Читать книгу Die unfruchtbare Witwe - Boika Asiowa - Страница 21
Die Jungs aus dem großen russischen Reich
ОглавлениеGroßvater Peka war Julias Vater – Pjotr Michajlovič Jermolajev. So hieß übrigens sein Esel, aber um es leichter zu haben, begannen die Leute von hier, sowohl den Herrn als auch sein Vieh beim gleichen Namen zu nennen. Nur sein Hund behielt seinen russischen Namen Žulik. Es konnte auch nicht anders sein. Es passte nicht zu einem so feinen Hund, dessen Augen so schauten, als wollte er dir gleich »Guten Tag!« sagen, ihn Murdžo zu rufen. Erzogen, klug, mit delikat vorstehenden Ohren wich er selbst während der Konzerte nicht von Großvater Pekas Seite. Während der Russe den Bogen der Geige spannte und ihr zärtliche Klänge entlockte, lag Žulik ruhig zu seinen Füßen und verfolgte gleichsam auf dem Notenpapier die Entwicklung der musikalischen Erzählung mit.
Nur mit Volksliedern aufgewachsen, gefiel Vranica die unbekannte Musik, die den kühlen grünen Raum um den Fluss erfüllte, unerwartet schnell. Sie stand abseits, wo neugierige und aufgeschlossenere junge Frauen und noch nicht ausgewachsene junge Burschen glotzten, tuschelten und Kürbiskerne knabberten. Sie schaute, wie die um die Tische sitzenden Ehepaare und besonders die Männergesellschaften sich bewirteten und lautstark amüsierten, und sie wagte nicht, daran zu denken, dass auch sie eines Tages dort mitten unter ihnen sitzen könnte. Das waren die Menschen, die sich, nachdem diese Gegend ihre Freiheit erlangt und sich der Mutter Bulgarien angeschlossen hatte, daran machten, sowohl sich selbst als auch ihre Stadt weiterzuentwickeln, und es wäre wohl korrekt zu sagen, am allgemeinen Aufbau teilzuhaben.
Abseits dieser mit ihrem Leben zufriedenen und hoffnungsfroh in die Zukunft blickenden Gesellschaft stand Vranica eine Weile da, sie lauschte und ging dann nach Hause. Aber an einem Sonntagnachmittag näherte sich ihr Julia Petrovna und stellte sich vor. Die Russin hatte ihr vergeistigtes Gesicht inmitten einer Gruppe Schaulustiger herausgepickt, manche davon halbwilde Jungen, andere mit erklärlicher Verwunderung über den Anblick, der sich ihnen bot, oder einfach Rotzgören, und wohlmeinend sprach sie sie an. Sie lud sie ein, sich zu ihr an den Tisch zu setzen, wo sie immer das Ende des Konzerts abwartete, um dann zusammen mit ihrem Vater Pjotr Michajlovič nach Hause in ihre Wohnung zu gehen. Manchmal bestellten sie sich auch etwas, meist aber nicht. Zu Hause hatte die Tochter sorgfältig ein Abendessen für die beiden vorbereitet.
Vranica akzeptierte die Einladung der Hebamme. Für sie war das eine Ehre und eine gute Möglichkeit, ihre sonst, was den Umgang mit anderen Menschen anging, sehr bescheidenen Tage zu bereichern. Die Veränderungen um sie herum verliefen leise. Sie konnte sie weder spüren noch hatte sie jemanden, mit dem sie ihnen einen Sinn geben konnte.
Bald wurden die beiden Freundinnen. Sie trafen sich oft. Vranica nahm die Handarbeit und fuhr zu Jermolajevs, einerseits um ein wenig zu arbeiten, andererseits um ein wenig zu plaudern. In den meisten Fällen hörte sie nur der spannenden Erzählung der Russin über eine sehr weit entfernte und für sie unvermutete Welt zu. Und mit ihrem ganzen Herzen fühlte sie mit der zauberhaften Erzählerin mit, die ihre Heimat verloren hatte, um die sie maßlos trauerte.
Julia Petrovna Jermolajeva war noch sehr jung in die Stadt gekommen. Zusammen mit ihrem Vater, einem Bauingenieur bei der Eisenbahn, waren sie aus dem von der Revolution und dem darauf folgenden Bürgerkrieg in Brand gesteckten Russland geflohen. Einige Zeit lebten sie in Pernik, wo der Vater im Bergbau arbeitete und Julia am Bahnhof Kohlen auflud. Eines Tages schlug Pjotr Jermolajev seiner Tochter vor, aus Pernik wegzugehen – düster, aschgrau, schnaufend und quietschend. Es bedrückte die weite Seele des Russen. Die Tochter war sofort einverstanden.
Von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt, fanden sie sich schließlich im Zentralort des Schönen Talkessels wieder. Bald darauf schrieb Pjotr Jermolajev einen Brief an seine Landsleute aus der Mine:
»Burschen, was für ein Plätzchen ich gefunden habe, ihr werdet verrückt werden, wenn ihr es seht. Was für Berge, was für Wälder, Wasser – rein, kalt und viel! Und was für Mädchen! Echte Täubchen! Herrlich! Sie warten nur auf euch, Freunde.
Zögert nicht. Kommt sofort!
Ich erwarte euch!«
Er unterschrieb mit »Pjotr Michajlovič Jermolajev, Ingenieur, Oberst der Pioniertruppen seiner Majestät Zar Nikolaus II.« und wartete. Bald kamen die Burschen, die ihrem Landsmann die Geschichten von den beschriebenen Schönheiten und den Möglichkeiten für ein gutes Leben glaubten, an der angegebenen Adresse an. Es verging nicht viel Zeit und sie begannen, einer nach dem anderen die Mädchen aus dem Schönen Talkessel zu heiraten. Die einen fanden sie in der Stadt, für andere machten sie Abstecher in die umliegenden Dörfer. Nun, einige blieben dort als Schwiegersöhne. Die Schönheiten banden die Zöpfe zu einem Dutt, warfen die Faltenröcke weg und zogen bunte Baumwollkleider an. Sie lernten, Marmelade aus Heidelbeeren und Walderdbeeren zu kochen. Sie begannen, Pilze einzulegen, Brei aus Bulgur anzurühren und Tee nach russischer Art zu kochen, sie versuchten tapfer, das eine oder andere russische Wort in ihre Sprache einzubauen. Nicht nur, um sich mit ihren besseren Hälften zu verständigen, sondern auch um vor ihren Kameradinnen anzugeben. Was am Ende die Ortsansässigen nicht daran hinderte, ihnen den einen oder anderen Spitznamen anzuhängen oder eine Geschichte in die Welt zu setzen, die sie bis ins hohe Alter verfolgen würde. Aber all das nicht aus Eigennutz und Bosheit, sondern als Neckerei, die immer hilft, damit man das schwere Leben leichter ertragen kann.
Solche Geschichten eben.