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2.1 Historischer Kontext

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Im Spätmittelalter, ab der Mitte des 14. Jahrhunderts, verschlechtern sich in Europa die allgemeinen Lebensbedingungen: Mit der Pest raubt (ab 1349) eine neue Seuche in immer neuen Wellen Millionen von Menschen das Leben, in der landwirtschaftlichen Produktion macht sich neben den üblichen Naturkatastrophen die Klimaverschlechterung (kleine Eiszeit) negativ bemerkbar. Der nicht zuletzt durch die Folgen der Kreuzzüge entfaltete Handel verringert die Naturalwirtschaft zugunsten der Geldwirtschaft (Bildung von Monopolen, Ausdifferenzierung der Produktion).

Juan Luis Vives lebt in den ersten vier Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts. Für Historiker gelten die Jahrzehnte vor und nach 1500 als Zeitenwende vom Mittelalter zur Neuzeit. Mit der Entdeckung Amerikas (1492) wird für Europa eine neue Epoche der Weltgeschichte eingeleitet. Nach dem „Untergang Konstantinopels“ (1453) werden neue Verkehrswege (z. B. nach Indien) gesucht und gefunden – mit teilweise erheblichen Veränderungen für die mittelmeerischen Handelszentren. Kopernikus begründet das bereits in der Antike entworfene heliozentrische Weltbild neu (1514). Gutenberg entwickelt den Buchdruck (um 1440) und verbessert damit die schriftliche Kommunikation. Nach der Kirchenspaltung von 1054 in eine griechische und eine römische Kirche führt die von Martin Luther (1483–1546) hervorgerufene Reformbewegung zu einer weiteren Spaltung der Einheit der römischen (westlichen) Kirche mit weitreichenden Folgen für ganz Europa. Die Verschlechterung der Lebensverhältnisse im Spätmittelalter kulminiert in teilweise heftigen Konflikten (Bauernaufstände um 1525). Vielfach verstärken sich wirtschaftlich-soziale und religiöse Konflikte, die wiederum von den Mächtigen genutzt werden, ihren Machteinfluss auszuweiten. Mit der aufblühenden Geldwirtschaft differenziert sich in den Städten ein „Geldadel“ (Kaufleute, Handwerker, Bankiers, Produzenten) aus, dessen Wirtschaften verstärkt der „Profitmaximierung“ dient. Dadurch werden die ständisch-feudalen Ordnungen in den Städten weiter aufgelöst. Mit der zurückgehenden Naturalwirtschaft verarmen Teile des Adels. Die Grundherren versuchen, ihren wirtschaftlichen und damit politischen Abstieg durch die Ausbildung neuer Grundherrschaftsformen (Absinken der Hörigen zu Leibeigenen; Ausweitung der Abgaben) zu kompensieren. Die Bevölkerung flüchtet in großen Massen vom Land in die Städte („Stadtluft macht frei“). In den Städten bildet sich ein frühes Proletariat (handwerkliche Lohnarbeiter), das in Armenvierteln in Elend und Not lebt; vielen bleibt das Betteln als einzige Einnahmequelle. Die Stadtverwaltungen entwickeln (Bettler-)Ordnungen, um der „Bettlerplage“ Herr zu werden.

Das 15. und 16. Jahrhundert ist – gerade auch im Selbstbewusstsein der Menschen – die Zeit der „Renaissance“ und des Humanismus. Vor allem in den Städten Oberitaliens und Flanderns ist dieser „Zeitgeist“ besonders ausgeprägt. Charakteristisch ist die „Entdeckung der Welt und des Menschen“ (Jakob Burckhardt). Damit verbunden sind eine stärkere Diesseitsorientierung, die starke Züge einer Säkularisierung zeigt, und die Förderung der analytischen wissenschaftlichen Betrachtung. Sie zeigen sich beispielsweise im Realismus und in der Zentralperspektive der bildenden Kunst der Renaissance oder in der biblischen Textkritik. Die Entwicklungen in der Kunst und Philosophie erfolgen durch vielfache Rückbesinnung auf antike griechische Traditionen, was wiederum eng mit der Vertreibung griechischer Gelehrter aus Konstantinopel verbunden ist. Der Buchdruck ermöglicht eine schnelle Verbreitung der humanistischen Denkansätze, etwa ihres Bildungsideals des „homo liberalis“, des ganz dem Wahren, Schönen und Guten dienenden und deswegen freien Menschen. Die Grundlage dieses Denkens und der Hintergrund dieser kulturellen Blüte ist wirtschaftliches Wachstum. Mit dem Erstarken der Städte und ihrer Wirtschaftskraft – in Florenz und in Flandern ist dies zum Beispiel das Textilgewerbe – erhalten diese Gemeinwesen eine neue soziale und wirtschaftliche Verfassung. Das städtische Bürgertum entfaltet mit frühkapitalistischen Produktions- und Distributionsformen eine starke Handelsmacht und emanzipiert sich auch politisch. Es betätigt sich nicht nur als Förderer der Kunst und Philosophie, sondern entfaltet mit seinem besonderen Leistungs- und Wirtschaftsethos (sparsame, kalkulierende, ökonomische Lebensführung) eine Rationalisierung und analytische Betrachtung (Statistik, doppelte Buchführung), die weit über die ökonomischen Betätigungen hinausreichen. Wir finden die ersten Anzeichen für Nationalstaaten, die den absolutistisch regierenden fürstlichen Monarchen und den „Volksstaaten“ als Herrschaftslegitimation dienen. In Staatstheorien (Niccoló Machiavelli 1469–1527) wird der Aufbau des modernen Staatensystems (z. B. Einsatz von Diplomatie, Rationalisierung der Verwaltung) theoretisch begründet. In der Wissenschaft dominieren noch die Werke von Aristoteles und der kirchlichen (scholastischen) Ausleger, doch die Lehren dieser „Väter“ gelten nicht mehr als unanfechtbar. Mit neuen Lehrmeinungen werden Aristoteles und die kirchlichen Lehrer kritisiert, auf theologische Begründungen wird oft verzichtet. Mit der stärkeren Orientierung an der Wirklichkeit gewinnen die Naturwissenschaften an Zuspruch. Einer ihrer profiliertesten Vertreter ist der englische Philosoph und Staatsmann Francis Bacon (1561–1626), der mit der induktiven Methode (Gewinnung von allgemeinen Sätzen aus Einzelerfahrungen/Falsifikationsprinzip) neue Wege der Erkenntnisgewinnung einfordert.

In Spanien, wo Vives bis zu seinem 17. Lebensjahr lebt, werden 1492 die letzten (seit dem 8. Jahrhundert errichteten) staatlichen Strukturen der Muslime (Mauren) beseitigt. Anders als im restlichen Europa sind die Gesellschaft und der staatliche Aufbau nicht feudal strukturiert. Das Zusammenleben der führenden Muslime (Mauren, Araber), der meist christlich-hispanorömischen Bevölkerung und der Juden ist von weitgehender religiöser Toleranz geprägt und auf den Ausgleich sozialer Spannungen bedacht. Die muslimische Verwaltung ist effektiv, Landwirtschaft und Gewerbe blühen, die Kunst wird ebenso gefördert wie die Wissenschaft, die vor allem in der Astronomie und Medizin das griechisch-hellenistische Denken aufgreift und weiterentwickelt. Mit dem Zusammenschluss der Königreiche Kastilien und Aragon wird Spanien politisch geeinigt und die Krone erstarkt. Die innere politische Einheit wird durch die religiöse erzwungen, und dem Glaubenszwang fallen vor allem Juden zum Opfer, wenn sie sich nicht durch Konversion zur Kirche oder durch Flucht entziehen können.

Flandern (südliche Niederlande, nordwestliches Belgien) mit seinen Städten Brügge und Gent entwickelt sich bereits ab dem Hochmittelalter zu einem Zentrum der europäischen Wirtschaft und des Welthandels. Die Grundlagen dieser Wirtschaftskraft bilden die Tuchherstellung, der Handel, die Seehäfen und schiffbare Flüsse. 1384/85 wird das Land Teil des Herzogtums Burgund und erfährt bis 1477, als die Habsburger das Erbe der Burgunder Herzöge antreten, den größten wirtschaftlichen Aufschwung, der ein Aufblühen der Kultur (Stadt- und Bürgerkultur, Demokratisierung) zur Folge hat. Vives, der sich in den letzten Jahrzehnten seines Lebens überwiegend in Flandern aufhält, erlebt bereits die Anfänge des beginnenden Niedergangs dieser Region, den die Habsburger mit der Zentralisierung der Verwaltung, der Schmälerung ständischer Freiheiten und der Unterdrückung der Reformation befördern und der zahlreiche Arbeitslose und BettlerInnen in den Städten zur Folge hat (vgl. Sachße/Tennstedt 1980, 23–84).

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