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3.5 Theorie

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Die Akademie von Dijon stellt – angeregt durch Rousseaus ersten Diskurs – 1753 eine weitere Preisfrage: „Welches ist der Grund der ungleichen Bedingungen unter den Menschen, und sind diese durch das Naturgesetz gerechtfertigt?“ Hierauf antwortet Rousseau 1755 erneut mit einer – nun nicht mehr ausgezeichneten – Abhandlung, dem „Discours sur l’inégalité“ (Diskurs über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen). Zur Begründung der Ungleichheit greift Rousseau auf Vorstellungen aus der Ideengeschichte der Menschheit über einen Urzustand der Menschheit, ein Paradies oder ein „goldenes“ Zeitalter, und über einen Urvertrag, einem Gesellschaftsvertrag aller Menschen, zurück; insbesondere verarbeitet er dabei Überlegungen des englischen Empiristen und Staatstheoretikers John Locke (1632–1704). Rousseau unterscheidet zwei Arten von menschlicher Ungleichheit:

•„ … die eine, die ich natürlich oder physisch nenne, weil sie durch die Natur begründet wird, und die im Unterschied der Lebensalter, der Gesundheit, der Kräfte des Körpers und der Eigenschaften des Geistes oder der Seele besteht …;“

•„ … und die andere, die man moralische oder politische Ungleichheit nennen kann, weil sie von einer Art Konvention abhängt und durch die Zustimmung der Menschen begründet oder zumindest autorisiert wird. Die letztere besteht in den unterschiedlichen Privilegien, die einige zum Nachteil der anderen genießen – wie reicher, geehrter, mächtiger als sie zu sein oder sich sogar Gehorsam bei ihnen zu verschaffen“ (Rousseau 1990, 67).

Rousseau geht dem Ursprung der zweiten Art von Ungleichheit nach. Für seine Untersuchung lässt er ausdrücklich alle geschichtlichen Tatsachen beiseite, denn sie berühren seiner Meinung nach diese Frage nicht. Vielmehr nimmt er einen ursprünglichen Naturzustand des Menschen an, um daraus hypothetische und bedingungsweise geltende Schlussfolgerungen abzuleiten und die Natur der Dinge zu erhellen. In der reinen Natur, die niemals lügt, glaubt Rousseau die Geschichte des Menschen zu erkennen. Alles, was von ihr kommt, ist wahr. Und darum ist die Natur die Quelle der Erkenntnis. Rousseau ist sich bewusst, dass der von ihm angenommene vorgesellschaftliche Naturzustand nicht wirklich existiert hat. Trotzdem sei es notwendig, einen klaren Begriff von ihm zu haben, um von diesem natürlichen Zustand aus über unseren gegenwärtigen Zustand urteilen zu können.

(1) Die „Natur der Dinge“: Den ursprünglichen Menschen sieht Rousseau wie ein Tier, das weniger stark als die einen, weniger flink als die anderen, aber alles in allem genommen am vorteilhaftesten von allen organisiert war. Freiheit – nicht Vernunft – macht den Menschen aus und unterscheidet ihn vom Tier. Dieser natürliche Mensch lebte selbstgenügsam, friedlich und glücklich, zumeist als Einzelgänger mit einer losen Bindung an eine Familie. Gesetze waren für das Zusammenleben nicht nötig, da jeder Mensch der natürlichen Ordnung folgte, sich ganz auf sein Gefühl verlassen konnte und von der Liebe zu sich selbst (amour de soi) geleitet wurde, die auch immer das Wohl der anderen im Auge hatte.

Der ursprüngliche Mensch lebte aus sich selbst. Der gegenwärtige Mensch lebt nach Rousseau hingegen stets außerhalb seines Selbst, kennt kein anderes Leben mehr als das in der Meinung anderer. Und nur noch aus dem Urteil der anderen gewinnt er das Gefühl seiner eigenen Existenz. Die Unterscheidung in eigenen und fremden Besitz war im Urzustand unbekannt. Zunächst entwickelten sich kleine, primitive gesellschaftliche Ordnungen, die weiterhin Freiheit und Gleichheit für alle garantierten. Erst mit dem Sesshaftwerden wurde Eigentum gebildet, und dadurch kam es zu Ungleichheiten:

„Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: dies ist mein und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viel Not und Elend und wie viele Schrecken hätte derjenige dem Menschengeschlecht erspart, der die Pfähle herausgerissen oder den Graben zugeschüttet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte:

‚Hütet euch, auf diesen Betrüger zu hören; ihr seid verloren, wenn ihr vergeßt, dass die Früchte allen gehören und die Erde niemandem‘“ (a. a. O., 173).

Mit der Bildung von Eigentum schlug für Rousseau die ursprüngliche Selbstliebe in Selbstsucht (amour propre) um. Es entstand ein zügelloser Kampf um Besitz, Macht und Recht. Dieser Kampf wurde mit allen nur erdenklichen Mitteln geführt. Es ist nun einmal so, so stellt Rousseau fest, dass wir beim Schaden unserer Nächsten unseren Vorteil finden; der Verlust des einen ist fast immer das Glück des anderen. Die Menschen sind nach Rousseau böse geworden, obgleich sie von Natur aus gut sind. Nach der Erkenntnis von Rousseau hat das Leben in Gesellschaft, Erziehung, Kultur und Wissenschaften alles das bewirkt.

Die Reichen verbündeten sich sodann gegen die Armen und schufen Gesetze, um durch sie ihren Besitz und ihre Privilegien zu schützen. Die natürliche Freiheit und Gleichheit der Menschen wurden auf diese Weise gesetzlich beseitigt. Den Schwachen wurden durch die Rechtsprechung neue Fesseln angelegt. Die Reichen haben sich neue Möglichkeiten eröffnet, die Ungleichheit zu ihren Gunsten festzuschreiben. Die zunächst gesetzlich begründete Herrschaft wurde schließlich sogar – ohne Widerstand der Armen – in eine willkürliche gewandelt. Nach Rousseau verstößt es aber gegen das Gesetz der Natur, dass eine Handvoll Menschen im Überfluss erstickt, während es der ausgehungerten Menge am Notwendigsten fehlt. Die Entstehung von Privateigentum war das erste Unheil: Sie schuf Reiche und Arme. Die Einsetzung einer Regierung war das zweite Unheil: Sie schuf Herrschende und Beherrschte. Die Ausartung der Macht in Willkür war das dritte Unheil: Sie schuf Herren und Sklaven (vgl. Störig 1989, 376).

Rousseau schlägt als Ergebnis seiner Betrachtung beziehungsweise Analyse der „Natur der Dinge“ zwei Wege vor, um die Freiheit und Gleichheit aller Menschen wiederherzustellen: ein Erziehungsideal und eine Gesellschaftstheorie. Beide Wege gehören für Rousseau zusammen, ergänzen sich und stellen ein Ganzes dar.

(2) Der erste Weg zur Natur zurück: die Erziehung des einzelnen Menschen: Um die Gesellschaft von Grund auf zu sanieren, ist eine rechte, das heißt eine natürliche Erziehung der Menschen notwendig. In seinem fünf Bücher umfassenden pädagogisch-psychologischen Roman „Émile oder über die Erziehung“ von 1762 fordert Rousseau, dass die „natürliche Erziehung“ des Kindes anstelle der nur schädlichen herkömmlichen Erziehungsmethoden treten soll. Denn in der falschen Erziehung wurzele letztlich die Verkommenheit der Gesellschaft. Die erste Erziehung ist nach Rousseau die unbestreitbare Sache der Frauen; sie sind vom Schöpfer der Natur dafür ausersehen und sorgen sich mehr darum als die Männer.

„Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt; alles entartet unter den Händen der Menschen“ (Rousseau 1981, 9). Mit dieser Feststellung beginnt Rousseau sein Erziehungsbuch. Ein von Geburt an mitten unter den anderen Menschen sich selbst überlassener Mensch würde das entstellteste von allen Lebewesen sein, denn

„Vorurteile, Macht, Notwendigkeit, Beispiel und alle gesellschaftlichen Einrichtungen, unter denen wir leben müssen, würden die Natur in ihm ersticken, ohne etwas anderes an ihre Stelle zu setzen. Sie gliche einem Baum, der mitten im Wege steht und verkommt, weil ihn die Vorübergehenden von allen Seiten stoßen und nach allen Richtungen biegen“ (a. a. O.).

Rousseau beschreibt sein Erziehungsideal am Beispiel von Émile, einem Waisenkind aus dem Stand der Reichen. Émile braucht weder Vater noch Mutter. Der Erzieher hat ihre Pflichten übernommen, und so tritt er auch ihre Rechte an. Émile soll seine Eltern ehren, aber nur dem Erzieher soll er gehorchen und eine enge Bindung mit ihm eingehen. Dieses ist die erste und einzige Bedingung für die Erziehung.

Rousseau wählt den Sohn reicher Eltern, weil der Arme nach Rousseau keine Erziehung braucht:

„Zwangsläufig hat er die seines Standes, und eine andere könnte er nicht haben. Der Reiche hingegen erhält schon durch seinen Stand eine Erziehung, die ihm für sich selbst und für die Gesellschaft am wenigsten nützt. Die natürliche Erziehung soll aber für alle Lebensumstände tauglich machen. … Wählen wir also einen reichen Zögling, dann können wir sicher sein, einen Menschen mehr erzogen zu haben, während der Arme aus sich selbst Mensch werden kann“ (a. a. O., 27).

Am Anfang der Erziehung steht nach Rousseau ein genaues Studium der kindlichen Wesensart. Die besten Lehrmeister des Kindes sind sein Instinkt, die ersten Eindrücke und Gefühle sowie die frühesten spontanen Schlussfolgerungen, mit denen das Kind auf die Natur reagiert. Diese instinktiven Reaktionen und Gefühle des Kindes sind zu beobachten, zu fördern und zu entwickeln, keinesfalls zu verbieten und abzugewöhnen, wie es die traditionelle Erziehung tut.

Seine Art der Erziehung nennt Rousseau „negative Erziehung“. Die „negative Erziehung“ vermittelt nach Rousseau – im Gegensatz zur „positiven Erziehung“ – keine Tugenden, sondern schützt gegen das Laster; sie lehrt keine Wahrheiten, sondern bewahrt vor Irrtümern; sie entwickelt in dem Kind die Fähigkeit, der Wahrheit und dem Guten zu folgen, sobald der Verstand in der Lage ist, beide zu erkennen und zu lieben. Der Erzieher schirmt das Kind gegen schädliche Einflüsse aus seiner Umgebung ab und hat für ein gesundes Umfeld zu sorgen, in dem das Kind sich auch körperlich gesund entwickeln kann. Das Kind soll selbst an Erfahrungen lernen, seine Unabhängigkeit behalten und an den Dingen selbst lernen. Erziehung soll nach Rousseau die Organe des Erkennens vervollkommnen und den Weg zur Vernunft durch eine richtige Übung der Sinne ebnen. Rousseau ermahnt den Erzieher, die Worte „Gehorsam“, „Pflicht“ und „Schuldigkeit“ aus dem Wörterbuch des Kindes zu streichen. So mag es gelingen, bei den Menschen Bewusstsein und Verantwortung für die Gemeinschaft, ein soziales Gewissen und die Bereitschaft, sich in die Gemeinschaft einzuordnen, zu erreichen.

Die Erziehung hat sich der natürlichen kindlichen Entwicklung anzupassen. Rousseau unterscheidet vier Stufen der natürlichen Entwicklung:

(a) das Kindesalter, das durch die egozentrische Haltung bestimmt ist,

(b) das Knabenalter, in dem sich das sachliche Interesse bildet,

(c) das frühe Jugendalter, in dem die Religiosität, das Gefühlsleben und der moralische Sinn sich bilden,

(d) das späte Jugendalter, in dem das Erlebnis der Liebe in den Mittelpunkt rückt (vgl. Rang 1979, 131).

Schließlich gehört für Rousseau zur Sicherung der individuellen Existenz, der Freiheit und Unabhängigkeit des Einzelnen auch das Erlernen eines Handwerks, weil der Handwerker nach Rousseaus Meinung freier als ein Bauer ist. Als Erstlektüre – mit dem Ziel, ein Vorbild der Erziehung zu vermitteln – empfiehlt Rousseau Daniel Defoes Roman „The Life and Strange Surprising Adventures of Robinson Crusoe“ aus dem Jahre 1719, in dem das Leben und die seltsamen Abenteuer des Robinson Crusoe beschrieben werden, eines Seemanns aus York, der 28 Jahre ganz allein auf einer von weißen Menschen unbewohnten Insel vor der amerikanischen Küste lebte, wohin er nach einem Schiffbruch, bei dem die ganze Besatzung außer ihm selbst ums Leben kam, verschlagen worden war.

Die farbigen Bewohner der Insel sind für Defoe – entsprechend und typisch für die Blütezeit des Kolonialismus im damaligen Frankreich und England – „Wilde“ und „Kannibalen“, also im Grunde keine (gleichwertigen) Menschen, und der einzige Farbige, der Robinson nahe kommen darf, wird sein Diener.

(3) Der zweite Weg zur Natur zurück: der gemeinsame Gesellschaftsvertrag: Rousseau beginnt im Jahre 1762 seine politisch-staatsphilosophische Schrift über den Staatsvertrag provokativ:

„Der Mensch wird frei geboren, aber überall liegt er in Ketten. Manch einer glaubt, Herr über die anderen zu sein, und ist ein größerer Sklave als sie. Wie ist es zu dieser Entwicklung gekommen? Ich weiß es nicht. Was kann sie rechtmäßig machen? Ich glaube, dass ich dieses Problem lösen kann. … Die Gesellschaftsordnung ist ein heiliges Recht, das die Grundlage für alle übrigen Rechte ist. Diese Ordnung entspringt aber nicht der Natur. Sie ist durch Vereinbarungen begründet“ (Rousseau 1995, 61).

Für Rousseau ist die Familie die älteste und einzig natürliche Gesellschaft; wenn die Kinder ihren Vater nicht mehr zur Erhaltung brauchen und beide unabhängig voneinander werden, dann gründet auch die Familie nur noch auf Vereinbarungen zwischen den Mitgliedern. Die Familie ist für Rousseau das erste Muster der politischen Gesellschaft; daraus leitet er seine Idee von der Gesellschaft ab.

Alles seiner Meinung nach Unwesentliche weglassend, führt Rousseau den Gesellschaftsvertrag auf folgende Grundsätze zurück:

„Jeder von uns unterstellt gemeinschaftlich seine Person und seine ganze Kraft (puissance) der höchsten Leitung des Gemeinwillens (volonté générale), und wir empfangen als Körper jedes Glied als unzertrennlichen Teil des Ganzen. Im gleichen Augenblick entsteht aus dieser Vergesellschaftung, anstelle des einzelnen Vertragspartners, ein Moral- und Kollektivkörper, der aus so vielen Mitgliedern besteht, wie die Versammlung Stimmen hat; aus diesem Akt hat er seine Einheit, sein gemeinsames Ich, sein Leben und seinen Willen“ (a. a. O., 74).

Rousseau hält das völlige Aufgehen jedes Gesellschaftsgliedes mit allen seinen Rechten in der Gesamtheit (communauté) wie in einer Familie für geboten.

Ein politischer Organismus lebt nach Rousseau von einer „ursprünglichen“ Übereinkunft (convention), der alle Mitglieder in völliger Entscheidungsfreiheit zugestimmt haben. Mit seiner Zustimmung hat ein jedes Mitglied sich der Allgemeinheit und jedem ihrer einzelnen Glieder bedingungslos verpflichtet. Diese Übereinkunft

„ist keine Abmachung zwischen einem übergeordneten und einem untergeordneten Partner, sie ist eine Vereinbarung zwischen einem Ganzen und seinen Gliedern, und sie ist rechtsgültig, weil sie auf dem Gesellschaftsvertrag beruht. Dieser Vertrag ist gerecht, weil er alle gleich behandelt. Er ist zweckmäßig, weil er nur das Wohl der Allgemeinheit zum Ziele haben kann. Er ist dauerhaft, weil die Macht der Öffentlichkeit und die höchste Gewalt ihn garantieren. Solange die Vertragspartner keinen weiteren Abmachungen unterliegen, haben sie niemand zu gehorchen als ihrem eigenen Willen“ (a. a. O., 92).

Der einzelne Mensch wird zum Bürger einer Gesellschaft, indem er auf seine natürliche Unabhängigkeit verzichtet. Die natürliche Unabhängigkeit bedeutet für die Einzelnen zugleich Abhängigkeit von der Ungleichheit ihrer natürlichen Gaben. Durch den Verzicht auf seine natürliche Unabhängigkeit nimmt der Einzelne teil an der absoluten rechtlichen und moralischen Gleichstellung mit allen anderen Menschen. Diese Gleichstellung charakterisiert eine wirkliche Gesellschaft.

Die einzelnen Menschen stimmen dem Gesellschaftsvertrag frei zu; sie überantworten und unterwerfen sich damit keinem Herrscher. Der Gesellschaftsvertrag kann niemals Ursprung von Ungerechtigkeiten und Privilegien sein, weil die gegenseitige Verpflichtung von den Einzelnen als absolut verbindlich anerkannt wird. Durch den Gesellschaftsvertrag wird eine Gesellschaft geschaffen, die sich nicht selbst dadurch schaden wollen kann, indem sie einem ihrer Mitglieder schadet. Die Gesellschaft ist souverän (Volkssouveränität) und äußert sich in einem „Gesamtwillen“ (volonté générale). Dieser Gesamtwille drückt sich in den Gesetzen aus, die alle zum allgemeinen Wohle der Gesellschaft erlassen werden. Die Glieder der Gemeinschaft sind Regent und Regierter in einem. Die Aufgabe der natürlichen Freiheit des Einzelnen ermöglicht das Erreichen der rechtlichen Freiheit. Das Gleiche gilt für das Eigentum. Die Abgabe an die Gemeinschaft sichert erst das gesetzliche Eigentum. Die Eigentümer werden zu Verwaltern der Dinge.

Von dem Gesamtwillen ist der „Wille aller“ (volonté de tous) als Summe der Einzelbestrebungen zu unterscheiden. Der „Wille aller“ resultiert allein aus dem Bemühen, eigene Interessen – auf Kosten anderer – durchzusetzen. Der Herrschaftsanspruch, den der Gesamtwille ausdrückt, ist wie dieser selbst unteilbar und unübertragbar. Ihm obliegt die Verkündung von Gesetzen, die ausschließlich dem allgemeinen und öffentlichen Wohl dienen. Einer Regierung ist es aufgegeben, die allgemeinen Gesetze auf die einzelnen Fälle anzuwenden. Das ausführende Organ darf die Gesetze jedoch nicht ändern. Die in den Gesetzen sich ausdrückende Freiheit der Bürger und des Staates ist von der Regierung zu schützen. Wenn die Regierung (die Exekutive) die eigene Macht auf Kosten des Gesamtwillens (der Legislative) vermehrt, gibt es kein freies Volk mehr, sondern lediglich Herren und Sklaven.

Alle Bürger einer Gesellschaft sollen den Sitten nach einfach sowie nach Recht und Besitz gleich sein. Der Glaube an Gott, an Lohn und Strafe in einem zukünftigen Leben und an die Heiligkeit des Gesellschaftsvertrages und der Gesetze ist für Rousseau Voraussetzung, damit die Bürger auch wirklich gute Bürger sein können. Was der Einzelne darüber hinaus noch glauben will, ist ihm nach Rousseau freigestellt. Toleranz ist eine entscheidende bürgerliche Tugend, da Intoleranz nach Rousseaus Auffassung stets eine der Hauptquellen für Streitereien in einer Gesellschaft war.

Rousseau nennt verschiedene Regierungsformen, die für eine Gesellschaft in seinem Sinn möglich sind. Seinem Ideal einer Demokratie entsprechen zahlenmäßig kleine Gemeinschaften (Staaten) am ehesten, da dort am leichtesten der Gesamtwille festgestellt werden kann.

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