbar war. Er fuhr fort, seine russischen Kleinigkeiten zu machen, wie er selbst das von seinen Händen ausgeformte nutzlose Zeug nannte, und er hörte nicht auf, daran zu glauben, dass sie trotzdem nützlich waren, weil sie jemandem Vergnügen bereiten.

Er machte einmal ein Modell vom Rilakloster. Es geschah, dass sie ihn in die Nachbarortschaft des Klosters riefen. Wer weiß, wer ihnen gesagt hatte, dass er etwas von Eisenbahnen verstand. Also luden sie ihn ein, damit er ihnen ihren kleinen Zug reparierte, der wie ein Spielzeug die Reisenden aus nicht einmal zehn Kilometer Entfernung zum Kloster transportierte, und das brachte ihnen, wenn auch kleine Einnahmen. Damals hatte er das Kloster besucht und war fürs ganze Leben von ihm in seinen Bann gezogen worden. Er selbst war nicht gläubig, überhaupt nicht, aber das, was er dort sah, in dem Nest zwischen den Flüssen Ilijna und Drušljavica, gebaut und verziert von hunderten, wenn nicht gar tausenden Meistern, raubte ihm den Verstand.

Eines Tages machte er sich daran, es aus Karton nachzubauen. Es ist dreist, dachte er sich, aber warum nicht, ermutigte er selbst seinen schöpferischen Drang. Er hatte riesengroße Lust, es zu Hause zu haben, in seinem armen Emigrantenquartier auf der »Exarch Josif«-Straße am Ende des Hofs, im alten und verlassenen Haus seiner Vermieter. Er zeichnete die Altane des Klosters mit jenen jedem bekannten wunderschönen schwarzweiß gestreiften Bögen zwischen den Säulen. Irgendwo auf der Treppe zum obersten Stockwerk zeichnete er die Silhouette eines Mönchs. Er baute die Kirche »Mariä Geburt« nach und spießte ihr ein glänzendes kleines Metallkreuz auf die Kuppel. Er klebte den Chreljo-Turm daneben. Er baute den Glockenturm und den großen Brunnen inmitten des mit Kopfsteinpflaster ausgelegten Hofs nach. Damit das Bild wie lebendig aussah, bastelte er das Dach des Klosters aus den Schuppen eines aufgebrochenen Zapfens einer Rotföhre. Er klebte die eine auf die andere, wobei immer jeweils die nächste von der vorhergehenden überdeckt wurde, und so ergab sich ein Vordach, genau wie aus Ziegeln. Für größere Glaubwürdigkeit des Anblicks umgab er die Mauer des Klosters mit Zweigen von Buchsbaum, so dass es aussah wie der alte Buchenwald, inmitten dessen sich das Kloster duckte. Er klebte auch kleine Steinchen vor dem Haupttor auf, um das Kopfsteinpflaster nachzuahmen.

Er arbeitete einige Tage daran, und als es fertig war, lehnte er sein Erzeugnis an die Wand und setzte sich hin, um sich daran zu ergötzen. Der Geruch von nicht getrockneter Farbe und Klebstoff machte ihn süß benommen. Es blieb nur, dass Julia kam und an der Tür zu schluchzen begann:

»Väterchen, mein Teurer, was für eine Pracht! Mein Zauberer, du bist einfach unübertroffen! Wie konntest du so etwas Schönes erschaffen, mein Lieber! Mein ganzer Stolz! Das ist ja ein lebendiges Bild. Sogar die Steinchen sind echt! Und das Kreuz des Herrn! Ach, wie es leuchtet! Wie aus Gold!«, hörte er die gutheißenden Worte seiner Tochter. Er war sich sicher, dass sie sie aussprechen würde – sie, der Schutzengel, sein Täubchen.

»Töchterchen, mein Herzallerliebstes, ich werde dich zum Rilakloster mitnehmen!«, versprach er in feierlicher Stimmung über der Erde schwebend durch die Lobpreisungen seiner Tochter und voller Begeisterung über die nächste Überquerung des Berges.

Später fiel ihm ein, dass er mit diesem Vergnügen den einen oder anderen Lev verdienen konnte. Er baute einige Modelle, und eines Samstags machte er sich auf den Weg zum Rilakloster. Nur, dass er das erste Mal über den Predel gefahren war, den Pass, an dem Pirin und Rila einander wollüstig berühren. Er legte den Weg mit einem Pferdewagen zurück, ging zu Fuß, stieg auf das Pferd eines Fuhrmanns. Es dauerte zwar lang, aber er erreichte sein Ziel. Jetzt beschloss er, das Rilagebirge zu überwinden. Er wusste nicht genau, wie lang die Reise bis zum Kloster dauern würde, aber er war überzeugt davon, dass ihm ein begeisterndes Erlebnis bevorstand. Im Endeffekt hatte er ihn doch gerade wegen der Berge, die den Talkessel umgaben, den Schönen Talkessel genannt und die Burschen aus dem grauen Pernik hierher gerufen, die Überbleibsel des großen russischen Reiches, seine teuren Landsleute.

Der Aufstieg über steile Abhänge wechselte sich mit einem Pfad durch einen Jahrhunderte alten Buchenwald ab, danach kam er auf samtiggrüne Wiesen. Die sanften Hügel erschienen ihm wie die Hüften eines riesigen Tiers von der Arche Noah, das sich vor der Sintflut ein wenig hingelegt hatte, um auszuruhen. Die Ausblicke, einer schöner als der andere, reihten sich vor seinen Augen aneinander. Mal geriet er von den Steigungen und den steilen Abstiegen, mal vor Begeisterung außer Atem.

Er machte Halt und übernachtete bei einem Rinderhirten, dessen Kuhherde sich schon zurückgezogen hatte, um unter einem riesigen Felsen zu übernachten, gemacht von Gott selbst als windgeschützter Ort für die Rinder. Der Hirte bot ihm ein Bett an, das eher einem Lager für Wild als für einen Menschen ähnelte. Zum Umfallen müde nahm Pjotr Jermolajev gern an. Er legte die Tasche mit den »Rilaklöstern« beiseite. Er packte die Schnapsflasche aus, und der Hüter der trächtigen Färsen schnürte ein Tuch mit einem Klumpen mageren Käse und trockenem Maisbrot auf, lehnte an sein Knie eine Feldflasche mit Wasser, und die beiden setzten sich wie zwei slawische Brudervölker hin, um den Tisch und die Nacht zu teilen.

»Woher kommst du?«, fragte der Rinderhirte nach langem Schweigen.

»Aus Russland, Kaluga«, erwiderte der Russe, der verstanden hatte, dass man ihn nach seiner Heimat fragte.

»Woher?«, wiederholte der Hirte die Frage, weil er nichts verstanden hatte.

»Ah, ich komme aus dem Schönen Talkessel«, erkannte Großvater Peka das Wesen der Frage.

»Woher?«, fragte der Mann erneut, nicht dass es so wichtig gewesen wäre, aber damit ein Gespräch daraus wurde.

»Aus dem Schönen Talkessel.«

»Aber das ist doch hier alles gleich«, sagte der Hüter der Dorffärsen, wobei er seinen Blick über die Berge schweifen ließ, und er fand sich damit ab, dass er nicht erfahren würde, woher dieser Fremde stammte. »Und wohin, wenn es Glück bringen soll?«

»Zum Rilakloster.«

»Aha. Schön. Leg dich jetzt hin, um dich zu erholen. Wenn es dämmert, zeige ich dir den Weg.«

Der Rinderhirt wickelte die Reste des Abendessens in das Tuch ein. Großvater Peka packte den Rest vom Schnaps ein. Sie legten sich unter den Ziegenhaarumhang, der dafür vorgesehen war, einen Menschen vor Wind und Wetter zu schützen, und jetzt bedeckte er ganz leicht beide. Der eine legte seine Ledertasche als Kissen unter, der andere seinen Arm. Sie schliefen schnell ein, süß von der Müdigkeit niedergemäht, von den warmen Liebkosungen der Sommernacht, weich und betäubend. Sie hörten nicht einmal das Atmen der Kühe und wie von Zeit zu Zeit eine davon mit dem Schwanz wedelte, eine andere wiederum den Kopf bewegte, so dass sie leicht mit der Glocke läutete. Bevor das Morgengrauen hereinbrach, würden die beiden die Beine unter den Überwurf ziehen, gestochen von der Kälte des erwachenden Gebirges.

Als der Morgen heraufzog, zeigte der Rinderhirt mit seinem Stab dem Bekannten vom gestrigen Abend den Pfad zum Kloster und trieb das Vieh auf die Weide. Während am einen Ende die Kühe die vom letzten Jahr übrig gebliebene Schneewehe in Größe eines Flickens überquerten, verschwand Großvater Peka am Horizont.

Schon beim ersten Mal kauften Kirchgänger, Pilger und einfache Besucher des Rilaklosters die ganze Ware von Pjotr Michajlovič auf. Berauscht von der Pracht des heiligen Ortes wollten sie sofort das Abbild mitnehmen, welches er ihnen anbot, und wie Kinder, die sich über ein schönes Spielzeug freuen, verhandelten sie gar nicht erst über den Preis.

Zwei Wochen später brachte er mehr. Er machte soviel, wie der Rucksack fassen konnte, der aus einem alten Soldatensack genäht war. So begann sein Klosterhandel, und das dort verdiente Geld erachtete er als von Gott gegeben, und deshalb gab er es mit Leichtigkeit für Geschenke für Freunde und natürlich für Schnaps aus.

Das Vergnügen verlängerte sich, wenn er im kleinen Gasthaus auf dem Platz, dem neben dem Hirsebierladen Adems, das von seinem Besitzer »Slavjanska beseda« genannt wurde und auch einen Klub der russischen Bürger darstellte, vor seinen Landsleuten über seine Wanderungen durch das Rilagebirge erzählte. Galina, die Frau des Wirts Sergo, lief geschäftig zwischen den Gästen auf und ab, servierte eingelegte Äpfel mit auf ihnen klebenden Stückchen von noch nicht ganz vergorenem Sauerkraut und versuchte, Großvater Peka bei Flunkereien zu ertappen. Von Natur aus großmütig ärgerte er sich nicht über den boshaften Eifer der Himbeertante, wie die Kinder Galina nannten, weil es bei ihr immer Kompott von Waldbeeren gab. Er fuhr fort, Beweise für seinen Besuch im berühmten Kloster vorzulegen, das den Namen eines ganzen Gebirges angenommen und dreimal berühmter zurückgegeben hatte.

»Brüder, ich bin erstaunt!«, Pjotr Michajlovič legte die Hand aufs Herz und erzählte von seiner nächsten Entdeckung. Darüber, dass das Kloster vor langer Zeit, vor ewigen Zeiten, in grauer Vorzeit großzügige Spenden von Russen erhalten hatte – liturgische Gefäße, Bücher, Gewänder, Gold. »Stellen Sie sich vor, Vjačeslav Vladimirič«, wandte er sich an den ihm still im Eck des Klubs lauschenden Kiewer, »im Kiewer Höhlenkloster wurde ein Messbuch mit einer Vita von Ivan Rilski gedruckt! Das ist der erste Siedler. Und wisst ihr, dass es in der Nähe von Kursk ein Städtchen namens Rilsk gibt? Was denkt ihr, das ist doch bestimmt kein Zufall?« Hier stellte sich Ingenieur Pjotr Michajlovič Jermolajev, Absolvent der Ingenieurschule des Militärs seiner Hoheit Zar Nikolaus II., aufrecht hin, um das, was er vom ältesten Mönch des Klosters erfahren hatte, der nicht in irgendeiner, sondern just in der Bibliothek der Moskauer Geistlichen Akademie recherchiert hatte, mitzuteilen. Er breitete die Arme aus in der Erwartung, der in der Ecke sitzende Landsmann würde einen Ausruf tätigen. Der Kiewer adliger Abstammung, Baron Vjačeslav Vladimirič Šadurski, lauschte seinem mit kindlicher Begeisterung sprechenden Landsmann und Bruder im Schicksal mit aristokratischer Zurückhaltung. Ihm standen Tränen in den Augen, er begann, mit den Fingern auf den Tisch zu trommeln, was die extreme Rührung zum Ausdruck brachte, die ihn überkam, und schwieg weiter. Er schwieg auch beim nächsten Beweis dafür, dass sie nach ihrer Flucht aus dem großen russischen Reich, nach dem Durchwandern seiner Steppen, dem Erreichen der vom Ufer ablegenden Schiffe, der Überfahrt über das Schwarze Meer, dem Überleben des menschlichen Gewimmels in Konstantinopel am Ende an den richtigen Ort gelangt waren, in das richtige Land, zu den Brüdern gleichen Blutes. Mein Gott, wie sehr sehnten sich die Burschen Großvater Pekas nach ihrer großen Heimat!

»Michalič, mein Lieber, fass dich doch ein bisschen kürzer«, unterbrach ihn jemand ohne viel Aufhebens, dem die Sentimentalitäten seines Landsmanns langsam zuviel wurden.

Bei allen Leiden und Entbehrungen, welche ihr das Emigrantendasein beschert hatte, hatte sich Julia Petrovna ihre seelische Vornehmheit und körperliche Schönheit bewahrt, die sie offensichtlich von ihrer Mutter geerbt hatte, wenn man nach dem Foto in dem eleganten Rahmen ging. Weil ihr Vater, Pjotr Jermolajev, überhaupt nicht ansehnlich war, zumindest schätzten das die Menschen vor Ort so ein.

Winters trug sie einen schönen schwarzen Mantel. Einen teuren, den sie sich nach langen Entbehrungen und Sparsamkeit kaufen konnte. Ihrem mütterlichen Aristokratismus treu, zog sie es vor, nur ein Kleidungsstück zu besitzen, das dann aber extravagant war.

Nie erwähnte Julia auch nur einen Mann. Sie war noch sehr jung, als sie flüchtete. Aber ob sie unterwegs ihre andere Hälfte gefunden hatte, das sagte sie nicht. Es lag irgendeine uranfängliche Trauer in ihr. Aber ob das nur Heimweh war oder ob ein geliebter Mensch dabei eine Rolle spielte, dass erlaubte sie niemandem zu erfahren. Die Hebamme war eine gute Zuhörerin – gefühlvoll, tief, diskret und mitfühlend. Vranica nannte sie »meine innere Tasche«. Eine von jenen, die sich die Frauen auf die Innenseite der Hemdbrust nähten und in denen sie ihre intimen Dinge versteckten. Sie erzählte der Russin von den Gelüsten, die manche Männer ihr gegenüber hatten, von denen ihr manche gefielen, andere wiederum stießen sie ab. Über das Zischen der Frauen, das sie hinter sich hörte. Über die Angebote, die ihr junge und ältere Witwer schickten, die einen Ersatz für ihre Frau und am meisten eine Mutter für ihre Kinder suchten, oft sehr zahlreich und klein. Über dieses sie verletzende Gefühl, eine Ware zu sein, deren Preis irgendjemand außerhalb von ihr festsetzte. Sie konnte sich vorstellen, dass sie sie mit ihren Erzählungen vielleicht ein Stück weit verletzte, weil der Hebamme sichtbar männliche Aufmerksamkeit fehlte und sei diese auch nur geschäftlicher Natur. Aber wenn sie in ein gutes und offenes Gesicht blickte, fuhr sie fort, ihre Erregungen und Sorgen als Witwe mitzuteilen. Als die unfruchtbare Witwe Adem sah und ihr Herz sich für ihn öffnete und seine schwarzen Augen, echte Dolche, sie verlegen machten, hörten die Geschichten über Männer vor der Russin auf. Die Besuche in ihrer bescheidenen Wohnung wurden sogar weniger. Julia Petrovna spürte, dass etwas vorgefallen war, und obwohl sie feinfühlig und ihr einfache weibliche Neugierde fremd war, sie aber gleichzeitig stark an ihrer Freundin hing, hielt sie es nicht aus und fragte sie eines Abends:

»Vranuška, meine Liebe, was ist mit dir geschehen? Setz dich, ich bitte dich! Lass uns ein Gläschen Tee trinken, ja? Ein wenig Erdbeermarmelade? Möchtest du? Täubchen, meine Schöne, setzt dich und erzähl mir, was mit dir geschehen ist!«

Die Frage klang für sie eher wie eine Unterstützung, eine warme Sorge und Anteilnahme. Vranica hob ihren mit Tränen gefüllten, bodenlosen Blick, ihr Mund spannte sich ein wenig in einem weit entfernten Abbild eines Lächelns, die Mundwinkel begannen kaum merklich zu zittern. Die vom Hals über die Jochbeine ausgehende leichte Röte breitete sich über ihr ganzes Gesicht aus.

Das Zimmer erfüllte sich mit dem leisen Glück der verliebten Frau.

Die unfruchtbare Witwe

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