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Rabiye und ihre Leidenschaften

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Die Teilnahme am Kirchenchor verband sie mit dem Küster. Der Kirchendiener war ihr besonders nützlich, um auf der Stelle die letzten Neuigkeiten über die Leute zu erfahren. Eine der wichtigsten war, wer verstorben war. Sobald die Glocke läutete, überquerte Rabiye die zwei, drei Straßen zwischen ihrem Haus und der Kirche und fand sich sofort beim Küster ein. Aus erster Hand erfuhr sie, wer gestorben war. Und später, als die Mode der Todesanzeigen aufkam, gefiel es ihr gar nicht, sich anhand eines Stücks Papier über solch wichtige Dinge zu informieren. Es fehlte ihr das Miterleben, das Gefühl, die Anteilnahme.

Sie war bereit, die Nacht über bei dem Toten zu bleiben, wenn er keine Verwandten hatte. Nichts war mit einer nächtlichen Totenwache vergleichbar. Wenn wir von Hochzeiten einmal absehen. Obwohl sie mitleidig war, mochte sie keine Beerdigungen von armen Leuten. Sie ging zwar zu allen möglichen, aber es gefiel ihr bei größeren Familien besser. Dann versammelten sich mehr Menschen um den Sarg, und nachts, wenn der Verstorbene schon älter war, begannen die Leute, von ihren Erinnerungen an ihn zu erzählen. Das Leben lief über seinen geschlossenen Augen rückwärts. Für gewöhnlich begann es als wohltätig und endete mit interessanten lustigen Geschichten. Die Angehörigen vergaßen schnell, dass sie erschüttert aussehen mussten. Sie wechselten sich am Totenbett ab. Während die einen den Kopf über ihm hängen ließen, werkelten die anderen leise im Haus herum, um es für die bevorstehende Trauerfeier in Ordnung zu bringen. Aber irgendeine geheime Kraft hielt trotzdem die Teilnehmer an der Totenwache zurück, um nicht die Grenze des Anstands zu überschreiten. Niemand konnte so wie Rabiye eine Nachtwache beleben, und deshalb war ihre Anwesenheit erwünscht. Sie hielt es definitiv nicht für eine Sünde, etwas am Kopfende des Verstorbenen, der bereits die Schwelle zum Jenseits übersprungen hatte, zu essen. Etwas in den Mund zu stecken – etwas kleines, zum Trost, und auch etwas zu trinken. Wenn sich kein anderer fand und es ein kalter Winter war, dann war sie diejenige, die vorschlug, ein wenig Schnaps aufzuwärmen. Und sie ging ans Werk und erledigte diese Arbeit selbst. Sie schüttete ein paar Körnchen Zucker auf den Boden des Kupferkesselchens, der Duft von Karamell schwebte über den Wachenden, und sobald die braune Mischung sich über den Boden verteilte, schüttete sie den Schnaps hinein. Das durch das Zusammentreffen von Heiß und Kalt hervorgerufene Zischen belebte den Raum. Immerhin entspannen sich die Nerven nach einem Gläschen eines heißen Getränks, und der Weg in die Zukunft ist nicht mehr so kategorisch verschlossen, wie er noch vor kurzem ausgesehen hat.

Wenn der Verstorbene ein junger Mensch war, dann war Rabiyes Rolle eine andere. Und auch diese wusste sie vorzüglich auszufüllen.

Der Leichenschmaus war ein nicht wegzudenkender Teil der Beerdigung. Er wurde im Haus des Verstorbenen ausgerichtet, sofort wenn die Verwandten vom Friedhof zurückkamen. Rabiye liebte es zu schauen und später auch zu kommentieren, nicht aber darüber zu lästern, wer wie für seinen letzten Weg angezogen war oder wie viel und auf welche Art die Verwandten geweint hatten. Unter besonderer Beobachtung standen die Schwiegertöchter bei verstorbener Schwiegermutter oder Schwiegervater. Das war der Punkt, an dem sie es sich nicht nehmen ließ, damit anzugeben, was sie für sich selbst auf dem Boden des Sargs vorbereitet hatte, in dem gebundenen Einschlagtuch »für die Reise«.

Es ging ihr durch den Sinn, wie die Männer, die sich nach ihrem Tod daran machen würden, den Sarg mit ihrem Körper hinauszutragen, ihn fallen ließen. Weil sie im zweiten Stock wohnten und die Treppe hinauf ziemlich eng und steil war. Äpfel und Walnüsse würden die Stufen hinunter poltern, Basilikum und jede Blume, die die Frauen zu einem letzten Lebewohl mitgebracht hatten, würden sich über die Treppe zerstreuen. Und sie, angezogen in den Kleidern, die sie eigens vorbereitet hatte, als wäre sie eine Braut, würde quer herauskullern, stecken bleiben und das Durcheinander wäre perfekt … Warum sie sich wohl dieses Bild vorstellte? Nun, weil sie eine lebhafte Phantasie besaß und das Leben sich in ihrem Kopf schneller abspielte als in der Wirklichkeit. Manchmal lachte sie über sich selbst wegen der Hirngespinste, die sie viel zu früh heimsuchten. Einmal beschloss sie, sich mit ihrem Mann zu streiten:

»Ja und du, wenn du so ein großer Handwerker bist, wie konntest du da die Treppe so vermurksen? Nicht nur eng, sondern auch noch steil.«

»Was ist dir denn jetzt wieder eingefallen?«, knurrte er überrascht und wie üblich mürrisch.

»Na was wohl? Wenn die Zeit kommt, dass ihr mich hinaustragt, dann könnte jemand stolpern und dann lasst ihr mich fallen«, erklärte Rabiye die Gründe für ihre plötzliche Besorgnis.

»Mach dir keine Sorgen!«, beruhigte sie ihr Mann. »Vielleicht gibt es in dieser Sippe sonst nichts, aber starke Männer, die dich hinaustragen können, die gibt es.«

Rabiye hatte eine gute und helle Seele. Ihr Spott war immer zur Hand, vor allem gegen sich selbst gerichtet, und sogar wenn sie an den Tod dachte, schien die Lage nie völlig ausweglos.

Während der Chorproben in der Kirche erfuhr sie, was in welchem Haus geschah. Wer weshalb Feuer gefangen hatte, wer ihn beruhigt hatte und ob man ihn überhaupt beruhigen konnte. Rabiye nahm mit ihrer Seele und ihrem Herzen an solchen Streitgesprächen teil. An Feiertagen stand sie früh auf, um sich umzuziehen, und mit einem Blumenstrauß in der Hand ging sie aus dem Haus, um ihre heilige Pflicht als siebte Stimme im Chor der kleinen Kirche »Mariä Verkündigung«, die sich hinter einer hohen und regelmäßig geschnittenen Hecke versteckte, zu erfüllen. Und wenn sie Zeit hatte, dann ging sie donnerstags in die Kirche »Mariä Himmelfahrt«, in der die Gottesdienste abends stattfanden.

Die unfruchtbare Witwe

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